Schrott-Fiction: Wiederverwertungszyklen zwischen Müll und Second Hand

Seite 2: Worum geht es Schrott-Fiction?

Die Ausgangssituationen für sogenannte Schrott-Fiction unterscheiden sich: Alison Stine verarbeitet ihre Lebenserfahrungen in einer abgelegenen Gegend der Vereinigten Staaten. Im Interview führt sie aus:

Zivilisationsbrüche werden nicht überall gleich ablaufen auf der Welt, aber es war für mich wichtig, mein Buch an einem kleinen Ort auf dem Lande spielen zu lassen. Dieser ähnelt ziemlich dem Ort, an dem ich eine ziemlich lange Zeit meines Lebens in den Appalachen gelebt habe. Ich kenne diesen Ort, obwohl ich ihn erfunden und für meinen Roman etwas verändert habe.

Ich weiß, wie es ist, wenn deine Heimat nicht beachtet wird, vergessen, während andere Teile der Welt voranschreiten. Ich weiß auch, wie es sich anfühlt, die Art von Menschen zu sein, die gerne übersehen wird, wie insbesondere Frauen, behinderte, arme und queere Frauen.

Schrott als Motiv löst sich vom Material und nimmt eine Vielzahl von Bedeutungen an. Ein gesellschaftlicher Abstieg, an dessen Ende – metaphorisch gesprochen – die Verschrottung steht? Klingt Verschrottung viel besser als Verwüstung?

Verwüstung ist die willentliche Zerstörung von Landschaft und wenn wir den Begriff weiterlesen: Die innere Verrohung der sonst zivilisierten Menschen. Sammeln sich auf dem Schrottplatz die Parias dieser Gesellschaft? Dies klingt ziemlich nach Klischee. Aber die Frage stellt sich schon: Wer treibt sich auf dem Schrottplatz herum?

Mir wurde bewusst, wie verletzlich die beiden [Nikita und Wolfgang.-Anm. des Autors] waren. Die ganze kleine Gemeinschaft auf dem Schrottplatz und das Gefüge des Lebens selbst.

Nuss 2022: 59

So beschreibt der Autor Rudi Nuss ein Zweiergespann, das mit anderen Menschen auf einem Schrottplatz lebt. Besagter Nikita hatte Eltern, die sehr viel in ihrem Alltag sparten.

Sie wischten den Boden mit ausrangierten Unterhosen und kauften nur reduzierte Artikel, die sie mit Bedacht aus Reklamebroschüren herausschnitten. Sie sparten über zwanzig Jahre lang und starben dann an Krebs oder einem Aneurysma oder einer anderen furchtbaren Sache. Die dreitausend Euro, die Nikita dann erbte, waren jetzt nichts mehr wert. Alles was Bedeutung hatte, war der Schrottplatz und alle, die auf ihm leben wollten.

Nuss 2022: 59-60

Der Schrottplatz versammelt das Ausgestoßene des Spätkapitalismus – dort finden sich die Dinge, die bereits ausgesondert wurden. Vielleicht sind sie noch nutzbar. Zunächst aber wurden sie als "Schrott" kategorisiert. Das hat nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf ihre Situation im gesellschaftlichen Kontext. Schrott besitzt eine eindeutig negative Wertung. Mindere Qualität oder Ausschussware wird damit bezeichnet.

Unter dem Vorzeichen des Recyclings, das nicht allein mit politisch gewollten Maßnahmen zur Mülltrennung verbunden werden soll, rückt Schrott in den Fokus auch der Kultur- und Theorieproduktion.

Damit sind nicht Analysen von Filmen und Romanen, Stories und dergleichen gemeint, auch nicht eine Übersicht der Mixed-Media-Kunstwerke, die mit Schrott-Materialien ihre Kunst in einen anderen Zusammenhang betten.

Kulturproduktion bedeutet hier ein fortwährender Fortschritt. Stellenweise wurde die Zeit der Corona-Lockdowns als Zäsur begriffen, aber das führte dazu, dass noch mehr produziert wurde. Menschen saßen in den eigenen vier Wänden und der Onlinehandel erfuhr einen ungeahnten Boost.

Aber das Herumsitzen zuhause förderte nicht weniger Schrott. Im Gegenteil: Die Mülltonnen quellten auf einmal regelmäßig über, weil die Menschen ihren Lebensmittelpunkt vom Arbeitsplatz in die Wohnung verlagerten.

Schrott-Fiction interessiert sich für diese Veränderungen, für die Materialien, die benutzt werden – Aluminium, PPT, Kunststoff, Wellpappe, Papier, Karton, Holz, Spanplatten, Pressholz und vieles andere mehr. Arthur Sellings Roman "Schrottwelt" aus dem Jahr 1970 erkundet eine Welt nach der Katastrophe, die soziale Ordnung ist umgekehrt und der Protagonist Bryan schlägt sich durch.

Ein frühes Beispiel von Schrott-Fiction: Ein Überlebenskünstler überlebt unter widrigen Umständen und sieht sich mit Ruinen, Unzivilisation und Zerstörung konfrontiert. Zuvor in Masse produzierte Produkte nehmen an Wert zu, während andere nutzlos werden.

Theorieproduktion könnte ein Nachdenken über die sozialen Folgen einer Verschrottung der Welt sein. Dies ist nicht neu. Bereits 1979 hat der Brite Michael Thompson etwa eine Mülltheorie (Rubbish Theory im Original) entwickelt. (Erste Aufsätze zum Thema schrieb er bereits 1969.) In seinem Buch hat der Forscher mit interessantem Lebenslauf (Stationen als Berufssoldat und Himalaya-Bergsteiger) die unterschiedliche Bewertung von Dingen untersucht. Wie kann ein gebrauchter Gegenstand einerseits zur Antiquität und andererseits zu Schrott werden?

Die kritische Wahrnehmung muss so umfassend und flexibel sein, Verschiebungen in beide Richtungen zu verstehen: vom Müll zur Wertsache und vom Gebrauchsgegenstand zum Müll.

Im Vorwort rechtfertigt sich Thompson, warum er seine Theorie als "Müll-Theorie" bezeichnet.

Wenn es die Müll-Kategorie nicht gäbe, wenn also alles auf der Welt irgendeinen Wert hätte, wären keine Transfers möglich. Doch auch dann, wenn diese Kategorie existiert, gibt es nur einen Weg vom Vergänglichen über den Müll zum Dauerhaften.

Thompson 2021: 15

Der Differenzialtopologe Ian Stewart beschäftigt sich mit einfachen Hypothesen, die zu diskontinuierlichem Verhalten fahren. In der Mülltheorie sieht er vier Typen von Menschen sozial interagieren:

  • Welche Sorte Menschen bewirkt den Transfer?
  • Welche Sorte Menschen versucht, den Transfer zu verhindern?
  • Welche Sorte Menschen kann davon profitieren?
  • Welche Sorte Menschen verliert dabei?

Thompson entwickelt diese Typen weiter und bringt noch weitere Kategorien auf: die "crashers-through" (die ihren eigenen Weg finden), die "high priests" (die die Kontrolle verwalten), die "levellers" oder "Nivellierer" sorgen durch eine Überflutung der Kategorie des Dauerhaften für eine gleichmachende Solidarität und schließlich die "losers-out" oder "Verlierer", die keine Möglichkeiten der Einflussnahme haben.

Es wäre spannend, nachzuforschen, ob diese Transfers auch in Berichten zu Schrott-Situationen und Schrottwelten auftauchen. Baut die Schrott-Fiction auf diesen vier Typen auf?

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.