Schrott-Fiction: Wiederverwertungszyklen zwischen Müll und Second Hand
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Elektromüll-Siedlungen in Ghana: Einfach "weiter so" mit der Auslagerung von Wohlstandsmüll? Welche Alternativen in der Zukunft sind vorstellbar?
Was wäre, wenn wir Gebrauchtes nicht entsorgten, sondern aus dem Schrott Neues fabrizierten? Was wäre, wenn der Innovationsdruck in der Kunst in ein Eingeständnis mündete, dass vieles recycelt wird, dass unter der Sonne und im Westen nicht viel Neues zu finden sei, sondern nur eine möglichst überraschende Kombination von Altbekanntem? Was wäre, wenn wir das Brachland, die Ruine und den Zweitverbrauch noch deutlicher in Fokus nähmen?
Der Schrottplatz würde unser Marktplatz werden. Der Ort, an dem die Zukunft verhandelt wird, an dem geschaut wird, was möglich ist und welche Chancen uns offen stünden. Das wäre nicht allein eine technologisch vorgestellte Zukunft, wie sie so häufig in den Filmen und in den Politprogrammen beschworen wird.
Auch gesellschaftlich, sozial, politisch und wahrnehmungsästhetisch wäre zu fragen: Was passiert, wenn der Schrott immer mehr wird und wir uns positiv und offen auf ihn einlassen?
Sammeln als wertvolle Tätigkeit
Schrott hat seinen definierten Platz in unserer Welt: An Orten, wo seine Entsorgung und Verarbeitung stattfindet und in Situationen, in denen ein Werturteil gefällt werden soll. "Dies ist aber Schrott!" im Sinne einer abschätzigen Bewertung von Gegenständen, Werken und Verhalten.
Schrottplatz ist eine Form von Deponie. Deponie bezeichnet nicht allein Lager- und Verarbeitungsplätze für Müll oder Recyclingmaterial, sondern auch die kulturelle Tätigkeit des Lagerns und Archivierens. Der Literaturwissenschaftler David-Christopher Assmann nimmt eine Ähnlichkeit zwischen Archiv und Deponie wahr.
Dabei kann sie [die Deponie] als eine Art "Gegen-Archiv" fungieren. In den Blick rückt die Frage nach der Unterscheidung zwischen Deponie und Sammlung bzw. Archiv.
Eigens angelegte oder "wilde" Müllhalden ebenso wie das Auffüllen von Ödländern und Gruben stellen im Wortsinne und auf den ersten Blick die materialisierte Kehrseite institutionalisierter Praktiken des Archivierens und Sammelns dar. Während sich diese dezidiert darum bemühen, aus Alltagszusammenhängen Entrücktes oder Vergangenes zu konservieren und aufzubewahren […], sind die entsorgten Gegenstände auf der Deponie dem mehr oder weniger unkontrollierten Zerfall überlassen.
Gleichwohl besteht zwischen Deponie und Archiv eine "gemeinsame Grenze" […], die beide Praktiken und Orte miteinander verbindet und die von den Dingen in beide Richtungen gekreuzt werden kann. Denn das, was im Archiv keinen Platz gefunden hat oder dort im Laufe der Zeit aussortiert und als Rest markiert wird […], landet auf der Deponie. Und umgekehrt können Gegenstände, die auf der Deponie ‚abgelegt’ oder "hinterlegt" werden (so die [sprachgeschichtliche] Wortbedeutung), wieder aufgefunden und mitunter ins kulturelle Archiv aufgenommen werden.
Es geht also um die kulturellen Inszenierungen, die dazu führen, dass Archiv und Mülldeponie sich "bis zur Ununterscheidbarkeit annähern" können – und dennoch unterschieden werden.
Assmann 2020: S. 6-7
Von der "Ununterscheidbarkeit" zwischen Archiv und Deponie schreibt Sonja Windmüller in der Zeitschrift für Volkskunde (Nr. 99, S. 237-248) in ihrem Aufsatz über "Kulturwissenschaftliches Abfallrecycling". Archive sind anfällig und letztlich ungeschützt. Die nächste Katastrophe kann ein Archiv überschwemmen, versenken oder verbrennen. Das begann in Alexandria mit dem Brand der überaus reichen antiken Bibliotheken dort und hört in unserer Zeit nicht auf, wie aktuelle Konflikte zeigen.
Das unwiderrufliche Verlieren diverser Schätze wird durch materielle Einwirkung beschleunigt und die Zerstörbarkeit der meisten Dokumente beschleunigt diesen Prozess. Anders auf einer Deponie, auf der bereits ausgelagerte Dinge lagern, die – wie oben geschildert – "dem mehr oder minder starken Zerfall preisgegeben sind".
Ein Schrottplatz dient jedoch der Wiederverwertung: Altmetall, halb-kaputte Pkws und Motorräder, ausgemusterte Maschinen, Schraubenhaufen und alte Werkzeugkästen, verkümmerte Computer, die Scharniere quietschen. Auf einem Schrottplatz sammelt sich der Ausschuss einer industrialisierten Welt. Auch die scheinbar immaterielle digitale Welt produziert ausreichend Schrott, um in anderen Teilen der Welt Elektromüll-Siedlungen entstehen zu lassen.
Agbogbloshie, Accra, Ghana
In der südlichen Hemisphäre besitzen die Entsorgungsstätten häufig eine toxikologische und politische Brisanz. So etwa die Siedlung Agbogbloshie nahe der ghanaischen Hauptstadt Accra. Dort wird der europäische Elektroschrott entsorgt. Die Siedlung erstreckt sich auf einer Fläche von 1.600 Hektar.
Dort leben direkt neben dem Schrott 40.000 Menschen, von denen nicht wenige vom Elektroschrott aus Übersee ihren Unterhalt bestreiten. Der ghanaische Autor Jonathan Dotse, der hauptberuflich eine Virtual Reality-Firma in Accra betreibt, beschreibt das Gebiet folgendermaßen:
Es ist eine Art Recyclinghof. Die Menschen nennen es eine Deponie, aber eigentlich findet dort viel mehr Recycling statt. Gegenstände werden dort weggeworfen und diese Dinge werden recyclet. Es kommt ziemlich häufig vor, dass sich dort lokale Einwohner Hardware besorgen und auf diese Weise an sensible Informationen kommen.
Zum Beispiel wurden in Agbogbloshie Server der US-Regierung mit sensiblen Daten gefunden. Anscheinend hat kein Staatssekretär vorhergesehen, dass junge Afrikaner Staatsgeheimnisse durchkämmen werden. (Kichert) Aber das passiert. Niemand hat die Konsequenzen voll durchdacht.
In der nördlichen Welthalbkugel aussortiert, verschifft in den "Hinterhof" der Weltwirtschaft und dort frei für junge Männer zugänglich, teils auch Kindern, die dort unter hochtoxischen Verhältnissen arbeiten und die Elektrogeräte zur Metallgewinnung auseinandernehmen. Vor allem nach Kupfer suchen sie. Agbogbloshie ist ein großer Schrottplatz, auf dem die Menschen mit dem Schrott eine Symbiose eingehen.
Schrott spielt nicht nur an diesem realen Ort in Westafrika eine Rolle. Auch in der Literatur werden Schrottlandschaften beschrieben.
Trashlands
In dem Roman Trashlands der US-amerikanischen Autorin Alison Stine finden wir uns in einer ländlich abgelegenen Welt wieder. Einige zivilisatorische Selbstverständlichkeiten gehören der Vergangenheit an. Papiergeld hat an Wert verloren, Plastik ist die neue Währung. Alison Stine führt aus:
Tauschhandel ist das neue Währungssystem. An vielen Orten in den Trashlands akzeptieren sie Papiergeld nicht mehr. Mit Geldscheinen wird nicht mehr aufgrund der aufgedruckten Zahlen gerechnet, sondern sie erhalten allein die Größe und der Zustand des Materials (Papier) entscheidet über ihren Wert.
In ihrem Roman entwickelt Alison Stine das post-apokalyptische Bild einer armen Region: Einige Verhaltensweisen sind auf die schlechte Infrastruktur zurückzuführen. Ihr ist klar, dass dies Fiktion und keine Realität ist. Dennoch ist sie überzeugt, dass in dieser Fiktion vielleicht mehr Wahrheit als in einer nüchternen Bestandsaufnahme enthalten ist.
Am anderen Ende der Welt, und zwar in China, schildert Qiufan Chen, der derzeit in Schanghai lebt, in seinem Roman The Waste Tide (Die Siliziuminsel auf Deutsch) die Peripherie einer Großstadt.
Der ins Deutsche übersetzte Titel verweist natürlich auf das Silicon Valley in Kalifornien und eröffnet weitere Dimensionen des Schrott- und Archiv-Themas. Die Masse an digitalen Daten, die Kaufwut im Onlinehandel, ein Retourensystem mit Erhöhung des Verpackungsmülls, Arbeitsverhältnisse bei den Transportunternehmen und eine allgemeine Steigerung der Konsumblase.
Der Second-Hand-Aspekt kommt bei den Prothesen der Bewohner zum Tragen – sie erweitern künstlich ihre Körper.
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