So geriet die Friedensbewegung in die Nato-Sackgasse

Ostermarsch in München 2005. Bild: Rufus46 / CC-BY-SA-3.0

Von "Nine Eleven" bis zum Arabischen Frühling. Ein Blick auf die Wandlungen des Aktivismus gegen Militär und Krieg (Teil 2 und Schluss)

Die am 7. Oktober 2001 mit der Bombardierung von Afghanistan einsetzende Kriegslogik lautete: Zivilisation versus Barbarei, freie Welt gegen unfreien Islam, "Kreuzzug versus Heiliger Krieg". Mit der Konstruktion des US-amerikanischen "Wir" soll die Zerrissenheit der US-Gesellschaft vergessen gemacht werden.

In einer Zeit, in der mit Seattle 1999 eine breite Protestbewegung nach Jahren der Tristesse wieder im Aufwind ist, sollen die kritischen Stimmen in den USA zum Verstummen gebracht werden.

Trotz der medialen, aufs nationale Kollektiv einschwörenden Dauerbeschallung, die vornehmlich in den USA bestand, kehrte schließlich mit dem durch allerhand Lügen und Täuschungen vorbereiteten Krieg gegen den Irak 2003 eine machtvolle und internationale Friedensbewegung zurück.

In nahezu allen Hauptstädten Europas forderten Demonstranten ein Ende des Krieges, aber auch in den USA bildete sich eine Anti-Kriegsbewegung, die zwischenzeitlich ein viel größeres Ausmaß angenommen hatte als seinerzeit zu Beginn des Vietnamkrieges.

Etliche der Protagonisten dieser Bewegung fanden sich später in den Occupy-Camps ab Oktober 2011 ein. Antikriegsbewegung und diffus-antikapitalistische Bewegung, die auf die Banken- und Immobilienkrise von 2008 antwortete, verflossen so kurzfristig ineinander; in Deutschland stellte sich eine solche Allianz nicht her.

Auf der anderen Seite sollte das islamistisch-muslimische "Wir" wiederum verschwinden machen, dass gerade in islamischen Ländern Abertausende auf der Suche nach einem besseren Leben sind – und zwar nicht nur, indem sie fliehen. Die religiösen und kulturellen "Traditionen", die der Islamismus selbst konstruiert hat und die überlieferten Vorstellungswelten, die er fortwährend manipuliert, befinden sich schon längst in einem Auflösungsprozess, der mittels Identitätspolitik, Terror und patriarchaler Gewalt aufgehalten werden soll.

Doch auch hier konnte der terroristische Krieg, der der Logik eines "Clash of Civilizations" (Samuel P. Huntington) folgte, nur einen Aufschub bewerkstelligen.

In der muslimisch geprägten Welt sorgte der Arabische Frühling für ein chaotisches Aufbrechen aller möglichen Antagonismen und in den USA löste die Black-live-Matters-Bewegung die Occupy-Bewegung ab und die neue Regierung unter dem Islam-Hasser Donald Trump sorgte für ein erstaunliches Wiederaufleben linker, antikapitalistischer, antirassistischer und antisexistischer Bewegungen.

Der Islamismus, der ideologisch die für die Anschläge von Nine Eleven verantwortliche Gruppe al-Qaida antrieb, stellte für viele Linke und Friedensfreunde eine gehörige Überforderung dar.

Die islamistische Gruppe setzte sich unter der Führung Bin Ladens aus Angehörigen eines Teils der von Führungspositionen ferngehaltenen arabischen Elite zusammen, die im Kampf um die Herrschaft im Nahen und Mittleren Osten mitmischen will.

Meinte die antiimperialistische Solidaritätsbewegung der späten 60er in ihrem Kampf gegen den Vietnamkrieg noch eine Kombattantenseite einnehmen zu können und skandierte "Ho ho Ho Chi Minh", so fehlte es der Antikriegsbewegung an einem Identifikationsobjekt. Das konnten die Taliban oder die al-Qaida-Gruppen freilich nicht sein.

Auch spätere Versuche, sich mit dem ominösen "irakischen Widerstand" zu solidarisieren, die zeitweise auch die junge Welt prägte, wurden rasch eines Besseren belehrt und nach relativ kurzer Zeit sang- und klanglos abgeblasen.

Wo eine Sympathiebekundung mit dem Gegner der kriegerischen USA ausbleiben musste, konnten einige Friedensfreunde ihr Bedürfnis nach Klarheit und manichäischer Gut-Böse-Unterscheidung nur aufrechterhalten, indem sie den Islamismus ganz aus ihrem Weltbild eskamotierten.

In zugespitzter Form betrieben das einige Verschwörungstheoretiker, die jenseits jeglicher Plausibilität und umso größerer faktensammelnder Spitzfindigkeit der US-Regierung selbst das Attentat vom 11. September überantworteten.

In der Frage nach dem Cui bono steckt allerdings auch ein aufklärerischer Skeptizismus. Bei aller Kritik von Verschwörungstheorien darf nicht vergessen werden, dass jeder Krieg nicht nur im 20. Jahrhundert mittels einer im späteren Verlauf der Geschichte aufgedeckten Praxis der Verschwörung der Herrschenden vorbereitet wurde: über den Gegner Lügen streuen, die Öffentlichkeit täuschen, Kriegspläne aushecken.

Die Nazis bereiteten ihren Griff nach Osten und ihre Weltmacht anstrebende Kriegspolitik heimlich vor, täuschten über angebliche Friedensabsichten des "Dritten Reiches" und aktualisierten althergebrachte Verschwörungsideologie, die sie ihren Zwecken entsprechend modernisierten.

Das antisemitische Bild der allmächtigen und kriegerisch alles neu ordnen wollenden "Weisen von Zion" ist nicht nur antijüdisches Phantasma, sondern kalkulierte Kriegspropaganda und Projektion eigener Weltmachtphantasien auf "den Juden".

Artikulierte Skepsis gegenüber offiziellen Versionen der herrschenden Politik sind dabei radikal zu unterscheiden von solchen Verschwörungsideologien der Herrschenden selbst, die eine ganz andere mörderische Dynamik entfalten können.

Die kritischen Fragen zu Nine Eleven, die in den USA beispielsweise der Filmemacher Michael Moore stellte, waren dort eminent unbequem.

Denn in den USA erhoben sich unter George W. Bush jr. neokonservative Stimmen, die sich politikberatend durchsetzen konnten. Lügen und Täuschungen waren diesem Programm inhärent, wie die Geheimdienstbehauptung, der Irak besäße Chemiewaffen.

Ihre Ideologie "Demokratie" müsse "exportiert" werden, blamierte sich nicht erst mit dem Abzug aller westlichen Soldaten aus Afghanistan im Sommer 2021, sondern auch angesichts der sozialen wie politischen Situation im Irak.

2003 sah die Welt eine der größten gleichzeitigen weltweit stattfindenden Bewegungen: die Demonstrationen gegen den US-Krieg gegen den Irak. Am 18. Januar 2003 fand beispielsweise in Washington D.C. die größte Antikriegsdemonstration seit fast dreißig Jahren statt. Je mehr Bomben auf Bagdad fielen, desto deutlicher das tatsächliche Gesicht des Krieges, nämlich das blutige, zutage trat, desto größer wurde weltweit die Friedensbewegung – auch in Deutschland.

Eine besondere Rolle in der hiesigen Bewegung spielten, wie bereits 1991 beim ersten US-Golfkrieg unter George Bush sen. Führung, Schülerinnen und Schüler, die eine Friedenssehnsucht artikulierten, in der stets anderes Begehren und andere Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielen: Unterbrechung des Schulalltags, Ausbruch aus altgewohnten Strukturen, das Erleben von Stärke und Gemeinschaft in einer hedonistischen und dennoch kritischen Masse.

Zehntausende, meist junge Menschen drangen auf die Straße, nicht nur hierzulande, auch in Ländern wie England, Spanien und den USA, die direkt am Krieg gegen den Irak beteiligt waren oder deren Regierungen ihn unterstützten.

Wer sich in Frankreich und Deutschland als Teil der Friedensbewegung auf die Straße begab, setzte sich allerdings der Gefahr aus, nicht mehr unterschieden zu werden von denjenigen, die chauvinistisch motiviert das Ende der amerikanischen Hegemonie verkünden und eine Stärkung der europäischen oder nationalstaatlichen Position verlangen.

Auch drohte mit dem Verschwinden des klassischen linken Antiimperialismus, dem immer eine – wie fehlerhaft oder verkürzt auch immer – materialistische und marxistische Strukturkritik zu eigen war, dass die USA-Kritik verwechselbar wurde mit moralisierenden Anklagen gegen die unverschämte und "eingebildete Weltmacht" – nicht zufällig Aufmacher eines Spiegel-Titels aus dieser Zeit.

Fast schien es so, als begleitete die Friedensbewegung um 2003 rhetorisch und affirmativ einen vor sich gehenden historischen Prozess: die Auflösung des Atlantizismus, dessen Herausbildung sie in den 50er-Jahren erfolglos bekämpfte.

Dieser Atlantizismus, die westliche Wachstumsgemeinschaft, die über eine Verbindung von Warfare- und Welfare-Ökonomie zusammengehalten wurde, hatte als Grundlage den US-Dollar als gültige Weltwährung. Im Dollar waren Fortschritt, Entwicklung, zukunftsweisende Produkte und eine halbwegs stabile Ausbeutungsordnung verkörpert, die sich in den Ländern des imperialen Lebensstils konsumistisch auszahlte.

Mit dem Auftreten der Konkurrenzwährung Euro und dem schwindenden Vertrauen auf die produktive Macht, die hinter der US-Banknote steht, gerät die US-Dollar-Hegemonie und der Atantizismus in eine Krise.

Die USA handelten bereits nach Nine Eleven aus einer Position der Schwäche. Nach dem Ende des ökonomischen Booms der 1990er-Jahre und psychologisch schwer getroffen von der Attacke des 11. September begab sich die US-Administration unter dem Unilateralisten George W.Bush in die Gefahr des vom Historiker Paul Kennedy schon lange beschworen imperial overstretching.

Die Weltmacht versagte selbst in ihrer letzten starken Rolle: als Weltpolizist. Der rasche Sieg gegen den Irak entpuppte sich als Pyrrhussieg. Moralisch verloren die USA den Krieg mit Kriegslügen, Folterskandalen, der beliebigen Einkerkerung von muslimischen Gefangenen in Guantánamo.

Fernab der Empörung über das Töten und Sterben im Irak bemerkten viele Bundesbürger, dass die Kriegspolitik der USA nicht in eine neue Phase der Prosperität führen wird, die sich positiv auf Europa auswirken könnte. Ein "Fühlen", das 2008 mit der weltweiten Finanzkrise auch eine Bestätigung erfuhr.

Die Kriegsgefahr nahm in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts zu, die friedensbewegten Mobilisierungen blieben aus. Die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg 2003 ebbte noch schneller ab als diejenige zu Golfkriegszeiten 1991.

Der syrische Bürgerkrieg ab 2011 trübte den anfangs hoffnungsvollen Blick auf einen demokratischen Aufbruch in dem autoritär durch die Baath-Partei verwalteten Land. Neue internationale Akteure wie der Iran, die Türkei oder Russland engagierten sich militärisch im syrischen Bürgerkrieg, der zu einem Stellvertreterkrieg wurde.

Die militärische und strategische Verstrickung der USA in verschiedenen Schauplätzen befeuerte das Bürgerkriegschaos, das kein Ende nehmen wollte: in Afghanistan, wo die Taliban nach wie vor terroristisch aktionsfähig sind, im Irak, wo zwischenzeitlich weite Teile vom Islamischen Staat besetzt und brutal verwaltet wurden oder auch in Syrien, wo in einer Mischung aus leeren Drohungen, versteckter Unterstützung und Waffenlieferungen an die Opposition und wechselnden Kooperationen der Bürgerkrieg mehr verlängert als wirkungsvoll eingedämmt wurde.

Die kriegerischen Interventionen im Arabischen Frühling, besonders das von Frankreich forcierte und zusammen mit den USA und Großbritannien organisierte Wegbomben der Herrschaft Gaddafis 2011, sorgte für eine weitere Chaotisierung des Weltsystems an den Rändern Europas. Russland und China wurden damals über den Tisch gezogen, die Libyen betreffende Uno-Resolution sah Schutz der Bevölkerung vor, nicht das gewaltsame Absetzen eines Herrschers.

Der libysche Staat unter Gaddafi stellte bislang ein autoritäres Bollwerk gegen den Islamismus dar und hatte eine eindämmende Funktion als von westlichen Anrainerstaaten gut bezahltes Migrationsregime.

Nach der Machtübernahme von konkurrierenden Banden in Libyen war einer der vielen Hauptmigrationswege nach Europa offen. Durch diese Entwicklung und Erfahrung war die Tür geöffnet für eine diskursive Verbindung von migrationsfeindlichen Sentiments mit gegen die USA gerichtetem Anti-Interventionismus.

"Frieden mit Russland"?

Als sich schließlich die Krise um die Ukraine 2014 zuspitzte und die westlichen und bundesdeutschen Medien (bis hin zur politisch grünen Tageszeitung taz) in ihrer Mehrzahl Putins Russland als alleinigen Aggressor zeichneten, formierte sich ein neues Friedensmilieu, das sich mit der Selbstbezeichnung "Montagsmahnwachen für den Frieden" teilweise in die Tradition der DDR-Opposition stellen wollte.

Es ist dem grünen Milieu und der Tageszeitung taz sehr stark entfremdet, weil gerade diese – wie auch die grüne Böll-Stiftung – einen besonders aggressiven Anti-Putin-Kurs fährt; der Hintergrund der grünen Ukraine-Unterstützung besteht in klassenpolitischen Fragen.

Die grünen Mittelschichtsvertreter unterstützen die Anliegen und Interessen der europaaffinen ukrainischen Mittelschicht, der Künstler, Erasmus-Studierenden und IT-Angestellten, von russischem Gas- und Öl will man im Sinne einer ökologischen Wende ohnehin abrücken.

Unterfüttert ist dies mit einem traditionellen antikommunistischen Antisowjetismus, im besseren Fall Antiautoritarismus, den die grünen Protagonist:innen auf das "rückständige und rückschrittliche" Russland richten. Besonderer Hass und Enttäuschung über diese Haltung traf die Grünen vonseiten der neuen pro-russischen "Friedensfreunde".

Youtube-Filme und Bilder von Rednerinnen und Rednern der Montagsmahnwachen zeigten das bunte Sammelsurium an Meinungen, die hier grassierten. Selbständige oder Freiberufler mit überdurchschnittlichem Bildungsstand, der jedoch geringer ist als bei anderen sozialen Bewegungen, dominierten die Bewegung, die allerdings auch viele prekarisierte Abgehängte und Opfer des ab 2005 herrschenden Hartz VI-Arbeitslosenregimes anzog.

Auch zeigte sich, dass zehn Jahre Prekarisierung der Verhältnisse zuweilen schlimme mentale und psychische Folgen hervorruft; an den Verhältnissen irre Gewordene traten nochmals prominenter ins Scheinwerferlicht als in anderen, auch quantitativ viel größeren sozialen Bewegungen. Sie wurden allerdings auch von konformistischen Pressevertretern gerne ins besonders grelle Licht gerückt, um Friedenspositionen generell zu diskreditieren.

Anders als in den alten Friedensbewegungen herrschte hier keine Dominanz eines linken Grundverständnisses vor. Auch der klassische linke Antiimperialismus als Verlängerung marxistischer Tradition spielte keine Rolle. Weder mochte sich ein klassenbasierter Antimilitarismus artikulieren noch eine wirklich breit geteilte Endzeitstimmung wie in den 80er-Jahren sich erheben.

Soziologische Studien sprechen davon, dass in den Montagsmahnwachen Menschen mit wenig bis keinen politischen Vorerfahrungen agieren. Der Organisationsgrad sei gering gewesen und viel weigerten sich, die eigene Position im üblichen Links-Rechts-Schema zu verorten.

Dahingegen spielte das Internet, wo jede Meinung, wie begründet oder bizarr auch immer, ihr Forum finden kann, eine wichtige Rolle als Bezugspunkt und Medium der Informationsbeschaffung und Organisierung, es dient vor allem dazu, sich eine kritisch gemeinte, postmoderne politische Patchwork-Identität und Weltanschauung zurechtzulegen.

Auf den Versammlungen sprachen sowohl alternative Medienprofis und unternehmerische Selbstvermarkter wie Ken Jebsen, Rechtspopulisten wie der ehemalige Antideutsche Elsässer, Zinskritiker, aber auch viele politisch haltlose Friedenssehnsüchtige. Statt einer Kapitalismus- und Imperialismusanalyse zu folgen, verlegten sich viele Redner auf das Anklagen der Dominanz der amerikanischen Zentralbank FED.

Waren die westdeutschen Friedensbewegungen von den westdeutschen Nach-68er-Diskursen geprägt, so sind die Montagsmahnwachen von ostdeutschen Diskursen geprägt, was sich in der Häufung der Verwendung des Begriffs "Faschismus" für normale demokratisch-kapitalistische Strukturen zeigte, aber auch in einer unverhohlen nationalen und "souveränistischen" Diktion, die sich in der DDR stärker konservierte als in Westdeutschland.

Während Petra Kelly im Oktober 1983 bei einem Treffen mit Erich Honecker einen Pullover tragend, auf dem "Schwerter zu Pflugscharen" gedruckt stand, diesem die unbequeme Frage stellte, warum er in der DDR verbiete, was er im Westen unterstütze und die Freilassung aller "Verhafteten der DDR-Friedensbewegung" forderte, artikulierte sich bei den Montagsmahnwachen das autoritäre Bedürfnis, sich an Russland unter dem starken Mann Putin anzulehnen, der – so die damalige nicht unzutreffende Wahrnehmung – für eine außenpolitisch konservative, berechenbare Großmachtpolitik steht, die Stabilität um den Preis einer autoritären Ordnung verspricht.

Dabei stellte das Gebot "Frieden mit Russland", das bei den Montagsmahnwachen-Vertretern hoch im Kurs stand, eine der wichtigsten Lehren der deutschen Geschichte mit ihrem völkermörderischen zweimaligen Griff gen Osten dar. Dass offiziell, Regierung wie Medien betreffend, "Solidarität mit Israel" als Staatsräson ausgegeben und mit der deutschen Verantwortung vor der Geschichte begründet wird, gleiches aber nicht für Russland gelten soll, stellt einen ideologischen Widerspruch offizieller Staatspolitik der BRD dar, der sich geostrategisch aber mit den Zuordnungen im Kalten Krieg erklären lässt.

Die auf den Montagsmahnwachen artikulierte Hoffnung, Deutschland möge sich vom Westen abwenden und sich stattdessen dem östlichen Russland kulturell, politisch und mental zuwenden, stellt allerdings eine wenig fortschrittliche Option dar, nicht zuletzt, weil dort ein repressives, im Verbund mit der orthodoxen Kirche agierendes und im Wortsinn reaktionäres Regime an der Macht ist.

Auch in ihrer Pro-Russland-Haltung waren die Mahnwachen ein verzerrtes und bloß verkehrtes Spiegelbild der herrschenden Verhältnisse. Wo die Mainstreammedien einen propagandistischen Kurs fuhren wie zu Beginn der Ukraine-Krise, glaubten die Demonstranten lieben jeder ungeprüften Internetnachricht, soweit sie nicht von der sogenannten "Lügenpresse" stammte; wo Überwachungs- und Kontrollskandale (beispielsweise der NSA) publik wurden, schälte sich eine generelle Überwachungsparanoia heraus; wo die Bundesregierung sich bündnistreu gegenüber den USA zeigte (Überflugrechte, Ramstein, Nichtreaktion auf Abhörskandale), wurde behauptet, man lebe gar nicht in einem "souveränen Land".

Eine Kritik an der deutsch-französischen Aufrüstungspolitik im Rahmen der EU blieb marginal; das rüstungspolitische Ausstatten von islamistisch-reaktionären Ländern wie Saudi-Arabien durch die Bundesregierung wurde zwar kritisiert, doch USA-Kritik überwog.

Aufgrund ihrer mehr als vagen Programmatik wurden die Montagsmahnwachen nicht nur zu einem attraktiven Ort für allerhand Obskurantisten, sondern auch für Rechtsradikale. Trotzdem sympathisierten auch einige ältere kritische Zeitgenossen, die weder bei den Grünen noch bei den realpolitischen Linken eine politische Heimat gefunden haben, mit dieser neuen Friedensbewegung. Sie sind oftmals akademisch gebildet, verabscheuen affirmatives und unkritisches Verhalten, entstammen generationell den 68ern und haben sich trotz Karrieren im Bildungs- oder therapeutischen Bereich nicht an das Bestehende angepasst.

Sie artikulieren sich in neuen Internet-Publikationen wie Ken FM oder Rubikon. Hier haben sich Medienunternehmen vollkommen von dem alten Konzept der linken Gegenöffentlichkeit entfernt, das spätestens mit der Entwicklung der taz, der Auflösung linksradikaler Stadtzeitungen und der Krise der freien Radios prekär geworden ist.

Doch sie nehmen auch eine gewisse Verve dieser älteren Konzepte wieder auf, wie die Selbstwahrnehmung, einen wahren demokratischen Diskurs jenseits einer "Gesinnungsdiktatur" und der Lügenhaftigkeit der offiziellen Medien zu pflegen. Da diese neuen Medien für alles offen sind, finden sich dann auch kritische Analysen genauso wie obskurantistische Bekenntnisse und Irrationalismen in den dort publizierten Artikeln.

Mit der klassischen Friedensbewegung verbindet diese schreibenden Protagonisten eine staatsbürgerliche Appellkultur und die Selbstpräsentation als bessere mediale, diskursive, akademische Intelligenz.

Wo die Sprecher der alten Friedenbewegung aber mittels machtvoller Netzwerke Menschen bewegen konnte, sprachen hier immer einsame Feldherren auf dem Überblickshügel. Bis zu Corona.

Mit der Gesundheitskrise und der Pandemie erreichten diese "alternativen" Medien viel mehr Menschen, fütterten die "Meinungsblasen" mit "subversivem Gegenwissen" und trieben nicht nur Skepsis, sondern generelle Feindschaft gegen die großen Medien voran. Von staatlicher wie privater Seite wurde Prominenten wie Ken Jepsen mit Zensur begegnet.

Jüngere radikale Linke blieben eher in feindlicher Distanz zu diesen ProtagonistInnen, einige bezogen sogar den Observationsposten als alternativer Staatsschutz. Den offiziellen Medien, aber auch den liberalen und linken, war es ein Leichtes, die Montagsmahnwachen als bloße Zusammenkünfte von paranoiden "Aluhutträgern", "Verschwörungstheoretikern", "Querfrontlern", "Antiamerikanern" und "Antisemiten" zu bezeichnen und die durchaus vorhandenen berechtigten Anliegen und den dort aufflackernden kritischen Geist wie die hohe Sensibilität gegenüber gesellschaftlicher Herrschaft zu verschweigen.

Nach einigem Ringen um Inhalte und Dominanz über die Montagsmahnwachen distanzierte sich der Nato- und regierungsbeteiligungswillige Teil der Partei Die Linke und führende Sprecher der Friedensbewegung weitgehend von den Montagsmahnwachen, obwohl nach einer Umfrage immerhin 38 Prozent sich politisch eher links verorteten und 42,6 Prozent angaben, sie hätten bei der Bundestagswahl 2013 die Partei Die Linke gewählt.

Übergänge der Montagsmahnwachen zur fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung wurden regional beobachtet und gerne behauptet, tatsächlich gibt es thematische Überschneidungen, die in einer harschen Medienkritik und der Anklage der US-Dominanz bestehen.

Allerdings herrschte auf prominenten Friedensmahnwachen ein postmoderner Hippiespirit vor, wurde in apolitischer Art "Love and Peace" propagiert und prominente Redner sprachen sich vehement für die Aufnahme von und Gastfreundschaft gegenüber Flüchtenden aus.

Eine ähnliche Situation zeigte sich keine zehn Jahre später angesichts der Coronarebellen, Querdenker und Lockdownkritiker:innen, wobei sich hier der Irrationalismus bis hin zu tatsächlichen Verschwörungsmythen noch zuspitzten.

Die abwesende Linke

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das linke Denken in einer beispielhaften Weise marginalisiert. Während des herrschaftlichen Pandemiemanagments war die Linke als kritische Stimme nicht zu vernehmen.

In unterschiedlichster Weise hat sich linkes Denken bereits vorher desavouiert: in Form eines realsozialistischen Anachronismus oder eines eurozentrischen Bellizismus, mittelschichtszentrierter Identitätspolitik und anderen Form der Zerstörung der kritischen Vernunft.

Ab den späten 1960er-Jahren konnte es bis weit in die 1980er-Jahre hinein vielstimmige und glaubhafte Antworten auf die Fragen von Krieg und Frieden geben und diese folgten meist wie in den großen Golfkriegen dem Paradigma der internationalen Solidarität und einer globalen Kapitalismuskritik.

Mit der neuen rechten Wende, für die das Aufkommen der fremden- und islamfeindlichen Pegida-Bewegung und rechtsradikaler Netzwerke rund um die Coronaleugner-Szene stehen, existiert die große Gefahr, dass beispielsweise unter Hinweis auf die Rolle des Militärflugplatzes Ramsteins im US-Drohnenkrieg diese neue Rechte den Verlust deutscher Souveränität beklagt, Völkerrechtsbrüche anklagt und einen völkischen, deutschnationalen Antiimperialismus formuliert.

Neurechte Strategen unterfüttern ihre Ablehnung von "Massenmigration" mit gegen die USA gerichteter Antikriegsagitation, einem völkischen Antiimperialismus nach Art eines Ethnopluralisten wie Alain de Benoist.

Sie wünschen somit die Friedenssehnsüchte wie die Migrationsängste breiter Teile der deutschen Bevölkerung zu bedienen. Die rechtskonservative AfD kombinierte beispielsweise Kritik am Afghanistan-Einsatz der Bundesrepublik mit anti-migrantischen Abschottungsfantasien und dem Aufruf zu beschleunigten Abschiebungen.

Auf Antiimperialismus und Antiamerikanismus kann sie als rechtsbürgerliche Partei verzichten, auch eine rassistisch-antimuslimisch motivierte Israel-Solidarität überstrahlt den Antisemitismus, der nicht zuletzt in der geschichtsrevisionistischen Programmatik der Partei angelegt ist. Schließlich entdeckte sie sowohl in der israelischen Regierung wie beim neuen US-Präsidenten Donald Trump eine enge Geistesverwandtschaft.

Die vom 45. Präsident der USA ausgehende protektionistische Politik eines nationalistischen America first, die Elemente der neoliberalen Reaganschen Wirtschafts- und Steuerpolitik beinhaltet, könnte das definitive Ende des Atlantizismus aus der Kalten-Kriegs-Ära bedeuten.

Die deutsche Rechte nahm dies auf und artikulierte ihr "Deutschland zuerst". Dass Trump keine Kriege anzettelte, ist bis heute beliebtes Argument rechter Akteure, wenn sie den ehemaligen Präsidenten gegen Kritik in Schutz nehmen. Dass Trump die Konfrontation sowohl mit dem Iran als auch – und viel entscheidender – China vorantrieb, was von dem aktuellen Präsidenten Biden weitergeführt wird, wird dabei gerne verschwiegen.

Eine fortschrittliche, nicht-nationalistische und antimilitaristische Bewegung ist weitgehend inexistent. Der Friedenswinter ist politisch sibirisch geworden, 2015/2016 eingefroren, er taute in der Coronakrise wieder auf und amalgierte mit anderen irrationalistischen Strömungen.

Weite Teile der affirmativen Partei-Linken setzen auf Regierungsbeteiligung und Nato-Treue und werden darin unterstützt von sich linksradikal oder antifaschistisch fühlenden, tatsächlich aber staatsschutztreuen Denunzianten außerparlamentarischer Aufbrüche, wie besonders gut während der Coronapandemie zu beobachten.

In diese Situation platzte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Spontan drängten neue Friedensbekundungen in den öffentlichen Raum, ukrainische Fahnen wurden aller Orten gezeigt: auf Demonstrationen, durch staatliche, private und zivilgesellschaftliche Organe. Zuweilen grassierten auf Friedensdemonstrationen Pro-Nato-Bekundungen und die plakative Verzeichnung Putins zum neuen Hitler.

Dies stellte ein Novum im Kontext deutscher Friedensbewegungen dar. Die sich für die Ostermärsche 2022 formierende Friedensbewegung, die organisatorisch in den Händen älterer linker Semester lag, brach auf erfrischende Weise mit diesem hegemonialen Diskurs. Die Anfeindungen von offizieller Seite ließen so auch nicht lange auf sich warten.

Der nun stattfindende Krieg mit offenem Ende ist Teil einer globalen Neuausrichtung der Welt. China und Russland werden enger kooperieren. Deutschland profitierte bislang wirtschaftlich von einer multipolaren Welt, bezog man doch gerne Waren und seltene Erden aus China, Erdgas seit den 70er-Jahren, den Jahren der sozialliberalen Koalition, aus Russland und konnte sich trotzdem als mit den USA verbundener Teil des demokratischen Westens präsentieren.

Nun rückt Deutschland wieder ideologisch, sicherheitspolitisch und wirtschaftlich stärker an die USA heran – angetrieben von antirussischen, östlichen EU-Partnern und einer fordernden Ukraine, deren Stimmen von rechtsatlantizistischen Zeitungen wie der FAZ oder der Welt prominent Gehör verschafft wird. Sicherheitspolitisch ist eine Distanz zur Nato vorerst in weite Ferne gerückt. Dem Zwei-Prozent-Ziel will die Ampel verschärft nachkommen. Eine bereits vor der Ukrainekrise vorliegende und geplante Aufrüstung soll mit "Zeitenwende"-Rhetorik erwirkt werden.

Grundgesetzänderungen stehen an, schließlich sollen Sonderfonds für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden darin verankert werden. Davon hat nur die kleine Schicht von Hochlohnarbeitern und Aktionären in und von Rüstungsfirmen etwas. Eine militär-keynisianische Wende dürfte dies nicht bedeuten, eher eine sinnlose Ausgabenpolitik, die zu Kürzungen an anderen Stellen des Etats führen muss.

Die unteren Klassen waren in der Friedensbewegung noch nie erster Adressat, doch diese werden die jetzige Kriegspolitik mit ihrer Wirtschaftskriegsseite und die kommende Haushaltspolitik am härtesten treffen. Wenn es keine adäquate linke, humanistische, internationale und soziale Antwort von linker Seite gibt, die klassenpolitisch unterfüttert ist, könnte die Rechte wiederum das Monopol auf Oppositionsgeist für sich reklamieren.

Sie haben populistisch einleuchtende Parolen: "Für Isolationismus im doppelten Wortsinn: also gegen Migration und Kriegseinsätze! Lasst Russland in Ruhe! Akzeptiert starke Männer! Lasst dem kleinen Mann sein billiges Benzin und Gas! Keine Ökoexperimente!"

Eine linke Bewegung muss in dieser Hinsicht glaubwürdige Alternativen bieten können. Sie steckt in der Klemme, dass eine Affirmation einer multipolaren Welt autoritären Regimen Akzeptanz entgegenbringt. Dass eine Kritik des nicht nur klimaunverträglichen, sondern menschenfeindlichen Konsumkapitalismus als Verlängerung herrschaftlicher Kürzungspolitik bei den unteren Klassen erscheint.

Dass sie sich kaum mehr auf hoffnungsvolle gesellschaftliche Modelle, die eine Attraktivität im Sinne von Freiheitswahrung und sozialer Gleichheit beinhaltet, beziehen kann. Äußern Linke in dieser schwierigen Gemengelage einfache Parolen, ist das Populismusverdikt von herrschender Seite nicht weit.

Die Partei Die Linke zeigt ein jämmerliches Bild zwischen privaten Fehden, wenigen alt-stalinistischen Ideologen und vielen OpportunistInnen auf der Jagd nach Posten und Einfluss.

Die Strömung, die nach wie vor auf Regierungskoalitionen mit Rot und Grün schielt, muss so auch von Pazifismus, Antimilitarismus und Nato-Kritik abrücken.

Eine antiautoritäre und undogmatische außerparlamentarische Linke ist angesichts des Kriegsgeschehens sprachlos, formuliert wie die Zapatistas in Mexiko die Ablehnung aller Kriegsparteien und hält noch an der Utopie einer anderen, ausbeutungs- und herrschaftsfreien Welt fest, ihre Proklamationen wirken allerdings zu abstrakt und allgemein. Linke jenseits des Opportunismus konkurrieren tatsächlich mit der Rechten in ihren Antworten auf den globalen Kapitalismus und dessen Kriegsdynamik.

Sie haben in ungewohnter Weise das liberale Establishment gegen sich. Dies deutete sich beispielsweise schon darin an, dass das Innenministerium und der Verfassungsschutz die Friedensdemos zu Ostern 2022 dadurch zu desavouieren trachtete, indem gewarnt wurde, es tummelten sich darin "Linksextremisten".

Es ist davon auszugehen, dass die mit Waffenlieferungen im Kriegsgeschehen engagierte Bundesrepublik unter der Ampel zu einer härteren gesellschaftlichen Form übergeht, die weitere "Involution" als Rückbau demokratischer Standards bezüglich Informationsfreiheit und Meinungsäußerung vorsieht.