So rüstet Deutschland auf

Leopard 2 A6 des Panzerbataillons 393, 2014. Bild: Tobias Nordhausen, CC BY-NC-SA 2.0

Ampel-Koalition und Union haben 100-Milliarden für Bundeswehr beschlossen. Wie es dazu kam und warum es bei dem Mega-Etat nicht bleiben wird. Eine Analyse (Teil 1)

Mit der in seiner Regierungserklärung ausgerufenen Zeitenwende hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 zahlreiche tiefgreifende Maßnahmen angekündigt, insbesondere was die künftige finanzielle Ausstattung der Bundeswehr anbelangt.

Nach der am 29. Mai 2022 verkündeten Einigung zwischen der Ampel-Regierung und der Unionsfraktion in Sachen Sondervermögen für die Bundeswehr war der Weg für das Parlament frei, um am gestrigen Freitag die größte Geldspritze in der Geschichte der Truppe abzunicken.

Damit gab die ganz große Militarisierungskoalition im "Grundsatz grünes Licht für Waffenbestellungen bei der Rüstungsindustrie in großem Stil" gegeben, freut sich bereits die FAZ.

Bereits kurz vor der Abstimmung wurde außerdem der Wirtschaftsplan öffentlich, der zeigt, dass über die 100 Milliarden vor allem sowohl die Kernprojekte zur Aufrüstung gegen Russland im Nato-Rahmen als auch die ambitionierten Schlüsselprojekte für eine Militärmacht Europa finanziert werden sollen.

Rüstung per Regierungserklärung

In seiner Regierungserklärung brachte Scholz gleich in mehreren wichtigen Punkten die letzten kritischen Stimmen innerhalb von SPD und Grünen per Kanzlererklärung zum Schweigen, indem er sich etwa klar für die bis dahin hochumstrittene Bewaffnung der Heron-TP-Drohnen oder etwa für die Beschaffung von F-35 Kampfflugzeugen und damit die Beibehaltung der Nuklearen Teilhabe aussprach.

Völlig zu Recht erhielten allerdings die Passagen, die sich mit der künftigen finanziellen Ausstattung der Bundeswehr beschäftigten, die mit Abstand größte Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang enthielt die Regierungserklärung zwei weitreichende Ankündigungen. Erstens wurde ein hoher Mindestbetrag für den offiziellen Rüstungshaushalt ausgelobt: "Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren."

Nicht ohne Grund war eine solche Größenordnung zwar lange von der Nato gefordert, aber ebenso lange für völlig undenkbar gehalten worden. Denn was hier so harmlos mit Zahlen im unteren einstelligen Bereich daherkommt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Erhöhung der Ausgaben um riesige Milliardenbeträge.

Laut dem Statistikportal Statista belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Jahr 2021 auf 3,57 Billionen Euro. Wäre hierfür bereits die Scholz'sche Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt in diesem Jahr statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Milliarden Euro also auf mindestens 71,4 Milliarden Euro belaufen müssen.

Obwohl der Militäretat nach der Einigung auf den Bundeshaushalt 2022 am 20. Mai 2022 mit 50,4 Milliarden Euro satte 3,5 Milliarden Euro über dem Vorjahresniveau liegen wird, ist es somit offensichtlich, dass zu den von Kanzler Scholz ausgerufenen zwei Prozent eine erhebliche Lücke klafft.

Diese Kluft soll künftig jährlich durch die zweite in der Zeitenwende-Regierungserklärung enthaltene Bundeswehr-Budgetaussage geschlossen werden:

Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten. […] Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen.

Das Geld soll in diesem Jahr per Kredit aufgenommen werden, um 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können. Obwohl zwischenzeitlich auch über andere Optionen spekuliert worden war, soll das Sondervermögen per Grundgesetzänderung über die Bühne gebracht werden, da es ansonsten rechtlich doch auf sehr wackligen Beinen stehen würde.

Und hierfür braucht es wegen der erforderlichen Zweidrittelmehrheit die Unionsfraktion, die sich - gerade erst von der Regierungsbank geflogen - unversehens gleich wieder in einer Position sah, Forderungen stellen zu können.

In den dann anschließenden Verhandlungen um die Ausgestaltung des Sondervermögens pochte die Union vorwiegend auf zwei Forderungen: Zum einen darauf, dass die 100 Milliarden Euro ausschließlich der Bundeswehr zugutekommen dürften; und zweitens, dass das Zwei-Prozent-Ziel gleich mit ins Grundgesetz als verbindliche Untergrenze des Militärhaushaltes mit verankern.

Fokus Bundeswehr

Der Kabinettsentwurf zur Sondervermögen-Grundgesetzänderung in Artikel 87a liegt bereits seit März 2022 vor, unter anderem die FAZ (15.3.2022) hatte aus ihm zitiert:

Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten. Auf die Kreditermächtigung sind Artikel 109 Absatz 3 und Artikel 115 Absatz 2 [Schuldenbremse] nicht anzuwenden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Der recht allgemein gehaltene Begriff der "Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit" war dabei hinreichend schwammig formuliert, dass vor allem die Grünen darauf pochen konnten, das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen solle auch für andere sicherheitsrelevante Bereiche außerhalb der Bundeswehr genutzt werden können.

Augenscheinlich konnten – oder wollten – sich die Grünen bei der schlussendlichen Einigung an diesem Punkt aber nicht durchsetzen. Dazu lässt sich bei tagesschau.de nachlesen:

Beim Streitpunkt der Verwendung des Geldes wurde vereinbart, dass auch Maßnahmen zur Cybersicherheit, für den Zivilschutz sowie zur Stabilisierung von Partnerländern ergriffen werden - aber ‚aus dem Bundeshaushalt finanziert‘, also nicht aus dem Sondervermögen. Die Union hatte darauf gepocht, dass das Sondervermögen ausschließlich für die Bundeswehr verwendet wird. Vor allem die Grünen wollten, dass mit dem Geld auch Cyberabwehr sowie Unterstützung für Partnerstaaten finanziert wird.

Es scheint dabei zu einer Einigung zwischen Ampel und Union gekommen zu sein, ohne den eigentlichen Gesetzestext noch einmal zu überarbeiten.

Interessant ist jedenfalls, dass der Tagesspiegel berichtet, die grüne Außenministerin Annalena Baerbock hätte zunächst in harten Verhandlungen erreicht, dass das Sondervermögen nicht ausschließlich der Bundeswehr zugutekommen müsse, faktisch seien die Grünen aber bereits vor einer Weile eingeknickt – was im Übrigen auch viel über die Prioritäten der Partei aussagt:

In den Verhandlungen zum Entschließungsantrag des Bundestags zur Lieferung schwerer Waffen hatte die Union dann als Preis ihrer Zustimmung erreicht, dass statt der Baerbock-Formel wieder die Ausstattung der Bundeswehr genannt wurde, was sie auch für die Verhandlung zur Grundgesetzänderung einforderten.

Fest steht auf alle Fälle, wer hier seinen Kopf durchgesetzt hat: "Punktsieg für die Union, eine Niederlage für die Grünen", urteilt der Tagesspiegel.

Und auch im zweiten zentralen Bereich, dem Zwei-Prozent-Ziel, ist es weniger klar, als es gerade in der Presse dargestellt wird, ob die Union nicht auch hier am Ende noch einen zweiten Punktsieg davontragen wird.

Handlungsdruck statt Zwei-Prozent-Ziel

Der auf Grundlage der Einigung zwischen Ampel und Union ebenfalls vorgelegte Entwurf für ein "Gesetz zur Finanzierung der Bundeswehr und zur Errichtung eines ‚Sondervermögens Bundeswehr‘" gibt Aufschluss über gleich mehrere bislang unbekannte Faktoren, namentlich Anfang und Gesamtdauer sowie die Bemessungsgrundlage für die Verrechnung mit dem Zwei-Prozent-Ziel:

Mit Hilfe des Sondervermögens werden im mehrjährigen Durchschnitt von maximal f ünf Jahren zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf Basis der aktuellen Regierungsprognose für Verteidigungsausgaben nach NATO-Kriterien bereitgestellt. […] Das Sondervermögen hat den Zweck, die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit zu stärken und dazu ab dem Jahr 2022 die Fähigkeitslücken der Bundeswehr zu schließen, um damit auch den deutschen Beitrag zu den geltenden NATO-Fähigkeitszielen gewährleisten zu können.

Nach Nato-Kriterien, die viele versteckte Kosten mit berücksichtigen, belief sich der deutsche Militärhaushalt 2021 auf 53 Milliarden Euro (offiziell: 46,9 Milliarden Euro).

Die neuen Zahlen liegen noch nicht vor, aber auch für 2022 ist von einer mindestens ebenso großen Differenz auszugehen, bei der Nato dürften also nicht unter 56 Milliarden Euro angezeigt werden (offiziell: 50,4 Milliarden Euro).

Laut Prognose des Deutschen Institut für Wirtschaft vom Mai 2022 soll das BIP in diesem Jahr um drei Prozent auf rund 3,68 Billionen Euro steigen – das Zwei-Prozent-Ziel würde demzufolge 73,5 Milliarden Euro betragen, es ergäbe sich also eine Deckungslücke von 17,5 Milliarden Euro, die bereits dieses Jahr dem Sondervermögen entnommen werden müssten.

In den aktuellen Eckwerten des Bundeshaushaltes vom 16. März 2022 sind für die Jahre 2023 bis 2026 jährliche offizielle Militärausgaben von 50,1 Milliarden Euro vorgesehen, was bedeutet, dass die Lücke bei steigendem BIP und unter Berücksichtigung der Nato-Kriterien im Schnitt mindestens rund 20 Milliarden Euro betragen dürfte.

In diesem Fall wäre das Sondervermögen dann in der Tat, wie im Gesetzentwurf bereits angedeutet, spätestens nach fünf Jahren aufgebraucht. Berechnungen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gehen sogar davon aus, dass der Topf wäre bereits 2025 leer sein wird. Die entscheidende Frage ist: Was passiert danach mit dem offiziellen Militärhaushalt und dem Zwei-Prozent-Ziel?

Eine Option wäre es, den offiziellen Haushalt tatsächlich, wie in den Eckwerte-Planungen vorgesehen, bei etwa 50 Milliarden Euro zu belassen, dann müsste man sich 2025/2026 aber entweder vom Zwei-Prozent-Ziel verabschieden oder das Budget schlagartig um 25 bis 30 Mrd. Euro anheben – und das bei Einhaltung der "Schwarzen Null", das heißt auf Kosten massiver Einsparungen in anderen Haushalten.

Vor diesem Hintergrund beharrte die Union lange darauf, sogar das Zwei-Prozent-Ziel als verbindliche Untergrenze des Militärhaushaltes mit in die Grundgesetzänderung aufzunehmen. Das zumindest ist nach der Einigung erst einmal vom Tisch. Die Union habe sich in dieser Frage "nicht durchsetzen" können, ist in der Presse zu lesen.

Allerdings heißt es nun aus den Reihen der Unionsfraktion, das sei ohnehin nie das Ziel gewesen, das Zwei-Prozent-Ziel solle vielmehr über ein kommendes Bundeswehr-Finanzierungsgesetz auch nach Aufbrauchen des Sondervermögens gewährleistet werden:

Union-Fraktionsvize (Johann) Wadephul betont, ein eigenes Bundeswehr-Finanzierungsgesetz solle die Details zur Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels absichern. Die Lösung sieht nun so aus, erläutert er auf Tagesspiegel-Anfrage: Der Bund verpflichte sich mit dem Bundeswehr-Finanzierungsgesetz erstmalig per Gesetz, die zwei Prozent, also aktuell rund 70 Milliarden Euro im Jahr, für die Bundeswehr und Verteidigung, dauerhaft einzuhalten. ‚Das geschieht zunächst durch den Bundeshaushalt plus Sondervermögen. Wenn dieses aufgebraucht ist, muss der Bundeshaushalt entsprechend erhöht werden‘, so Wadephul.

Tagesspiegel

Gemeint ist hier wohl das bereits erwähnte "Gesetz zur Finanzierung der Bundeswehr und zur Errichtung eines ‚Sondervermögens Bundeswehr‘" – die Interpretation von Wadepuhl, dadurch werde die Regierung verpflichtet, dauerhaft die zwei Prozent einzuhalten, ist aber gelinde gesagt gewagt.

Im Gesetzentwurf heißt es: "Nach Verausgabung des Sondervermögens werden aus dem Bundeshaushalt weiterhin die finanziellen Mittel bereitgestellt, um das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und den deutschen Beitrag zu den dann jeweils geltenden Nato-Fähigkeitszielen zu gewährleisten."

Die Verpflichtung auf die Nato-Fähigkeitsziele ist allerdings mehr als vage, schließlich hat die Bundesregierung einen weiten Spielraum, selbst zu entscheiden, wie viel sie ins Bündnis einbringen will, wobei die Bundeswehr noch im Februar 2022 berechnete, für die bisherigen Zusagen würden "nur" 1,5 Prozent des BIP benötigt.

Wie es weitergeht, ist also relativ unklar – wahrscheinlich werden die Eckwerte im kommenden Jahr aber wieder einkassiert und der offizielle Haushalt zwar nicht sofort komplett, wohl doch substanziell weiter in Richtung Zwei-Prozent-Ziel angehoben, um das Sondervermögen zu strecken.

Denn der von der Regierung parallel vorgelegte Wirtschaftsplan zum Sondervermögen enthält Rüstungsprojekte, mit denen ein enormer Druck in diese Richtung erzeugt wird.