Legendenbildung vor Geldregen: Arme, klamme Bundeswehr?
Zeitenwende im Rüstungshaushalt: Das Militär war nie so unterfinanziert, wie es sich in den letzten Jahren darstellte
Von einer "Zeitenwende" sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg am 27. Februar 2022. Und in der Tat übersteigt das, was er darin angekündigt hat, alles, was bis kürzlich auch nur ansatzweise für möglich gehalten worden wäre. Der russische Angriff auf die Ukraine ebnet so auch den Weg für eine beispiellose Militarisierung Deutschlands, die eine Reihe von Bereichen betrifft, besonders aber die Rüstungsausgaben.
Chronisch unterfinanziert?
Dem angesichts der aktuellen Eskalation häufig und bewusst erweckten Eindruck, die Bundeswehr sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten systematisch kaputtgespart worden, muss entschieden widersprochen werden. Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 46,9 Milliarden im Jahr 2021 steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).
Wenn die Truppe nun etwa in Person von Heeresinspekteur Alfons Mais argumentiert, sie stehe "blank" da, so ist das nicht auf eine mangelnde Finanzierung, sondern auf chronisch verschwenderische Strukturen zurückzuführen. Noch 2014 kritisierte die damalige Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung, Katrin Suder: "Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel."
2015 hieß es im ersten Bericht über das Rüstungswesen, dessen Aufgabe es ist, die Defizite im Beschaffungswesen offenzulegen, die untersuchten Rüstungsgroßprojekte wiesen eine durchschnittliche Verspätung von 51 Monaten auf und lägen insgesamt um 12,9 Milliarden Euro über dem ursprünglich geplanten Preis. Trotz aller Beteuerungen mehrerer folgender VerteidigungsministerInnen ist es offenbar nicht gelungen, hier eine "Verbesserung" (sofern eine effizientere Beschaffung von Waffen als solche bezeichnet werden kann) zu erreichen.
Im nunmehr 14. Bericht zu Rüstungsangelegenheiten vom Dezember 2021 ist nachzulesen: "Aktuell beträgt die Verzögerung im Mittel 52 Monate gegenüber der ersten parlamentarischen Befassung und neun Monate gegenüber den aktuellen Verträgen. Die Veranschlagung der betrachteten Projekte im Haushalt 2021/54 […] liegt rund 13,8 Mrd. Euro über der Veranschlagung zu Projektbeginn."
Vor Kriegsbeginn: Finanz- vs. Verteidigungsministerium
Noch unter Kanzlerin Angela Merkel gab die damalige Bundesregierung die ambitionierte Zusage, bis 2023 eine voll ausgestattete schwere Brigade (ca. 5.000 SoldatInnen), bis 2027 eine Division (15.000 bis 20.000 SoldatInnen) und bis 2032 drei Divisionen in die NATO einzuspeisen. Die Ampel übernahm diese äußerst kostspielige Zusage in ihrem Koalitionsvertrag: "Die Nato-Fähigkeitsziele wollen wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren."
Noch Anfang Februar 2022 klaffte aber zwischen dem, was das Finanzministerium im Finanzplan bis 2026 für die Bundeswehr vorgesehen hatte und dem, was das Verteidigungsministerium zu benötigen meinte, um die NATO-Fähigkeitsziele umsetzen zu können, eine gewaltige Lücke – eine rund 38 Mrd. Euro große Lücke, um genau zu sein.
Während für 2022 noch einmal eine deutliche Erhöhung auf 50,33 Mrd. Euro vorgesehen ist, gingen anschließend die Vorstellungen von Finanz- und Verteidigungsministerium ganz erheblich auseinander, wie die Oldenburger Zeitung am 12. Februar 2022 berichtete:
"Danach benötigt die Bundeswehr im Jahr 2023 statt der vom Finanzministerium bislang in der mittelfristigen Planung vorgesehenen 47,3 Milliarden Euro 53,7 Milliarden Euro. Dieses Delta wächst jährlich: 2024 werden statt 47,1 Milliarden Euro 55,4 gebraucht, 2025 57,2 statt 46,7 Milliarden. Und 2026 beträgt der Bedarf statt 46,7 stolze 59,1 Milliarden Euro. Der Fehlbetrag summiert sich insgesamt auf 37,6 Milliarden Euro. […] In einer ersten Reaktion hatte das Finanzministerium die Forderungen zurückgewiesen."
Noch Anfang Februar 2022 stand die Bundeswehr unter erheblichem Druck – schließlich ermahnte der Staatssekretär im Finanzressort, Werner Gatzer, das Verteidigungsministerium Anfang Februar 2022, es sei deutlich zu großzügig mit den sogenannten Verpflichtungsermächtigungen umgegangen worden. Was das hieß, erläuterte der Blog Augengeradeaus: "Mit den so genannten Verpflichtungsermächtigungen kann das Verteidigungsministerium Verträge für Rüstungsgüter abschließen, deren Kosten erst in den nächsten Jahren fällig werden. […] Die Forderung nach realistischer Planung enthält den dezenten Hinweis, dass das Wehrressort in den vergangenen Jahren, laienhaft gesprochen, ungedeckte Schecks auf die Zukunft erhalten hat."
Damit diese ungedeckten Schecks nicht platzen, nahm der Druck auf eine Erhöhung des Rüstungshaushaltes bereits vor dem russischen Angriff deutlich zu. Doch was nun angekündigt wurde, übersteigt alle Erwartungen bzw. Befürchtungen.
Nach Kriegsbeginn: Scholz öffnet die Geldschleuse
In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 kündigte Kanzler Olaf Scholz eine Reihe von Maßnahmen an, besonders drastisch sind die Aussagen zu den künftigen Militärausgaben, die die Einrichtung eines einmaligen "Sondervermögens" sowie dauerhaft deutlich höhere Militärausgaben betreffen.
Während die Bundeswehr selbst vorrechnete, zur Erreichung der NATO-Planziele würden ihr in den Jahren 2022 bis 2026 rund 38 Mrd. Euro fehlen, soll sie nun deutlich mehr als das erhalten: "Wir werden dafür ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten", kündigte Scholz in seiner Regierungserklärung an. "Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen."
Das Geld werde mit dem Bundeshaushalt 2022 bereitgestellt, der am 9. März 2022 vorgelegt werden soll. Dies schaffe die Möglichkeit, ab 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können, heißt es dazu in der FAZ. Die Dimension dieses Sondervermögens wird beispielsweise im Magazin Europäische Sicherheit und Technik erläutert: "Mit den beabsichtigten 100 Milliarden Euro verdoppelt der Bund seine Sondervermögen, zu denen unter anderem der Energie- und Klimafonds und die Rücklagen für die Flüchtlingshilfe gehören, verdoppeln."
Doch damit nicht genug: "Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren", so Scholz ebenfalls in seiner Regierungserklärung. Auch wenn die Nachrichtenlage hier nicht eindeutig ist, scheint es so, als kämen die damit einhergehenden deutlichen jährlichen Steigerungen des Militärhaushaltes noch "on top" auf die bereits ausgelobten 100 Mrd. Euro hinzu.
Laut Statista belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Jahr 2021 auf 3.570 Mrd. Euro, wäre für ihn bereits die Scholzsche Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Mrd. Euro auf mindestens 71,4 Mrd. Euro belaufen müssen. Unklar ist gegenwärtig auch, ob die Erhöhungen bereits 2022 oder – wahrscheinlicher – 2023 oder 2024 umgesetzt werden. Klar ist aber, dass mit einem sprunghaften Anstieg der Ausgaben zu rechnen sein wird, der sich durch eine Kopplung ans Bruttoinlandsprodukt bei fortgesetztem Wirtschaftswachstum auch verstetigen wird.
Wer von diesen Mehrausgaben profitieren wird, beschrieb die Welt:
"Während vor kurzem die Lobbyisten der Rüstungskonzerne noch alles unternahmen, um bei einer sich abzeichnenden Lücke im Wehretat mit ihrem Projekt zum Zuge zu kommen, scheint die Geldfrage jetzt gelöst. Von einem neuen Super-Verteidigungsetat profitieren nicht nur größere deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, Hensoldt, Diehl und Heckler & Koch oder europäische Hersteller wie Airbus und der Lenkwaffenkonzern MBDA. Milliardenbeträge werden auch an US-Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin und Boeing fließen."
Wie viel ist genug?
Mehr als fraglich ist, ob die Bundeswehr-Strukturen überhaupt "sinnvoll" derartige Gelder verarbeiten könnten, was durchaus auch von BefürworterInnen höherer Ausgaben bezweifelt wird. Zudem hat die Nato als Ganzes ihre Militärausgaben in den letzten Jahren bereits deutlich erhöht: sie stiegen nach Nato-Angaben von 895 Milliarden Dollar 2015 auf 1106 Milliarden im Jahr 2020 an. Demgegenüber sanken die russischen Ausgaben laut Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri von 85 Milliarden Dollar im Jahr 2015 auf 61,7 Milliarden im Jahr 2020.
Die Nato-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18-mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird. Im Gegenteil, diese Ausgaben und die mit ihr zusammenhänge Politik sind sicher auch ein Teil des Problems und nicht der Lösung.
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Seite Informationsstelle Militarisierung e.V.. Er wurde aktualisiert und ergänzt.
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