Soziale Folgen des "Social Distancing"
Für einige heißt Quarantäne auch häusliche Gewalt, Vereinsamung, Depression.
Weltweit sind etwa eine Milliarde Menschen gezwungen, zuhause zu bleiben, ein noch nie da gewesenes Sozialexperiment mit offenem Ausgang. Während einige hierzulande eine Art Feiertagsstimmung verspüren und versuchen, aus der Pandemiezeit klüger, kreativer oder wenigstens fitter herauszugehen, stellt das Social bzw. Physical Distancing andere vor schwere Probleme.
In China etwa soll die Quarantänezeit viele Beziehungen überstrapaziert haben. Als die Beschränkungen Anfang März in einigen Provinzen gelockert wurden, schoss die Scheidungsrate in die Höhe. "Viele Paare sind seit über einem Monat zu Hause miteinander verbunden, was die zugrunde liegenden Konflikte hervorrief", schreibt die Staatszeitung Global Times.
Ein Problem, das in China während der Quarantänezeit verschärft wurde und das sich auch hier abzeichnet, ist häusliche Gewalt. Wie BBC berichtet, soll laut der Pekinger Frauenrechtsorganisation "Weiping" die Zahl der Beschwerden von Opfern dreimal so hoch sein wie noch vor der Quarantäne. Betroffen sind viele Frauen, die aufgrund der Quarantäne und Reisebeschränkungen nicht zu Verwandten oder Bekannten können, um Unterschlupf suchen. Eine im letzten Jahr in The Lancet veröffentlichte Studie mit 2987 Frauen fand heraus, dass rund 40 Prozent von ihnen bereits physische Gewalt erfahren hatte.
Auch in Europa wächst die Sorge, dass die vielerorts eingesetzte Ausgangssperre zu einem Anstieg von häuslicher Gewalt führt. "Eines der Risiken der häuslichen Isolation ist ein Anstieg der häuslichen Gewalt", sagt Österreichs Frauenministerin Susanne Raab. "Es geht um physische und psychische Gewalt."
In Österreich wurde am Donnerstag ein Maßnahmenpaket vorgestellt, das vorsieht, "dass die Polizei den von häuslicher Gewalt Betroffenen gleich beim Erstkontakt Anträge zur Erlassung einer einstweiligen Verfügung gegen gewalttätige Partner aushändigen kann und die ausgefüllten Formulare einige Tage später bei Kontrollbesuchen mitnimmt", schreibt der Standard. Zusätzlich wird die 24-Stunden-Hotline "finanziell und personell aufgestockt und die Onlineberatung für von Gewalt bedrohte Frauen ausgebaut."
"Häusliche Gewalt ist immer ein sehr großes Problem. Jetzt während der Pandemie wird es drastischer, weil sich viele Familien in häusliche Isolation begeben", sagt Laura Kapp vom Netzwerk der brandenburgischen Frauenhäuser e.V. der RBB. "Wir machen uns große Sorgen, dass die Gewalt schlimmere Formen annehmen und schneller eskalieren wird und wir nicht mehr an die Betroffenen herankommen, weil es keine Kontaktpunkte zur Außenwelt mehr gibt." Auch persönliche Besuche von Sozialdiensten werden wegen der Angst vor der Verbreitung des COVID-19-Virus reduziert.
Die knapp über 350 Frauenhäuser in Deutschland sind chronisch unterfinanziert und überbelegt. Letztes Jahr wurde ein Förderprogramm mit gerade mal 30 Millionen Euro jährlich von 2020 bis 2023 aufgesetzt. "Damit soll gewährleistet werden, dass Aus- und Umbauten möglich sind, und auch die Sanierung von Frauenhäusern und Fachberatungsstellen soll so finanziert werden." Vor dem Hintergrund des Coronavirus wurde das Thema häusliche Gewalt von Ministerin Franziska Giffey noch nicht aufgegriffen.
Isolation Älterer
"Social Distancing" hat auch schwere Folgen für alte Menschen, insbesondere für diejenigen, die alleine leben. Im Jahr 2018 gab es in Deutschland ungefähr 17,33 Millionen Einpersonenhaushalte, die Hälfte davon mit Menschen älter als 55 Jahre. Besonders Pflegebedürftige durchleben schwere Zeiten, wenn es etwa heißt: Bewohner in Alten- und Pflegeheimen dürfen nur noch besucht werden, wenn sie im Sterben liegen. Über 3,4 Millionen Deutsche sind pflegebedürftig, rund 800.000 Senioren leben in Altenheimen. Bei diesen kann die Ausgangssperre und auch der Besuchsverbot schwere gesundheitliche Folgen hervorrufen.
"Eine soziale Isolation über einen längeren Zeitraum kann das Risiko einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen erhöhen", schreibt das Wissenschaftsmagazin Science. Dazu gehören Herzerkrankungen, Depressionen, Demenz und sogar Tod. "Eine 2015 durchgeführte Metaanalyse von Julianne Holt-Lunstad, einer Forschungspsychologin an der Brigham Young University, ergab, dass chronische soziale Isolation das Sterblichkeitsrisiko um 29% erhöht."
Laut Holt-Lunstad sind jedoch Menschen jeden Alters anfällig für die negativen Auswirkungen sozialer Isolation und Einsamkeit. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Nationalen Akademie der Wissenschaften (deren Mitautorin sie war) zeigt jedoch einige Gründe auf, warum ältere Menschen anfälliger sind, darunter der Verlust von Familie oder Freunden, chronische Krankheiten und sensorische Beeinträchtigungen wie Hörverlust, die dazu führen können, dass es schwieriger ist zu interagieren.
Einsamkeit Alleinerziehender
Besonders stark treffen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die rund 2,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland. Bundesweit hat jede fünfte Familie mit mindestens einem minderjährigen Kind eine alleinerziehende Mutter oder Vater. Sie können derzeit zur Betreuung ihrer Kinder nicht mehr auf Großeltern zurückgreifen, wenn bis Mitte April Kitas, Kindergärten und Schulen geschlossen sind. Die Krisenzeit verschärft, was ohnehin schon für viele galt: Erschöpfung und Stress.
Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der KKH Kaufmännische Krankenkasse stellte vor einigen Monaten fest: Fast jeder zweite Alleinerziehende steht ständig unter Druck. "Erschöpfung und Burnout stehen klar an erster Stelle: 79 Prozent der dauergestressten Eltern gaben an, unter Druck darunter zu leiden. 77 Prozent nannten Nervosität und Gereiztheit und 75 Prozent Müdigkeit oder Schlafstörungen als Folgen von Stress."
Als in Folge der Sars-Epidemie 2003/04 die psychologischen Auswirkungen der Quarantäne in Toronto untersucht wurden, fanden Wissenschaftler der Universität Toronto heraus, dass ein Drittel der Befragten Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und einer Depression zeigten. Vor allem als belastend empfanden es Betroffene, wenn wichtige Informationen und Benachrichtigungen zur Lage nicht zuverlässig und konsistent waren. Es sei wichtig, dass die Menschen gleichermaßen darüber informiert werden, "was wir wissen, was wir nicht wissen und wie wir versuchen, diese Lücke zu schließen", sagte einer der Macher der Studie kürzlich.
Viele Menschen wissen derzeit vor allem nicht, wie sie die Lücken schließen sollen, die das "Social Distancing", so notwendig es auch scheinen mag, realiter in ihren Alltag reißt. Bei aller Androhung von "harten Strafen" bei Zuwiderhandlungen gegen das Kontaktverbot, wo bleibt die Unterstützung für all diejenigen, denen dadurch immaterielle Kosten aufgebürdet werden?