Spaniens Regierung: Corona Fälle nur noch als Grippe überwachen

Etliche Läden und Kneipen in Donostia-San Sebastian sind wegen der vielen Covid-Fälle geschlossen. Bild: Ralf Streck

Sozialdemokraten kapitulieren vor der Omikron-Welle

Um das Weihnachtsgeschäft nicht zu stören und die Wirtschaft nicht zu belasten, hatte der sozialdemokratische Regierungschef Pedro Sánchez schon im Dezember auf einen waghalsigen Pragmatismus gesetzt. Seine Regierung hatte außer einer Maskenpflicht im Freien keinerlei Maßnahmen verordnet, obwohl die Omikron-Welle schon absehbar war.

Außer viel Unmut hat die absurde Maßnahme, die in verschiedenen Regionen noch durch eine ebenso unwirksame und zudem diskriminierende 2G-Regelung ergänzt wurde, wenig gebracht. Eine Explosion der Infektionszahlen wurde über die Feiertage zum Jahreswechsel damit natürlich nicht verhindert.

Wie Telepolis berichtete, hat die Omikron-Variante Spanien fest im Griff. Die Anzeichen, dass die Lage bereits völlig außer Kontrolle ist, häufen sich. Immer neue Rekorde mit Neuinfektionen werden ermittelt, am Montag wurden 292.000 neue Ansteckungen registriert. Am vergangenen Freitag waren es noch 242.000.

Real dürfte die Zahl am Montag noch deutlich höher gelegen haben, da gewöhnlich am Wochenende weniger Fälle gemeldet und viele nachgemeldet werden. Dass in einigen Regionen Positivraten von bis zu 90 Prozent ermittelt werden, weist auf enorme Dunkelziffern hin. Die Positivrate bei Tests sollte nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation nicht über fünf Prozent liegen.

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist im Landesdurchschnitt offiziell am Montag wieder auf 1.460 gesunken. Real ist das aber nicht. Das hat schlicht damit zu tun, dass am vergangenen Donnerstag der große Weihnachtsfeiertag war und an diesem Tag wie auch am folgenden Brückentag keine vernünftigen Daten ermittelt wurden. Dass die Infektionszahl von Freitag auf Montag erneut um etwa 15 Prozent gestiegen ist, weist auf eine stark nach unten verzerrte Inzidenz hin.

Angesichts der Entwicklung hat die spanische Regierung kapituliert. Pedro Sánchez gibt nun die Devise aus: "Wir müssen lernen, mit dem Coronavirus zu leben wie mit anderen Viren." Das sagte er vor der Führung seiner Sozialdemokraten (PSOE) am Freitag. Interessant ist, dass er genau den gleichen Satz schon im Juli 2020 gesagt hatte, dazwischen liegen aber weitere fünf tödliche Wellen.

Richtung Endemie

Am vergangenen Freitag verkündete der spanische Regierungschef, dass man sich an die "aktuellen Charakteristiken der Krankheit anpassen" müsse und nun besser dastehe als vor einem Jahr. Mit diesen Worten bereitete er die Partei auf einen Schwenk um 180 Grad vor. Offensichtlich wird auf Durchseuchung in der Hoffnung gesetzt, dass die relativ hohe Impfquote von 80 Prozent einen Kollaps im Gesundheitssystem verhindert.

Im Radiointerview am folgenden Montag stellte Sánchez fest, dass das Virus nicht mehr so tödlich sei wie vor einem Jahr: "Wir bewegen uns auf eine endemische Krankheit zu und nicht wie bisher auf eine Pandemie."

Damit bereitet er auch die größere Öffentlichkeit auf den neuen Kurs vor. Sekundiert wurde der Vorgang über die parteinahe und große Tageszeitung El País. Die berichtet, dass man in Spanien die Krankheit nun wie eine gewöhnliche "Grippe überwachen" wolle. Die Behörden sollen künftig nicht mehr jeden Fall registrieren, nicht einmal jede Person mit Symptomen soll zukünftig getestet werden.

Praktisch keine Nachverfolgung mehr möglich

Schon jetzt wird nicht einmal mehr im Umfeld von Infizierten getestet, um Infektionsketten durchbrechen zu können. Da hatte die Regierung längst kapituliert. Nach ihren neuen Plänen soll alsbald auch nicht mehr jeder Fall nachverfolgt werden. Auch das ist eher peinlich, da das in allen sechs Wellen ohnehin nur sehr unzureichend geschehen ist, weshalb es zu den dramatischen Verläufen kam.

Angesichts der Fallzahlen, die in die Hunderttausende gehen, ist Nachverfolgung praktisch nicht mehr möglich. Letztlich bedeuten die Pläne der Regierung nur, dass man sich mit der "neuen Strategie" an den Istzustand anpasst. Man gießt das in eine angebliche neue Strategie, was man längst tut. Das eigene Scheitern wird zur Strategie erklärt.

"Sentinelsystem"

Etabliert werden soll, wie für die Grippe, ein sogenanntes "Sentinelsystem". Nur noch ausgewählte Gesundheitszentren, Hausärzte und Krankenhäuser sollen Daten zur Ausbreitung des Coronavirus erheben. Diese Zahlen sollen anschließend hochgerechnet werden, werden damit also noch ungenauer als die ohnehin bisweilen merkwürdigen Zahlen, die das Gesundheitsministerium täglich veröffentlicht.

Die Einführung des Sentinelsystem soll schon im Sommer 2020 geplant gewesen sein. Das ist plausibel, schließlich hatte Sánchez schon damals die Devise ausgegeben, man müsse nun mit dem Virus leben lernen.

Wie die größte Tageszeitung El País jetzt nachlegt, zeigt sich das Gesundheitssystem sehr gespalten gegenüber dem Vorhaben. Die große Mehrzahl der Ärztevereinigungen kritisiert das Vorhaben. Es gäbe keine Gewissheit, dass die Omikron-Variante weniger dramatisch sei, führen sie an.

Bisher sei nur klar, dass mehr Menschen geimpft seien, weshalb die Zahl der Toten geringer sei. Eine Untersuchung des Gesundheitsministeriums hatte kürzlich festgestellt, dass ein ungeimpfter älterer Mensch eine 20-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit hat, an Covid zu sterben als ein Geimpfter.

"Nichts gelernt"

"Die Zahl der Todesopfer ist hoch und wird in den kommenden Wochen wahrscheinlich weiter ansteigen", meint Vicente Martín Sánchez, Führungsmitglied der Vereinigung der Hausärzte (Semergen). Es sind vor allem, aber nicht nur, Ungeimpfte, die wieder verstärkt die Intensivstationen bevölkern.

Tatsächlich hat das Sterben im größeren Stil wieder in Spanien begonnen. Am Freitag wurden 97 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid registriert, über das Wochenende waren es schon wieder 202 Fälle. Weitere Nachmeldungen werden erwartet. Die Kurve steigt auch bei der Belegung der Intensivstationen wieder steil an.

In Katalonien sind nun auch nach offiziellen Zahlen des spanischen Gesundheitsministeriums wieder 43 Prozent aller Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt, im Baskenland schon 36 Prozent. Am Freitag waren das 41 und 32 Prozent. Im Landesdurchschnitt sind es schon 24 Prozent.

Glauben muss man die Angaben des Ministeriums aber nicht. Nach dessen Angaben sollen auf Mallorca und den Balearen nur 26 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Fällen belegt sein. Die Ärztegewerkschaft der Balearen, Simebal, erklärt dagegen, es gäbe "kein einziges freies Intensivbett" mehr. Die Intensivstationen seien bereits "total kollabiert", so Simebal.

"Es scheint, wir haben aus den vorhergehenden Wellen nichts gelernt", zitiert die Zeitung Diario de Mallorca die Gewerkschaft. Befinden wir uns wieder in einer Situation wie zuletzt im Herbst 2020, als Experten darauf aufmerksam machten, dass Intensivstationen längst überlaufen seien, die nach offiziellen Zahlen lange noch nicht gefüllt waren?

Von der Politik im Stich gelassen

Nicht nur auf den Balearen beklagt man sich über fehlendes Personal und über eine nach sechs Wellen ausgebrannte Belegschaft. "Das System der medizinischen Grundversorgung kollabiert", erklärt zum Beispiel die Medizinerin Arantxa gegenüber Telepolis. Ihr vollständiger Name ist Telepolis bekannt, den will die baskische Ärztin aber aus Angst vor Repressalien nicht nennen.

Auch sie und ihre Kolleginnen und Kollegen im Baskenland fühlen sich von der "Politik im Stich gelassen", sagt Arantxa, die als Hausärztin in einem Gesundheitszentrum arbeitet. Freie Arztwahl gibt es in Spanien nicht. Sie will dem Aufruf der Gewerkschaften folgen und am 23. Januar gegen den "Kollaps des Gesundheitssystem" auf Straße gehen. "Wie wir diese Woche überstehen, ist mir unklar", sagt Arantxa. Denn auch hier werden so viele Infektionen wie nie zuvor registriert, etliche Beschäftigte befinden sich deshalb in Quarantäne wie Tausende Beschäftigte.

In diesem Fall sind sich die baskischen und spanischen Gewerkschaften einig, was eher selten der Fall ist. Gemeinsam kritisieren sie, dass man es mit strukturellen Problemen zu tun hat, die durch die Pandemie nur weiter verschärft wurden. "Seit Jahren kritisieren wir, dass die Lage in der Grundversorgung schlecht ist", erklärte schon im Dezember Pilar Mendia angesichts erster Proteste vor Gesundheitszentren und Hospitälern.

Die Sprecherin der Gewerkschaft für Ärzte und Krankenpfleger (Satse) verwies dabei auf das Jahr 2019: "Schon damals haben wir drei Tage gestreikt." Nun sei es nicht mehr zum Aushalten. Man sei "physisch, psychologisch und emotional an alle Grenzen gelangt", sagt Mendia. Dass die baskische Regierung im Oktober die befristeten Verträge von 4.000 Beschäftigten habe auslaufen lassen, erregt besondere Wut bei Arantxa.

Dass jetzt eine neue Protestwelle im Baskenland beginnt, hat weniger damit zu tun, dass die Lage im Gesundheitswesen hier besonders schlecht ist. Das baskische Gesundheitswesen zählt zu den Besten im spanischen Staat. Es hat einerseits damit zu tun, dass die Omikron-Welle im Norden schon besonders heftig zuschlägt und die Inzidenz mit 3.500 mehr als doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt ist. Zudem sind die baskischen Gewerkschaften, wie die Mehrheitsgewerkschaft ELA, sehr kämpferisch.

So finanziert ELA zum Beispiel einen Streik von Beschäftigten, der bereits seit mehr als 900 Tagen, also schon fast drei Jahre lang, für einen würdigen Tarifvertrag bei Novaltia kämpft. Nicht selten haben soziale Kämpfe, auch der für lebenswürdige Renten, ihren Ausgangspunkt im kämpferischen Baskenland und sie breiten sich dann über den gesamten spanischen Staat aus. Zur Unterstützung der Pensionisten gab es sogar einen Generalstreik.

Bekannt ist, dass schon seit Dezember die medizinische Grundversorgung in der Hauptstadt Madrid kollabiert, wie auch die größte Tageszeitung El País berichtete. Eine "Überfüllung" hatten die Gewerkschaften in einem von Privatisierung besonders betroffenen Gesundheitssystem festgestellt.

Fehlendes Personal für die Grundversorgung

"Faktisch ist das System der Grundversorgung schon kollabiert", erklärte Ende Dezember der Madrider Arzt Javier Padilla. "Zum Glück ist das in den Hospitälern, mit Ausnahme einiger Notaufnahmen, noch nicht der Fall", fügt Padilla an, der für die Partei "Más Madrid" (Mehr Madrid) im Regionalparlament sitzt.

Die rechte Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso machte die "Linke" für die Lage verantwortlich. Die Beschäftigten, die das Telefon nicht abnehmen oder einfach wieder auflegten, seien für die Lage in Gesundheitszentren verantwortlich, behauptete Ayuso und löste einen Entrüstungssturm aus. Zum 1. Januar hat sich die Lage zugespitzt, weil 65 Prozent der 11.200 Covid-Verträge für Ärzte und Pfleger, die ab März 2020 geschlossen worden waren, ausgelaufen sind.

Hospitäler im ganzen Land bereiten sich, derart noch schlechter aufgestellt als bisher, angesichts extremer Infektionsraten auf einen baldigen Ansturm vor. Die Ärztin Arantxa macht für die Lage die Führungslosigkeit der Regierung Sánchez verantwortlich. Um Aktivität zu zeigen, hatte der vor Weihnachten mit der Maskenpflicht im Freien "die Maßnahme verordnet, die am wenigsten bringt", meint die Ärztin.

Denn nach dem Gang durch ungefährliche Straßen saßen die Leute danach in gut gefüllten Bars, Restaurants oder Wohnungen, nahmen beim Essen und Trinken die Maske ab und infizierten sich. So erklärt sie sich die Explosion der Infektionen.

Steigende Infektionszahlen und das Prinzip Hoffnung

Denn mit den Feiern über Weihnachten und Neujahr sind die Neuinfektionen mit der Omikron-Variante explodiert. Das dicke Ende wird erst in den kommenden beiden Wochen erwartet. Denn der große Weihnachtsfeiertag mit vielen Zusammenkünften und Festlichkeiten fand in Spanien erst am 6. Januar statt.

Deshalb rechnen die Experten damit, dass der Peak längst noch nicht erreicht ist. Und etwa eine bis zwei Wochen nach diesen hohen Infektionsraten zeigt sich, wie stark der Ansturm auf die Hospitäler ist und ob das Gesundheitssystem kollabiert.

Die spanische Regierung setzt nun, wie oben ausgeführt, nur noch auf das Prinzip Hoffnung. "Augen zu und durch" scheint nun die Devise zu lauten. Dass Sánchez jetzt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, ebenfalls angekündigt hat, endlich die exorbitanten Preise für Selbsttests zu regulieren, halten Ärztinnen wie Arantxa auch für einen schlechten Witz.

"Wie immer viel zu spät", erklärt sie. Nicht einmal die Versorgung mit Tests war gesichert. Es war vor den Feierlichkeiten um Weihnachten und Neujahr praktisch unmöglich, einen Test in einer Apotheke kaufen zu können.

Nun gibt es sie wieder. Auch die Apotheke um die Ecke des Autors ist wieder versorgt. Der Preis wurde dort aber inzwischen von 3,90 Euro auf 4,90 angehoben. Damit liegt meine Apotheke aber noch am unteren Rand, denn meist oszilliert der Preis zwischen fünf und zehn Euro. Seit Wochen haben Supermärkte gefordert, wie in Frankreich oder Portugal, ebenfalls Selbsttests verkaufen zu dürfen.

In Frankreich wurde damit zum Jahresende 2021 begonnen und dort kosten die Tests oft keine zwei Euro. In Portugal werden die Tests seit Langem in Supermärkten für etwa zwei Euro verkauft. Doch billige Tests in Supermärkten lehnt Sánchez auch ab, denn er will der Apotheker-Lobby keine Konkurrenz machen.

Man darf gespannt sein, ob seine Wette aufgeht, dass die Omikron-Welle angesichts leichterer Verläufe und einer relativ hohen Impfquote den Kollaps landesweit und über die Primärversorgung hinaus verhindert.