Sprachprojekt Dreistadt

Als Tourist in digitalen Städten

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In deutschen Telefonverzeichnissen liegt Dreistadt zwischen Dreileben und Drense, aber finden kann man den Ort dennoch nicht. Eine digitale Stadt will sie sein, demnach zwischen Dortmund und Dresden gelegen, und so eröffnet die Web-Site mit Ortsschild und einigen Bildern, als ob es sich um einen mittelgroßen Marktflecken handele, der sein Marketing im Internet betreibt.1 Das Titelbild wirkt ganz so, als ob ein findiger Mitarbeiter der Stadtverwaltung ein paar Kurse für HTML besucht hätte und nun die heimischen Kunsthandwerker für den Verkauf ihrer Produkte im Netz interessieren wollte. Man kann sich als Besucher/in anmelden oder gleich im Ort niederlassen. Ersteres kann gelegentlich technisch schwierig sein, funktioniert aber dennoch. Wenn es nicht klappt, geben die freundlichen Betreiber der Website sehr schnell ein passendes Passwort aus - und auf geht es nach Dreistadt.

Die erste Überraschung jenseits der werbenden Aufmacherseite kommt sofort: Der Bildschirm ist senkrecht in zwei Hälften geteilt, links die telnet-Protokolle der laufenden Texteingaben, rechts ein wenig ASCII-Graphik und unten noch ein weiterer Textbalken. Alles sieht aus wie zu den Zeiten der allerersten MUDs (Multiple User Dugeons - um 1991/93 die ersten Spiele im Internet, bei denen man sich die eigene Identität durch verbale Beschreibungen gab). Ein Klick auf den passenden Schalter schließt die linke Bildhälfte, und nun steht der virtuelle Marktplatz von Dreistadt richtig breit auf dem Bildschirm. Gestrichelt sind Straßen und Häuser, eben aus den Zeichen des uralten Grundbaukastens der Typografen im Internet zusammen gesetzt.

Wer schon länger Email-Verkehr pflegt, kennt derlei Zeichnungen noch aus den Signaturen, mit denen sich vor allem die Systemoperatoren im universitären Bereich eine letzte Spielwiese der Kreativität erhielten - das geht zwar langsam vorbei und erzeugt wie in Dreistadt bereits Nostalgie, doch selbst unter neuesten Internet-Programmiersprachen gibt es noch Software zum Erstellen dieser Art Graphik. Für diejenigen, die sich lieber erst einlesen möchten in das Dreistädter Leben, gibt es eine hervorragende, aber leicht versteckte Einführung mit allen Details und Tastaturbefehlen.

Der simplen Graphik zum Trotz kann man sich mit Roll-Over auf dem Marktplatz bewegen und die einzelnen Gebäude anklicken. Geradeaus geht es ins Wohnviertel, mit Straßennamen aus der deutschen Literatur, mit den Villen und Häusern der Bewohner/innen von Dreistadt - auf die kommen wir noch zurück. Hinten links der Bahnhof, wie in einer deutschen Kleinstadt ist der gerade dann, wenn man vorbei kommt, außer Betrieb. Im Bahnhof geht es zum Reisebüro, das aber trotz eines liebevoll dargestellten alten Telefons auch keine Verbindung zur Außenwelt herstellt. Verlassen wir also - in diesem Duktus sind alle Aufforderungen des Web-Angebots verfasst, was ein wenig an deutsche Krankenhäuser erinnert - gemeinsam "mit großen Menschenströmen" (Zitat des eingespielten Textes) den Bahnhof und gehen in Richtung Wohngebiet, dort gibt es einer deutschen Kleinstadt gemäß ein Café, ein Gasthaus und eine Pommesbude.

Das Café Dreisam neben dem Bahnhof zeigt sich mit einer Kaffeetasse und sollte wohl einst als Aufenthaltsraum für fleißige BewohnerInnen samt BesucherInnen dienen. Jetzt besteht es nur aus einigen müden Links auf andere Netzangebote und auf die Homepage der Firma Sacher in Wien. Die Gaststätte hat den Charme eines Bahnhofsbetriebs der alten Art und glücklicherweise nicht die geschniegelte Eleganz der bahneigenen Wellness-Centers mit Travel Shop Coffee House Special Offerings, oder so ähnlich. Gedacht ist diese Gaststätte als Chatroom der BewohnerInnen und ihrer Gäste; bei meinen Besuchen dort war nicht übermäßig viel los - ich bin aber auch keine geübte Chatterbox. Wahrscheinlich bin ich auch nur zur falschen Zeit gekommen, wie die meisten BahnfahrerInnen. Die Pommesbude ist ebenfalls durch eine Fotographie repräsentiert. Bei meinen Besuchen war der Besitzer Willy, wie als "meistens" angekündigt, nicht einsatzbereit und schlief oder las den 'Kicker', auf dessen Site der einzige Link des Angebots führt.

Rechts von Bahnhof, Café und Wohnviertel liegt das Kaufparadies. Im dreistädtischen Kaufparadies sind es vier Angebote, die vermittelt werden: Buchhandlung, Plattenladen, Spielwarengeschäft und Modeshop locken. Sie präsentieren je ein oder zwei Links zu Angeboten im Internet, nicht ganz der große Hammer, aber nett - da gibt es sicher noch ein gutes Sponsoren-Potential, das die BetreiberInnen der Site nicht ausgenutzt haben. Hinter dem Kaufparadies liegt ein Industriepark, der den Dreistadt-BesucherInnen das Gefühl eines echten deutschen Außenbezirks vermittelt: Eine riesige Werbetafel mit Investorennamen und toller Ankündigung samt voraussichtlicher Fertigstellung - und dieses Datum ist schon mehr als zwei Jahre verstrichen.

Also nichts wie zurück auf den Dorfplatz und nach rechts ins Medienhaus. Hier muss sie doch sein, die Glitzerwelt des Internet und seiner Vorbilder in Film, Funk und Fernsehen. Die FFFs sind tatsächlich vertreten, aber auch nur schwach und allzu öffentlich-rechtlich: Unterm Schalter Fernsehen ist erst einmal gar nichts zu finden, im Radiocenter dödeln die Deutsche Welle und einige kleinere Anstalten vor sich hin, wobei die einzige Privatwelle genau dieselbe ist, die auch im Kaufparadies Platten feilhält. Schon okay, aber bisschen wenig. Einzig das TV-Studio führt eine Reihe weiterführender Schalter, aber nicht etwa zu großen Model-Casting-Agenturen, wie man annehmen könnte, sondern ganz brav zu den Nachrichtenangeboten der großen und kleinen deutschen Fernsehsender. Dafür muss man nicht ins Medienhaus gehen. Der Besuch hat sich dennoch gelohnt, denn irgendwo zwischendurch, so etwa unter der Erdgeschosstreppe, wo sonst Fahrräder abgestellt werden, ist eine Grafik zu finden, die die ganze Homepage von Dreistadt erklärt.

Bleibt vom Dorfplatz noch die Universität, gleich vorn links vom Idealstandort der BesucherInnen. Die nun ist richtig ausgebaut und erschließt eine große Zahl weiterer Links. Beim einfachen Klick auf das Hauptgebäude wird man in ein Foyer geführt, von dem aus es zu diversen Seminarräumen, zur Bibliothek und zu Büros geht; außerdem gibt es ein Schwarzes Brett und Kursräume für das Fernstudium. Die Seminarräume 1 und 2 sind von der gleichen Schlichtheit im Design wie ihre Vorbilder an deutschen Universitäten - entweder sitzt man dort in Einbauschränken (das sind die neuen Hochschulen) oder auf Sperrmüll vergangener Jahrzehnte (an den ehrwürdigen Instituten in Bonn, Münster, München, Marburg undsoweiter). Hier macht die ASCII-Graphik noch Sinn: Es ist so gemütlich wie überall. Studium muss schließlich anstrengend sein und Rückenschmerzen verursachen - alles Andere ist die von der Industrie so gescholtene Kuschelpädagogik, oder?

Es ist nicht das geringste Verdienst, dass Dreistadt derlei Assoziationen weckt und ihnen freien Raum lässt, sogar zu ihrer Äußerung auffordert. Doch zunächst hat die Universität einen wichtigen Sinn, und der offenbart sich in den Seminar- und Kursräumen sehr deutlich: Die ganze Dreistadt ist ein Projekt des Germanistischen Seminars der Universität von Bergen in Norwegen. Insofern markiert sie einen durchaus gelungenen Versuch auf dem Weg zur virtuellen Universität: In jedem Raum hängen Kursverzeichnisse mit exakten Daten und Materialien, mit kurzen Briefen der TeilnehmerInnen untereinander oder vom jeweiligen Dozenten, mit zahlreichen Links auf spezielle Themen oder grundlegende Beiträge im Internet. Und hier macht das Klicken wirklich Freude. Die Schwarzen Bretter dienen den Newsgroups zu einzelnen Seminaren, und immer ist schnell die Bibliothek erreichbar, die die üblichen Rechercheinstrumente des Internets bereit hält, vom Karlsruher Virtuellen Katalog über die Deutsche Bibliothek zu den oft unglaublichen Linksammlungen mancher Dozenten rund um die Welt. Studierende aller Art sollten also ein Haus im Wohnviertel beziehen, dessen Straßen und Plätze nach deutschen Schriftstellern benannt sind, und sich in Ruhe ihren Studien widmen.

Carsten Jopp und Daniel Jung, die heutigen Betreiber des Unternehmens, berufen sich für die Gründung von Dreistadt erst einmal auf die abstrakten Zusammenhänge eines städtischen Denkens - vom Klischee des "deutschen Mittelalterstädtchens" bis zur Vernetzung des Denkens und Lernens. Dem Projekt Dreistadt sind wohl noch andere Sprachprojekte zugeordnet; das französische Institut ist eine Mühle, spanisch kann man auf imaginären Inseln lernen und Venedig ist der Ort des Italienischen. Zunächst waren alle Angebote textbasiert - daher die Grafik - und bauten auf Spielprogrammierungen im telnet-Programm der frühen 1990er Jahre auf. Solche Versuche waren damals an sprach- und literaturwissenschaftlichen Seminaren aller Orten zu finden, und in Bergen hieß das entsprechende Forschungs- wie Lehrprogramm CALLMOO (Computer Assisted Language Learning on Multiple user dungeon Object Oriented) - wer das Akronym laut ausspricht, kann an die holsteinischen Schwarzbunten denken, mit denen die deutsche Sprache in Nordeuropa gern assoziiert wird. Das Programm selbst wird an mehreren Stellen des Web-Angebots mit viel Text und einigen Graphiken erläutert. Einer ernsthaften Beschäftigung mit dem Übergang von Technik zur Didaktik steht hier nichts im Weg; ein großes Verdienst der ganzen Site.

Spielartige Umgebungen zum Sprachenlernen sind ein altes Konzept, und im neuen digitalen Gewand machen sie sicher viel Sinn. Der erste Bergener Projektleiter Espen Aarseth hatte die gleiche Beobachtung gemacht wie viele andere MUD-Spieler/innen: Fremdsprachige Teilnehmer/innen waren binnen kürzester Zeit auf ein kleines, aber sehr effektives Vokabular eingeübt, das ihnen für lange Zeit ein komfortables Mitspielen ermöglichte. Diesen Effekt für den allgemeinen Spracherwerb einzusetzen, war die konsequente Weiterführung der Beobachtung. Soweit ist die Gründung von Dreistadt eine ambitionierte Version eines älteren Programms für den fremdsprachigen Unterricht, die nur - aus welchen Gründen auch immer - nicht zu Ende geführt worden ist.

Wer von den deutschen Leser/innen allerdings jetzt "Schade!" ausrufen möchte, sei an die PISA-Studie erinnert: Hierzulande gibt es nicht einen Versuch dieser Art. Weder hat der DAAD ein virtuelles Schwäbisch-Hall noch denkt das Goethe-Institut über ein digitales Weimar nach; gute Lernangebote im Internet für die deutsche Sprache sind eher in Norwegen oder Japan zu Hause als im eigenen Land. Ob das mit der Ausländerpolitik dieses Landes zusammenhängt?