Stehpult macht schlank

Stehpult. Foto: TP

Theoretisch könnte eine 65 Kilogramm schwere Person in vier Jahren zehn Kilogramm abnehmen, wenn sie jeden Tag sechs Stunden, die sie sonst sitzt, stehend verbringt

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Unter Führung des an der Mayo Clinic in Rochester forschenden Kardiologen Francisco Lopez-Jimenez hat sich ein Wissenschaftlerteam die Ergebnisse 46 Studien zur Kalorienverbrennung im Stehen und im Sitzen ausgewertet. In den nun im European Journal of Preventive Cardiology veröffentlichten Ergebnissen ihrer Metastudie rechnen sie vor, dass ein menschlicher Körper im Stehen durchschnittlich 0,15 Kalorien pro Minute mehr verbrennt als im Sitzen. Theoretisch könnte eine 65 Kilogramm schwere Person mit diesem Wissen in vier Jahren zehn Kilogramm abnehmen, wenn sie jeden Tag sechs Stunden, die sie sonst sitzt, stehend verbringt.

Theoretisch ist diese Annahme deshalb, weil die Rechnung nur dann gilt, wenn er die zusätzlich verbrannten Kalorien nicht über einen durch das Stehen kräftiger gewordenen Appetit kompensiert. Wie sich das Stehen auf den Appetit auswirkt, haben die Wissenschaftler aber ebenso wenig untersucht wie eventuelle Auswirkungen auf andere biochemische Vorgänge im Körper, wie sie selbst freimütig einräumen.

In anderen Studien hat man dafür ermittelt, dass nicht nur dauerndes Sitzen, sondern auch dauerndes unbewegtes Stehen Schäden am Bewegungsapparat verursachen oder begünstigen kann, wie unter anderem Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule in Köln anmerkt. Optimal wären demnach Abwechslungsmöglichkeiten, wie sie zum Beispiel höherverstellbare Schreibtische bieten (vgl. Sitzen kann tödlich sein).

"Gravitostat"

Eine Studie mit Gewichten legte im letzten Jahr nahe, dass der Appetit im Stehen nicht unbedingt steigen muss: Bei Ratten und Mäusen ließ sich sogar eine verringerte Nahrungsaufnahme und ein Körperfettverlust beobachten, der nicht auf einen höheren Energieumsatz zurückgeführt werden konnte. Da der Effekt bei Tieren mit ausgeschalteten Osteozyten nicht auftrat, wird angenommen, dass diese Knochenzellen durch die Belastung der Knochen Informationen zur Regulierung des Körpergewichts erhalten und weitergeben. Ein angenommener und vom Proteohormon Leptin unabhängiger Homöostat, dem die Forscher den Namen "Gravitostat" gaben.

Neben Vorteilen für das Gewicht und andere Gesundheitsfaktoren (vgl. Langes Sitzen ist ungesünder als viel Trinken) scheint Stehen auch Vorteile für die geistige Beweglichkeit zu bringen, wie eine 2015 in Social Psychological and Personality Science veröffentlichte Studie der an der Washington University in St. Louis tätigen Sozialpsychologen Andrew Knight und Markus Baer suggeriert.

Sie ließen 200 Probanden in drei- bis fünfköpfigen Teams Werbevideos entwickeln. Eine Hälfte der Gruppen musste das in einem Konferenzraum mit Stühlen machen, die andere Hälfte im gleichen Konferenzraum, aber unbestuhlt. Die Probanden aus diesen Gruppen waren Knight und Baer nach wacher, aufmerksamer und offener für die Ideen der anderen Teammitglieder. Als die beiden Sozialpsychologen die fertigen Werbevideos durch eine Expertenjury bewerten ließen, erkannte diese jedoch keine signifikanten Qualitätsunterschiede zwischen den Werken der Sitzer- und der Stehergruppen.

Warum die Stenotypistin nicht nur dem Chef fehlt

Ein Blick in die Geschichte liefert Anhaltspunkte dafür, dass Menschen eine gewisse Abwechslung oder sogar etwas Bewegung wählen (vgl. Brauchen Schreibtischarbeiter höhenverstellbare Tische oder solche mit Laufband?), wenn sie ohne technische und kulturelle Einschränkungen die freie Wahl haben, in welcher Körperposition sie geistig tätig werden:

Nicht nur die griechischen Peripatetiker philosophierten im Gehen (vgl. Vom homo sedens und anderen Mißbildungen), auch Schriftsteller und Chefs wanderten häufig im Zimmer auf und ab, während sie ihren Stenotypistinnen diktierten. Und Reporter erzählen, dass sie ihre Arbeit in den 1980er Jahren, als sie den größten Teil des Tages unterwegs auf Recherche waren, bevor sie ihre Texte in einen der damals noch im Schichtbetrieb genutzten teuren Computer tippten, als weitaus weniger belastend empfanden als heute.

Die Bewegung, nach der Körper verlangt, bekommt er im Zeitalter der Internet- und Telefonrecherche nicht mehr während der Arbeit, sondern (wenn überhaupt) danach: In Fitnesstudios, beim Joggen oder bei der Gymnastik im Wohnzimmer. Insofern kann die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch Informations- und Kommunikationstechnologie auch als heimliche Verlängerung der Arbeitszeit, als Ausdehnung des Arbeitstages in die Freizeit verstanden werden (vgl. Sitzen macht krank).