Vom homo sedens und anderen Mißbildungen
Der Körper im Informationszeitalter
Irgendwie scheint es mit uns und unserem Körper bergab zu gehen. Computer sind, bei aller virtuellen Mobilität, offenbar die letzte Stufe der seßhaften Kultur, an die sich die Menschen mit ihrem biologischen Körper noch nicht recht anpassen können. Aber vielleicht fördern die zahlreichen Störungen gerade das technische Projekt des Posthumanismus und sind die Cyborgs unsere Zukunft?
Aufmerksamkeit, das ist der eherne Grundsatz der Informationsgesellschaft, in der die Meme nach geeigneten Wirtsgehirnen suchen, findet nur das, was abweicht, was bedroht oder irgendwie sonst die Gefühle anspricht. So entstehen Nachrichten und wissenschaftliche Karrieren. Permanent muß geforscht und veröffentlicht werden. Also werden auch mögliche Veränderungen der Menschen untersucht. Und da bin ich in letzter Zeit auf einige Berichte gestoßen, die auf die lange prophezeiten Veränderungen durch den Einfluß von Medienumwelten hinweisen.
Bei allen VR-Hometrainern und kompensatorischen Körperbetätigungen ist die Hauptaktivität der Angehörigen der Informations- und Mediengesellschaft Sitzen, starr nach vorne Schauen, Lesen, Tippen, die Maus Herumschieben und, wenn es gut geht, Hören und Sprechen, wenn auch eben nicht mit ihren Nächsten. Bis zur Jahrtausendwende werden in Deutschland, so sagt man, Zweidrittel aller Berufstätigen an einem Bildschirmarbeitsplatz ihrer Tätigkeit nachgehen. Wenn dieser Text in einer Zeitung stände, so könnten Sie ihn unter Umständen noch oder schon wieder im Bett, an einer Bartheke oder gegen eine Wand lehnend lesen, aber auf dem Computerbildschirm wird man dies mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit sitzend machen.
Jeder kennt vermutlich das berühmte Männchen, das proportional zeigt, wieviel Platz die verschiedenen motorischen Tätigkeiten im Gehirn einnehmen. Es erinnert ein wenig an das Kindchenschema - vor allem Kopf mit einem Riesenmund, was auf eine mächtige Oralität, also Konsum, verweist. Jedenfalls hat dieses Männchen einen verkümmerten, fast nicht existenten Körper und eben solche Beine. Genau auf Hand und Kopf scheint uns die Informationsgesellschaft zu reduzieren, als folge sie einem neurobiologischen Imperativ, gerade das zu verstärken, was sowieso schon dominant ist - und was manche neue Geistanbeter im digitalen Gewand mit ihrer Verachtung der Meatware anstreben.
Kürzlich habe ich eine der üblichen Titelüberschriften in einer Boulevardzeitung gelesen, die Schlimmes für uns Bildschirmvor- oder Bildschirmbeisitzern verspricht: Computerarbeit macht impotent! Das würde dann indirekt, wie jeder rudimentär in Evolutionstheorie Gebildete gleich schließen würde, eine Selektion bewirken, die Computeranalphabeten begünstigt, weil die einfach mehr Nachkommen erzeugen. Vor dem Bildschirm hat man schließlich anderes zu tun, jedenfalls saubereres, beispielsweise einmal kurz bei Bild online reingucken und einem virtuellen Striptease zuschauen. Lust schon, aber keinen reproduktionstüchtigen, schließlich will man ja nicht in seinen Kindern weiterleben, sondern selbst mit seinem eigenen Fleisch und Blut oder, wenn es mit der Kryonik, irgendwelchen Wundermitteln oder Gentechnik nicht klappt, dann halt als Upload auf einer Festplatte in einem wunderschön gestylten und dauerhaften Roboter, einem Mind Child, wie das Hans Moravec so treffend sagt.
Aber das mit der zurückgehenden Zeugungsfähigkeit beschäftigt uns sowieso seit einiger Zeit. Seitdem wir nicht mehr an der frischen Luft oder mit körperlichem Einsatz arbeiten, uns dafür aber hochdopen und mit Fast Food ernähren, weil wir trotzdem keine Zeit haben, schwindet männlicherseits die Kraft unserer Spermien dahin. Richtige Waschlappen sind das geworden, wenn wir den Wissenschaftlern (und dem Stern vom 16.1.97 "Angriff auf die Männlichkeit") glauben sollen. So neigt sich der prophezeite "Kampf der Kulturen" zuungunsten von uns westlichen Menschen, die wir doch viele Jahrhunderte die mitunter doch recht zeugungskräftige Avantgarde der Menschheit waren. Jetzt werden wir älter und immer weniger, schwinden Wohlstand und Arbeit mit der Zeugungskraft dahin. Wir nähern uns rapide dem Fruchtbarkeitsgrenzwert, während die Tumorerkrankungen an Geschlechtsorganen zunehmen. Gott sei Dank haben wir wenigsten noch die Technik, den virtuellen Sex und die Globalisierung, denn eigentlich ist der jämmerliche Zustand unserer Samen offenbar weniger eine Folge der Zeit, die wir in künstlichen Welten verbringen, als unserer zivilisatorischen Ausscheidungen in die Umwelt, in der wir noch immer mit unserem Körper leben müssen, solange wir weder in den Cyberspace noch in den Weltraum entwischen können. Allerdings wurden von der Psychoneuroimmunologie noch nicht die Folgen einer dauerhaften Aussetzung an Medienwelten untersucht.
Mit dem Gefäß auf einer Unterlage ruhen
Aber ich wollte vom Sitzen und nicht vom Zeugen sprechen. In Deutschland gibt es einen Experten für die Kultur- oder, besser gesagt, die Verfallsgeschichte des Sitzens und des damit verbundenen Geräts. Alles hat nämlich mit der Erfindung des Stuhls angefangen, ohne den es keinen Tisch gäbe und wir auch nicht solange Zeit vor dem Computer sitzen könnten. Sitzen, "bei dem der Sitzende mit dem Gesäß auf einer Unterlage ruht", hat nach Hajo Eickhof zwei Formen: fernöstliche Konzentration und Weltabgewandtheit sowie das Sitzen auf Stühlen, beides Formen der körperlichen Disziplin, sich innerlich zu beruhigen und den Kult, die Kultur der Seßhaftigkeit zu feiern. Heute ist es uns oft ein bißchen langweilig, weil wir - wenn es nicht wieder einmal handgreiflich wird - keine lauernden Jäger und sich duckenden Opfer mehr sind, aber dennoch überall die Höhle als Aufenthaltsort bevorzugen, weswegen vor uns einfach ein bißchen passieren soll, nachdem ja auch die Vorstellungskraft - das innere Kino - an Auszehrung leidet: Incipit Monitor.
Der Stuhl ist ein Sedativum und die Sedativierung des Sitzens bezeichnet einen Prozeß zunehmender Kontrolle des Vegetativen und der Beruhigung, der gerade nicht zu innerer Ruhe führt, sondern eine Unruhe anderer Art hervortreibt, nämlich Nervosität, Melancholie, Unrast und Ressentiment. Diese Unruhe anderer Art infolge des Sitzens bringen Worte wie Entsetzen, aufsässig, Besessenheit oder Versessensein zum Ausdruck.
Hajo Eickhoff
Laufen soll man beim Denken, sagte Nietzsche, weil man sonst an mentaler Verstopfung leide. Auch die Peripatetiker um Aristoteles haben es uns vorgelebt. Aber das ist längst vergangen, und mit den drahtlosen Brillen für den Eintritt in den Cyberspace ist es noch nichts, vor allem, wenn wir nicht an den nächsten Stuhl stoßen wollen, wenn wir ihn vor lauter Virtualität nicht mehr sehen können. Vor dem Stuhl aber kam der Thron, der Sitzplatz des Herrschers. Das Sitzen war zugleich der Preis der Macht, die sich nach und nach und vollends mit der Demokratisierung auf alle Bevölkerungsschichten ausgedehnt und den Souverän damit entwertet hat. Jetzt sind wir alle Könige, Herrscher des Cyberspace, Angehörige der neuen Gattung homo sedens.
Schwerarbeit Sitzen
Sitzen hat mit Sedieren zu tun. Berauscht oder vergeistigt läuft man nicht umher. Seit dem 15. Jahrhundert hat sich die Demokratisierung des Stuhlsitzens als Dauerstellung allmählich durchgesetzt, überall - sogar wenn wir uns fortbewegen - Stühle eingeführt und uns eine neue Pathologie beschert. Sitzen, so der Stuhlkulturgeschichtsschreiber, ist "Schwerarbeit", schädigt den Organismus, zwingt ihn in eine rechtwinkelige Haltung und umgeht den normalen Wechsel von Belastung und Entspannung der Skelettmuskeln. Rückenschmerzen, Verspannungen im Nacken und Bandscheibenvorfälle sind die bekannten Folgen. Nach Angaben der Berufsgenossenschaft kosten allein Rückenleiden die Arbeitgeber jedes Jahr um die 20 Milliarden DM. Die EU-Bildschirmrichtlinie hat deswegen detailliert festgelegt, wie ein gesunder Arbeitsplatz auszusehen habe. Wie das die Menschen Zuhause machen, ist damit allerdings nicht geregelt.
Auch die Finger und Hände leiden, weswegen man sie auch sedieren und den Übergang zur verbalen Steuerung oder zu anderen körperentlastenden Mensch-Maschine-Schnittstellen beschleunigen sollte. Bislang kannte man die Krankheit Repetitive Strain Injury, eine von Schmerzen begleitete Verletzung der Muskulatur durch die immer gleichen Bewegungen von Händen und Fingern über die Tastatur. Wer mehr als 10 Jahre ein Viertel seines Arbeitstages vor dem Computer verbringt, muß damit rechnen.
Aber jetzt gibt es etwas Neues, und Bild vom 15.1.1997 macht das, wie immer, eindrucksvoll in der Staccatosprache der Fast-Analphabeten der von Focus so genannten Info-Elite klar: "Karpal-Tunnel-Syndrom - die neue Krankheit bei Computerarbeit. Der Schmerz kommt nachts: Plötzlich brennen die Hände wie Feuer. Daumen, Zeige- und Mittelfinder sind gelähmt. Die neue Krankheit der Hände, verursacht durch stundenlanges Tippen auf der Computertastatur. Schon über 8 Millionen Deutsche haben das Leiden. ... So entsteht das Leiden: Eintöniges Tippen reizt die Sehnenscheiden am Handgelenk, sie schwellen an. der wichtige Medianus-Nerv wird eingequetscht, die Hand wird taub, schmerzt." Ganz so neu ist das oder auch die "Mausschulter" freilich nicht, wie Bild uns das suggerieren möchte.
Niemand weiß so recht, ob es so etwas wie eine elektrische Hypersensitivität und das entsprechende Leiden des elektromagnetischen Empfindlichkeitssyndroms" (ES) gibt, auch wenn man dafür einen Namen hat. Der typische westliche Mensch befindet sich in nahezu ununterbrochener Interaktion mit dem elektromagnetischen Spektrum etwa von technisch erzeugten Radiowellen. Elektromagnetische Felder werden durch Stromflüsse erzeugte und könnten beispielsweise Auswirkungen auf die zerebralen Vorgänge besitzen. Auch Computer erzeugen solche Felder. Symptome wurden angeblich reichlich beobachtet: Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Schwäche, Müdigkeit, Muskelschmerzen, Atemschwierigkeiten, unregelmäßiger Herzschlag, Verwirrung, Depression, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlaf- und Gedächtnisstörungen, um nur ein paar zu nennen. In der strahlenden Zukunft des sauberen elektrischen und elektronischen Zeitalters siechen die Körper möglicherweise dahin und spielen nicht mehr mit.
Und auch die Augen sind bekanntlich nicht imstande, sich der Bildschirmwelt auf Dauer anzupassen. Kopf- und Augenschmerzen entstehen, die Sehkraft wird durchs Starren auf den Bildschirm geschwächt, die optomotorischen Muskeln erlahmen durch häufigen Blickwechsel zwischen Monitor, Tastatur und Vorlage - bis 30.000 Blickwechsel pro Arbeitstag, Freizeit nicht eingerechnet. Flimmernde und strahlende Monitore leisten einen zusätzlichen Beitrag zur Behinderung der Menschen. An Computer Eyestrain sollen bereits 60 Millionen Menschen in den USA leiden.
Augen sind, wenn es um Bildschirmwelten geht, auch die erste Vorhut der Aufmerksamkeit und möglicherweise noch mehr durch ihre optomotorischen Einseitigkeiten im Medienkonsum als während der Arbeit beansprucht, wie der Neurobiologe Burkhart Fischer meint:
In unserer Gesellschaft sehe ich hier ein ganz großes Problem oder eine große Herausforderung. Die Reizüberflutung hat so heftig zugenommen, daß unser Aufmerksamkeitssystem pausenlos damit überfordert ist, das herauszufischen, was wichtig ist. Der Blick beispielsweise ist bei den Menschen normalerweise immer dorthin gerichtet, wohin das Aufmerksamkeitssystem auch gerade hinzeigt. Das optomotorische System, das diese Koordination bewerkstelligt, entwickelt sich bis zum zwanzigsten Lebensjahr. Jetzt kann man überlegen, was die Kinder bis dahin schon alles machen, mit welchen Aufgaben ihr Gehirn konfrontiert war oder ist. Durch Schule, Film, Fernsehen, Musik und Computerspiele ist ihr Aufmerksamkeitssystem über lange Zeitspannen hinweg vollkommen überfordert.
Die von Fischer diagnostizierte Folge ist der Anstieg der Leseschwäche. Die Zahl der sekundären Analphabeten, die Lesen wieder verlernt haben, sei in Deutschland bereits auf 4 Millionen Menschen gewachsen. Sprach- und Lesestörungen nehmen rapide zu. "Funktionelle Analphabeten" haben derart begrenzte Sprachfähigkeiten, daß sie schon mit einem Telefonbuch oder einem Stadtplan kaum zurechtkommen - wie gut, daß sich das bald alles interaktiv und mit Bildchen machen läßt. Selbst das Sprechen und Hören, immerhin die nach Anthropologen erste und wichtigste Kulturleistung bei der Bildung des homo sapiens, macht immer mehr Schwierigkeiten. Vor 10 Jahren seien erst 5% der Kinder "sprachentwicklungsgestört" gewesen, während es jetzt bereits ein Viertel aller Kinder im Alter zwischen 4 und 6 Jahren in Deutschland sei. Neben "Problemen im soziokulturellen Umfeld" führt das Patrick Zorowka von der Mainzer Klinik für Komunikationsstörungen (Focus 42/96) auf den "zunehmend bestimmenden Einfluß der elektronischen Medien" mit ihrer Einwegkommunikation trotz Interaktivität zurück: "Im Umgang mit neuen elektronischen Medien sind die meisten Schüler perfekt. Sie sind aber zunehmend unfähig, sich im Unterricht mündlich auszudrücken."
Angriff auf die Aufmerksamkeit
Derartige sensomotorische und kognitive Störungen schlagen sich in Lernstörungen nieder, die den weiteren Fortschritt der auf Wissen basierten Informationsgesellschaft beeinträchtigen könnte. Vier Millionen Schulkinder sollen in den USA lerngestört sein und 20 % haben Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit, dem zentralen Organ, das die Medien attackieren.
Stellen Sie sich vor", so kann man bei dem National Institute of Mental Health lesen, "daß Sie sich in einem schnell bewegenden Kaleidoskop befinden, in dem Bilder, Töne und Gedanken sich dauernd verändern. Sie empfinden schnell Langeweile, aber können sich nicht auf Aufgaben konzentrieren, die Sie bearbeiten sollen. Abgelenkt von unwichtigen Bildern und Tönen schwimmen Sie von einem Gedanken zum nächsten. Vielleicht sind Sie derart von einer Collage an Gedanken und Bildern eingehüllt, daß Sie gar nicht bemerken, wenn jemand zu Ihnen spricht. Für viele Menschen ist das so, wenn sie unter der Attention Deficit Hyperactivity Disorder oder ADHD leiden.
Dann schlägt die Seßhaftigkeit mitunter in ihr Gegenteil um: Die Menschen können nicht mehr ruhig sitzen, wahrnehmen, was um sie herum vor sich geht, oder Arbeiten ausführen, die Konzentration verlangen. Unruhige Zapper halt, dankbare Konsumenten, die stets schnellen Nachschub benötigen und immer gleich dessen wieder überdrüssig sind. Zwei Millionen Kinder, vornehmlich Jungen, sollen bereits in den USA unter ADHD leiden, Tendenz steigend. Begleitet wird ADHD gelegentlich von Angst und Aggressivität. Ob ADHD durch Medienkonsum, chemische Substanzen, Drogenkonsum bei den Eltern, genetische Veranlagung oder durch irgendwelche Umweltfaktoren wie den Medien hervorgeht, ist wie bei allen multifaktoriellen Erkrankungen umstritten.
Der Hirnforscher Detlef Linke glaubt, daß durch Medienkonsum auch die neuronale Architektur sich umorganisiert und an die klein verpackten Medieninformationen anpaßt:
Wir sind in dieser Hinsicht bereits überlastet. Unser Gehirn kriegt immer mehr an Unerwartetem mitgeteilt und ist auch nicht mehr in der Lage, sich in dieser medialen Welt auf eine Dimension zu konzentrieren, also wenn Wort und Bild sich dauernd abwechseln, simultan kommen usw. Dabei kann der Mechanismus der Aufmerksamkeit, also der Übergang von einem Prozessor zum anderen, im Gehirn gar keine so große Rolle mehr spielen, weil es nicht ökonomisch wäre, in einen Prozessor zu gehen, wenn dauernd die Modi geändert werden. Wenn nach einer halben Minute schon wieder ein anderer Prozessor gefragt wäre, dann ist das Gehirn total überfordert, mit sehr spezifizierten Prozessoren zu arbeiten, also beispielsweise vom Wort- zum Bildmodus überzugehen. In Experimenten ist bereits passiert, daß die Versuchspersonen im Modus Wortverarbeitung Bilder analysieren. Das haben wir in Testserien beobachtet, in denen Bild-Dias zusammen mit Wort-Dias gegeben wurden. Plötzlich wurde nur ein Bild gezeigt, das dann nicht in der Sphäre der Bildverarbeitung analysiert wurde.
Zunehmende Arbeitslosigkeit könnte uns vor den Schrecken und Degenerationserscheinungen der Computerarbeitsplätze im Betrieb und Zuhause befreien, wenn wir nicht auch in unserer Freizeit pausenlos dem Stress der Medien ausgesetzt werden. Schon hat jedes 10. Kind zwischen 6 und 9 Jahren einen eigenen Computer, Videorekorder und Fernseher und hält sich immer mehr in der virtuellen Umwelt auf. Beeinflußt werden Kinder immer weniger von den Eltern und ihren Freunden und schon gar nicht von Schule oder Kirche, sondern immer mehr von Medien. Folge sind zunehmende Bewegungsstörungen, also Anpassung an die seßhafte Lebensweise, während die feinmotorische Beweglichkeit etwa der Auge-Hand-Korrelation offenbar zugenommen hat. Damit lassen sich dann wenigstens die künftigen Fernlinge, also irgendwelche Telepräsenzroboter als Vertreter der Menschen, steuern, wenn man selbst zunehmend stolpert, an Ecken kracht und unbeweglich wird.
Homo sedens hält sich überwiegend Zuhause auf und versucht mit allen Mitteln, Krankheiten von sich fernzuhalten. Die Medizin hatte große Erfolge, aber nun könnte die Verhäuslichung zurückschlagen und selbst Symptome produzieren. Nicht mehr dem Ansturm der Parasiten und Bakterien ausgesetzt, hat das Immunsystem Langeweile und beschäftigt sich mit sich selbst. Weil, so haben Mediziner herausgefunden, die Menschen weniger Kinderkrankheiten durchlaufen und die Wohnungen zu sauber sind, entwickeln sich Allergien. Schon jetzt leiden in Deutschland vier Millionen Menschen an Asthma, sind 10% der Kinder davon befallen und sterben jedes Jahr 6000 Menschen an Asthmaanfällen. Gewohnt, in einer feindlichen Umgebung zu leben, pickt sich das Immunsystem neue Feinde heraus, die millionenfach in jeder Wohnung hausenden Hausstaubmilben, die nur in den cleanen Produktionsstätten für Chips nicht vorhanden sind. Vielleicht sollten wir uns also in derartige abgeschlossene Räume zurückziehen, in Glocken wie Biosphäre II, durch deren Verbindungen mit der Außenwelt höchstens noch Computerviren oder Meme eindringen können?
Möglicherweise aber rotten wir uns als Angehörige der Gattung homo sedens und homo virtualis auch aus, bevor die Cyborgisierung richtig einsetzt und man beschädigte kognitive oder motorische Funktionen durch Techniken ausgleichen kann. So nimmt die WHO an, daß die Zahl der geistigen Erkrankungen in nächster Zeit weltweit enorm zunehmen werde. Panikkrankheiten und vor allem Depressionen sollen bis zum 2020 an zweiter Stelle aller Gesundheitsprobleme stehen. Jedes Art leiden über 17 Millionen Menschen in den USA oder 10% der Gesamtbevölkerung an Depressionen. Angst und Depressionen hindern die Menschen, nach draußen zu gehen, und binden sie an die häusliche Umgebung. Angstlos aber kann man durch den Cyberspace surfen. Wie schön.