Der letzte Mensch blinzelt.
Ein Gespräch mit dem Hirnwissenschaftler Detlef Linke
Nach neueren Erkenntnissen der Hirnwissenschaft muß man von alten Modellen der Aufmerksamkeit abgehen. Nicht nur konkurrieren alle in der Gesellschaft um die knappe Ressource Aufmerksamkeit, auch im menschlichen Gehirn konkurrieren unterschiedliche Aufmerksamkeitssysteme um die Vorherrschaft. Und die neuen Medien scheinen die Arbeitsweise unserer Gehirne zu verändern.
Detlef Linke Siehe auch die Kritik von Detlef Linke an der umstrittenen Ethik des australischen Philosophen Peter Singer.
Eines der wesentlichen Momente des Bewußtseins und unserer Orientierung in der Welt ist die Aufmerksamkeit. Sie richtet sich wie ein Scheinwerfer auf bestimmte Gegenstände, die gerade wichtig sind. Empirisch scheint jedoch Aufmerksamkeit als kognitive Funktion noch wenig erforscht zu sein. Was ist denn der Stand der Dinge?
Detlef Linke: Das Bild von der Aufmerksamkeit als Scheinwerfer gilt zunächst einmal nur für den phänomenalen Bereich. Es ist auch von Neurophysiologen benutzt worden und man hat dann Aufmerksamkeit mit der Formatio reticularis identifiziert, die wie eine Taschenlampe den Kortex anstrahlt. Man muß aber vorsichtig sein, wenn man eine solche phänomenologische Metapher in die Physiologie übersetzt. Was wir phänomenologisch als Scheinwerfer empfinden, kann physiologisch im neuronalen Netzwerk ganz anders strukturiert sein, so daß man nicht sagen kann, hier ist die Lampe und dort das angestrahlte Ding, oder hier ist der Hirnstamm und dort der angestrahlte Kortex. Der Begriff Aufmerksamkeit ist ganz entscheidend als Baustein für Bewußtseinsfunktionen.
Aber er ist nicht mit Bewußtsein identisch?
Detlef Linke: Nein, auf keinen Fall. Wenn jetzt beispielsweise Francis Crick behauptet, das große Rätsel sei gelöst, Aufmerksamkeit und Gedächtnis würden das Bewußtsein ausmachen, dann ist das eine vorschnelle Identifizierung. Der Begriff der Aufmerksamkeit kommt noch aus der sensualistischen Tradition und ist deswegen sowieso ein wenig einseitig.
Ein schönes empirisches Paradigma ist die Untersuchung des sogenannten P300, d.h. man mißt die Hirnströme und läßt die Versuchsperson beispielsweise periodisch aufeinander folgende Klicks hören. Auf jeden Klick läßt sich eine elektrische Reaktion feststellen, die man messen kann. Dann läßt man einmal einen Klick ausfallen, wobei es auf dieses Nicht-Ereignis auch eine Reaktion gibt. Das Gehirn ist darauf eingestellt, daß jetzt irgend etwas kommt, und korrigiert dann seine Erwartung. Die Gedächtnisspeicher werden umstrukturiert und neue Annahmen über die Welt gebildet. Das ist ein ziemlich grundlegender Mechanismus für die Aufmerksamkeit. Dieses Paradigma zeigt, daß man vom reinen Sensualismus wegkommen muß, wenn man sieht, daß das Gehirn große Potentiale erzeugt, ohne daß momentan eigentlich etwas Externes geschieht.
Das heißt, die Erwartung ist wesentlicher Teil des Aufmerksamkeitssystems. Andererseits wird die Aufmerksamkeit doch auch gerade von Reizen in Bann geschlagen, die nicht erwartet wurden. Wie entstehen denn Erwartungen, die die Aufmerksamkeit lenken, wie bilden sich diese neurophysiologisch ab und wie läßt sich gezielt Aufmerksamkeit hervorrufen?
Detlef Linke: Erwartungen bauen sich schon elementar in der Physiologie auf. Auch bei Bewußtlosen können wir bereits Erwartungshaltungen finden, also wenn diese ein Klicken hören und ihr Nervensystem das rezipiert, dann erwarten sie, daß das weitergeht. Auch frischgeborene Säuglinge sind auf so etwas ausgerichtet. Wenn man Aufmerksamkeit gezielt wie in der Werbung und in den Medien ansprechen will, dann läßt sich feststellen, daß die Erwartungshaltungen immer wieder durchbrochen werden müssen. Der Trick der Werbung ist es ja, daß sie das Unerwartete bringen will, um einen Effekt zu erzeugen. Solche Mechanismen kann man auch bei Bewußtlosen hinsichtlich der Sprachwahrnehmung messen. Wenn man in einen Satz beispielsweise einbaut "In den Kaffee schüttete er Zucker und Zement", dann erzeugt das ein großes Potential, ohne daß der Patient kundtut, ob er überhaupt Sprache wahrnimmt. Unerwartetes erzeugt im Gehirn eine große Reaktion.
Ist das nur abhängig von der Physiologie, also von bestimmten "objektiven" Reizen, oder eben auch von der Geschichte des einzelnen, was eben für ihn unerwartet ist?
Detlef Linke: Das hängt von der Geschichte des einzelnen und seinem subjektiven Lexikon ab. Wenn er ein Leben geführt hat, in dem immer der Betonmischer neben dem Kaffeetisch stand, dann entwickelt er natürlich kein großes Potential bei seinem solchen Satz. Im Prinzip sind das physiologische Vorgänge, die durch Erfahrung geprägt werden.
Normalerweise aber ist es so, daß eine Überschüttung mit vermeintlich Unerwartetem offensichtlich auch nicht die Aufmerksamkeit aufrecht erhält. Man kann das also nicht direkt als Strategie in der Werbung und in den Medien umsetzen.
Detlef Linke: Die Menschen wissen dann schon, daß jetzt etwas Unerwartetes passieren soll. Das läßt sich konditionieren. Wenn die Menschen die Erwartung für das Kommende korrigieren, dann entsteht die Kurzschlußschaltung, Vorsicht, jetzt kommt Werbung, jetzt schalte ich ab. Man muß also aufpassen, daß man das Unerwartete nicht zu erwartungsgemäß einsetzt. Der Effekt tritt ja nur dann ein, wenn etwas ganz plötzlich eintritt und ganz anderer Art als das Erwartete ist.
Wir sind in dieser Hinsicht bereits überlastet. Unser Gehirn kriegt immer mehr an Unerwartetem mitgeteilt und ist auch nicht mehr in der Lage, sich in dieser medialen Welt auf eine Dimension zu konzentrieren, also wenn Wort und Bild sich dauernd abwechseln, simultan kommen usw. Dabei kann der Mechanismus der Aufmerksamkeit, also der Übergang von einem Prozessor zum anderen, im Gehirn gar keine so große Rolle mehr spielen, weil es nicht ökonomisch wäre, in einen Prozessor zu gehen, wenn dauernd die Modi geändert werden. Wenn nach einer halben Minute schon wieder ein anderer Prozessor gefragt wäre, dann ist das Gehirn total überfordert, mit sehr spezifizierten Prozessoren zu arbeiten, also beispielsweise vom Wort- zum Bildmodus überzugehen.
In Experimenten ist bereits passiert, daß die Versuchspersonen im Modus Wortverarbeitung Bilder analysieren. Das haben wir in Testserien beobachtet, in denen Bild-Dias zusammen mit Wort-Dias gegeben wurden. Plötzlich wurde nur ein Bild gezeigt, das dann nicht in der Sphäre der Bildverarbeitung analysiert wurde.
Ist das eine neue Entwicklung?
Detlef Linke: Ja, das ist ein neuer Effekt, der sicherlich immer schon angebahnt gewesen ist, aber heute stärker ausgeweitet wird.
Schlägt sich denn die Aussetzung an neue Medien auch direkt im Gehirn nieder, also daß beispielsweise neue Wahrnehmungsmechanismen oder Aufmerkamkeitsstrukturen entstehen?
Detlef Linke: Ich glaube schon. Es konvergiert doch vieles in die Richtung, gerade weil wir aus Ökonomiegründen nicht immer in einen anderen Modus übergehen, daß sich eine stärkere Bilateralisierung stattfindet.
Welche Folgen hätte das?
Detlef Linke: Das hat eine Menge Folgen. Das hängt auch damit zusammen, daß wir immer mehr in kleinen Portiönchen verarbeiten. Wenn man in großen Portionen verarbeiten würde, könnte man sich entscheiden, daß man sich einen Spielfilm mit einer gewissen Psychodramatik in einem bestimmten Verarbeitungsmodus anschaut. Wenn man ein Buch wie die Anna Karenina über drei Wochen jeden Tag liest, dann kann man sich auf eine bestimmte Konstellation einstellen und eine Hemisphärenlateralisation ausbilden.
Aber das geht nicht, wenn man andauernd wechselt. In entsprechender Weise werden ja auch Informationen angeboten, weil die Angebote auf ein Gehirn treffen, das auf ständigen Wechsel eingerichtet ist. Das Gehirn will nicht mehr wechseln, deswegen werden nur kleine Portionen angeboten, also beispielsweise ein kurzer Text und dann wieder Action, so daß man gar nicht in Versuchung kommt, sich auf einen bestimmten Modus einzustellen.
Ist nicht das Aufmerksamkeitssystem als biologisches System darauf ausgerichtet, offen für das zu sein, was plötzlich an Neuem geschieht, und gleichzeitig schnell umschalten zu können? Oder arbeitet Aufmerksamkeit ursprünglich auf einem bestimmten Prozessor?
Detlef Linke: Das hängt davon ab, an welche Situationen wir denken. Wenn wir am Schreibtisch sitzen und die Tür macht ein Geräusch, dann können wir gar nicht vermeiden, eine Orientierungsreaktion auf biologischer Ebene in Gang zu setzen und den Kopf in Richtung des Geräusches zu wenden. Das wäre nur anders, wenn wir über viele Jahre lang konditioniert wären, daß da nichts passiert und wir keine Informationen aufzunehmen brauchen. Ansonsten läuft das biologisch ab.
Wenn wir hingegen ein Bildschirmmedium nehmen, dann finden schon neue Strukturierungen statt. Natürlich finden hier auch Überraschungen statt, aber sie haben nicht mehr so viele Möglichkeiten, physiologische Reaktionen in Gang zu setzen, weil das ziemlich ausgereizt ist. Das Neue wird dann zu einer Kategorie ausgebildet und die Physiologie überlistet.
Aufmerksamkeit gibt es nicht nur bei einzelnen, sondern gesellschaftlich. Medien sind gewissermaßen die kollektiven Organe der Aufmerksamkeit in der Gesellschaft. Kann man denn Einsichten aus der Gehirnwissenschaft auch auf die soziale Ebene mit Gewinn übertragen?
Detlef Linke: Die Gesellschaft berücksichtigt das ja schon faktisch in ihren Strategien der Aufbereitung von Information. Die Informationen werden nicht nach ihrer inneren Konsistenz oder Kohärenz aufbereitet, sondern so, daß sie auch nach einer Minute noch genügend Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es muß immer wieder zwischendurch dafür gesorgt, daß man auch genügend Aufmerksamkeit provoziert, um den Leser, Hörer oder Zuschauer nicht zu verlieren. Es wird eigentlich schon genug gemacht, um die physiologischen Aufmerksamkeitsmechanismen zu berücksichtigen.
Als Korrektiv wäre daher schon auch einmal gut, darüber nachzudenken, in welchem Maße wir bei so kurzatmigen Informationsverarbeitungsvorgängen eigentlich die Fähigkeiten verlieren, die Implikationen einer Information noch in ihren Verästelungen zu verfolgen. Man hat den Eindruck, daß Erkenntnis heute in immergleichen Packmodulen produziert wird. Es ist immer der gleiche Modul oder Tetrapack, egal in welchem Fachgebiet das geschieht. Immer gibt es nach ganz kurzen Strukturaufbauten die Lücke für die Aufmerksamkeit. Das ist so, wie Nietzsche gesagt hat, der letzte Mensch blinzelt. Alles kommt in diesen kleinen Dosierungen, dann wird etwas angeboten, was dieses Blinzeln aktiviert, um das Durchhalten zu stützen.
Meine Frage ging eigentlich in eine andere Richtung. Wenn man davon spricht, daß es im Gehirn so etwas wie ein Aufmerksamkeitssystem gibt - und wir haben immer im Singular gesprochen -, könnte man dann auch sagen, daß es etwas Vergleichbares im kollektiven Bereich gibt? Aber dort hätte man, wenn man Medien als Aufmerksamkeitsorgane betrachtet, viele, miteinander konkurrierende Systeme.
Detlef Linke: In der Hirnforschung hat man die Aufmerksamkeit oft zu sehr als eigenes System ontologisiert. Eigentlich ist es so, daß jeder Prozessor seine eigene Aufmerksamkeitsfähigkeit besitzt und daher jeweils als Attraktor wirkt. Im gesellschaftlichen Bereich wäre Öffentlichkeit an sich eine Dimension, die Aufmerksamkeit erzeugt. Was davon beispielsweise ins Sprachzentrum geht und dort gewissermaßen in vielen Stimmen redet, attrahiert natürlich, ohne daß wir dies durch einen spezifischen Aufmerksamkeitsmechanismus im klassischen Sinn rezipieren.
Es findet also auch innerhalb des Gehirns ein Konkurrenzkampf der verschiedenen Aufmerksamkeitsmodule statt?
Detlef Linke: Ja, ganz sicher. Man hat vor einigen Jahren noch gesagt, daß bei Menschen, die polyglott von einer Sprache in die andere wechseln können, es dafür ein eigenes Steuerzentrum im Parietallappen geben muß. So sieht man das heute nicht mehr. Das sind Situationsentscheidungen, aber auch Konkurrenzkämpfe darum, welche Sprache sich stärker in den Vordergrund stellen soll. Dafür ist kein übergeordnetes Steuerungszentrum außerhalb der beiden Sprachsysteme nötig.
Es gibt also keine regulierende Instanz, die letztlich darüber entscheidet, was aus den konkurrierenden Systemen in den Vordergrund tritt?
Detlef Linke: Natürlich gibt es Kognitionen, die noch einmal als Regulative im ganzen System wirken, aber das ist keine Ego-Instanz als eigenes Zentrum. Das Ego ist nur eine Abgleichung post hoc. Das Ego-Bild in uns erfährt dadurch eine Bestärkung, obgleich es nur ein Zwischenobjekt in den zerebralen Prozessen und nicht der Steuerprozessor ist. Solche Abgleichungen haben einen Einfluß, aber deswegen gibt es noch keinen Allherrscher im Gehirn.
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