Zur Neurowissenschaft der Aufmerksamkeit
Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer
Für einen Organismus ist Aufmerksamkeit eine zentrale Instanz beim Management der Informationsverarbeitung. Ihre Aufgabe ist die Selektion in einem Wettstreit nicht nur der Reize, die auf das Gehirn einwirken, sondern auch derjenigen internen Areale, die sie verarbeiten. Der Gewinner im Streit um die Aufmerksamkeit setzt sich auf Kosten aller anderen durch. Nur das, worauf die Aufmerksamkeit fällt, kann auch bewußt und dann erinnert werden. Aufmerksamkeit ist die primäre Ressource der Informationsgesellschaft. Um sie einzufangen und zu halten, findet in den Medien ein Wettrüsten statt. Möglicherweise lassen sich Medien als kollektive Aufmerksamkeitssysteme für Gruppen und Gesellschaften verstehen und gehorchen sie ähnlichen Regeln wie die Aufmerksamkeit im Gehirn des einzelnen Menschen. Aber gibt es aus dem Blick der Neurowissenschaft überhaupt ein identifizierbares System der Aufmerksamkeit, und welchen biologischen Gesetzen unterliegt diese?
Gibt es denn im Gehirn eigentlich so etwas wie ein Aufmerksamkeitssystem?
WOLF SINGER: Es gibt ein Zentrum, das aktiviert sein muß, damit das Gehirn in einen Zustand kommt, in dem es Phänomene wie Aufmerksamkeit generieren kann. Die entsprechenden Areale liegen im Hirnstamm und lassen sich in vier Untersysteme gliedern. Das ist einmal das cholinerge System, das Acetylcholin als Überträger benutzt, dann das noradrinerge System, das Noradrenalin benutzt, das dopaminerge System, das Dopamin benutzt, und das serotonine System, das Serotonin benutzt. Diese vier Systeme zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit ihren Axonprojektionen relativ diffus riesige Bereiche im Großhirn erreichen, so daß ein einzelnes Hirnstammneuron ein ganzes Hirnrindenareal versorgt. Die topologische Spezifizität ist allerdings relativ gering. Eine prominente Rolle spielt dabei das cholinerge System, das den Thalamus direkt ennerviert und dort Bedingungen schafft, die für die Übertragung von Sinnesinformation besonders günstig sind. Die Oszillatoren, die dort mit langsamer Frequenz schwingen und im Tiefschlaf zum Beispiel verläßlich verhindern, daß sensorische Aktivität übertragen wird, werden durch dieses System inaktiviert. Dann gibt es noch ein wichtiges Gebiet im basalen Vorderhirn, das auch mit cholinergen Zellen besetzt ist und seinerseits zur Großhirnrinde projiziert. Das cholinerge System des Hirnstamms projiziert bei höheren Tieren nämlich nur in subkortikale Bereiche, aber es aktiviert auch die Kerngebiete im Vorderhirn. Von dort wird die gesamte Großhirnrinde mit Acetylcholin versorgt.
Ist denn Aufmerksamkeit direkt mit Bewußtsein in der ganzen Vagheit dieses Begriffs verbunden?
WOLF SINGER: Wenn diese Systeme nicht im richtigen Aktivierungszustand sind, dann kann das Gehirn kein Bewußtsein haben. Die elektrographische Aktivität ist dann durch langsame Oszillationen gekennzeichnet und es herrscht ein hohes Maß an Synchronizität zwischen großen Bereichen des Vorderhirns. Das sind Bedingungen, unter denen das Gehirn Informationen nicht verarbeiten kann.
Aber Bewußtsein und Aufmerksamkeit sind als Zustände doch vermutlich auch nicht identisch?
WOLF SINGER: In der Regel ist es schon so, daß nur die Inhalte, die auch mit Aufmerksamkeit besetzt sind, ins Bewußtsein rücken. Insofern spielt die selektive Aufmerksamkeit bei der Auswahl der Inhalte, die ins Bewußtseins kommen, und auch natürlich bei jenen, die gespeichert werden können, eine große Rolle.
Aufmerksamkeit kann von außen durch Sinnesreize oder von innen durch Emotionen oder andere Empfindungen erregt werden, andererseits hat man jedenfalls für sich selbst den Eindruck, daß Aufmerksamkeit bewußt gesteuert und auf etwas Bestimmtes gerichtet werden kann.
WOLF SINGER: Man kann das innere Auge, wenn man sich das als Bild vorstellt, verschieben. Man kann auch von innen heraus, was man selektive Aufmerksamkeit nennt, wofür die Angelsachsen "searchlight of attention" sagen, die Aufmerksamkeit durch zentrale Kommandos verschieben. Andererseits reagiert natürlich das Aufmerksamkeitssystem auch. Wenn beispielsweise in der Peripherie des visuellen Gesichtsfeldes ein Reiz auftaucht, dann zieht er automatisch die Aufmerksamkeit auf sich. Gleichzeitig gehen im gesamten Gesichtsfeld, besonders im kollateralen, die Reizschwellen für die Wahrnehmung von konkurrierenden Reizen in die Höhe. Auf diese Weise läßt sich die Aufmerksamkeit hin- und herschieben. Durch ein verbales Kommando oder wenn dies die Versuchsperson für sich selbst beschließt, läßt sich die Aufmerksamkeit in eine Hälfte des Gesichtsfeldes verlagern, ohne daß dort irgendwelche Reize sein müssen. Die Schwellen für einen auftretenden Reiz sind dann dort erniedrigt.
Ist die selektive, also vom Organismus steuerbare Aufmerksamkeit beschränkt auf höhere Lebewesen?
WOLF SINGER: Man wird sie sicher in der ganzen Wirbeltierreihe finden. Ich weiß positiv, daß sie etwa bei der Ratte und der Maus vorhanden ist. Sie spielt beim Management der Informationsverarbeitung schlechthin eine entscheidende Rolle, weil nicht alles, was wahrgenommen wird, handlungsrelevant sein kann. Die Auswahl dessen, was bedeutsam ist, ist eine Funktion der Aufmerksamkeit.
Die Aufmerksamkeit ist, weswegen man beispielsweise vom Scheinwerfer oder ähnlichen Metaphern spricht, in ihrer Kapazität beschränkt, um eine Auswahl treffen zu können. Lassen sich diese Grenzen angeben?
WOLF SINGER: Man kann offenbar nicht gleichzeitig in allen Modalitäten und in diesen Modalitäten nicht gleichzeitig in allen Bereichen aufmerksam sein. Bei einer diffusen Bereitschaft sind die Schwellen überall relativ hoch, aber etwa gleich. In dem Moment aber, in dem eine Person entweder aufgrund der Versuchssituation oder durch den Versuchsleiter dazu angeregt wird, auf etwas besonders zu achten, dann geht dies immer auf Kosten der anderen Kanäle. Aufmerksamkeit ist ein kompetitives System.
Gibt es denn auch eine zeitliche Beschränkung der Aufmerksamkeit hinsichtlich eines Reizes?
WOLF SINGER: Das ist wenig untersucht, aber ich glaube, daß dann, wenn die Versuchsperson dazu angehalten wird, ihre Aufmerksamkeit auf einen ganz bestimmten Inhalt zu richten, sie dies über eine beträchtliche Zeit hinweg tun kann. Die Aufmerksamkeit wird in der Intensität ein wenig oszillieren, aber man kann dies willentlich schon eine ganze Weile konstant halten.
Andererseits geht man doch in den Medien davon aus, daß ständig etwas Neues geboten werden muß, um die Aufmerksamkeit zu binden. Man muß schnelle Schnitte machen, zu neuen Szenen springen, stärkere Reize bieten, um die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten.
WOLF SINGER: Dadurch wird aber wohl nicht die Aufmerksamkeit strapaziert, sondern das allgemeine Aktivierungsniveau des Gehirns. Durch den ständigen Wechsel gerät man in eine Streßsituation, in der die gesamte Erregbarkeit hochgefahren wird. Das kann für das Management der Aufmerksamkeit sogar schädlich sein.
Man spricht auch davon, daß wir in unserer medialen Kultur einem informational overload ausgesetzt seien. Meinen Sie das in diesem Sinn?
WOLF SINGER: Die schnellen Schnitte in den Videoclips, die auch in den Fernsehsendungen immer mehr angewandt werden, intendieren etwas, erreichen aber etwas anderes. Erzielt werden soll offenbar, daß der Zuschauer gefesselt bleibt. Das gelingt wahrscheinlich auch, weil er durch die schnellen Schnitte ständig überrascht wird. Darunter leidet aber sicher die Fähigkeit, sich auf bestimmte Inhalte zu konzentrieren.
Man wird gewissermaßen hochgeputscht, kann aber nichts mehr wirklich erfassen?
WOLF SINGER: Ja, man kann nicht mehr fokussieren.
Sie sprachen vorher von den auslösenden Reizen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es scheint biologisch bestimmte Reize zu geben, auf die wir ansprechen, also bestimmte Figuren, Farben, plötzliche Bewegungen oder laute Geräusche, aber kann sich das Aufmerksamkeitssystem auch an neue Situationen adaptieren und sich durch Lernen weiterentwickeln?
WOLF SINGER: Das ist ein sehr auffälliges Phänomen. Man kann neuronale Korrelate für die Aufmerksamkeitssteuerung finden. Übertragungsketten, die Information vermitteln, auf die im Augenblick aufgemerkt wird, zeigen eine höhere Aktivität als Übertragungsketten, deren Inhalte zur Zeit nicht beachtet werden. Vorgänge wie Habituation spielen hier natürlich eine große Rolle. Wenn die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Inhalt gelegt wird, der zwanzig Mal unverändert wiederholt wird, dann adaptieren die Neuronen auf diesen Reiz und die ursprüngliche Anhebung der Reaktion auf diesen Reiz nimmt wieder ab. Wenn ein neuer Reiz dazwischenkommt, wird das System wieder reaktiviert, so daß die Antworten wieder stärker werden.
Welche Folgen ruft Streß bei der Aufmerksamkeit hervor?
WOLF SINGER: Für das Gehirn gibt es einen optimalen Arbeitszustand. Wenn Sie zuviel Aufregung haben, wenn Sie gewissermaßen zuviel Kaffee getrunken haben, dann sinkt die Konzentrationsfähigkeit. Dann kann man nicht mehr über längere Strecken hinweg kohärent Zusammenhänge entstehen lassen. Im Extremfall tritt das unter Schock ein. Wenn man maximal aktiviert ist oder etwas Schreckliches erlebt hat, dann ist man nicht mehr in der Lage, Aufmerksamkeit selektiv zu handhaben. Dann nimmt man alle kleinen, unwichtigen Details wahr, was natürlich auf Kosten koordinierter Handlungen geht.
Wenn man von der Handhabung der selektiven Aufmerksamkeit spricht, dann entsteht das Bild, als gäbe es im Gehirn gewissermaßen ein Entscheidungszentrum, also so etwas wie einen Homunculus, der Aufmerksamkeit steuert.
WOLF SINGER: Das ist natürlich keine zentrale Instanz. Was als Steuerung erscheint, ist die Folge des Wettbewerbs einer Vielfalt von Programmen, die alle zum Zuge kommen wollen. Das jeweils Wahrscheinlichste oder der jeweils stärkste Reiz gewinnt dann auf Kosten aller anderen. Das erscheint dann so, als lege man die Aufmerksamkeit auf etwas oder entscheide sich für etwas. Es ist natürlich nicht so, daß es im Gehirn irgendein Zentrum gibt, das die Rollen verteilt. Das Wechselspiel aller an der jeweiligen Gestaltung des Programms beteiligten Zentren ist kompetitiv organisiert. Es gibt immer einen Gewinner.
Das Gewinnen in Bezug auf die Wahrnehmung ist mit dem stärksten, lautesten oder überraschendsten Reiz verbunden?
WOLF SINGER: Das ist bei Außenreizen sicher richtig. Das System wendet sich automatisch den Ereignissen zu, die zur höchsten Erregung führen. Das können Ereignisse sein, die den Erwartungswerten besonders gut entsprechen oder die physikalisch einfach so stark sind, daß sie sich durch die starke Erregung durchsetzen. Dabei spielt der interne Zustand aber eine große Rolle, weil alle Ereignisse im Hinblick auf Verhaltensrelevanz oder die Bedürfnisse des Systems bewertet werden. Wenn man hungrig ist, werden Duftreize, die ans Essen erinnern, sich sehr viel besser durchsetzen als solche, die von neutralen Inhalten ausgehen.