Sitzen kann tödlich sein
Mindestens zwei, besser vier Stunden soll man während der Arbeit nicht sitzen, so eine Empfehlung von Wissenschaftlern
Bald könnte es schon heißen: Sitzen kann tödlich sein. Ausgerechnet die Körperposition, die der homo sedens mittels technischer Innovationen als Herrschaftshaltung demokratisiert hat, erweist sich zunehmend als angeblich krankmachende Erfindung. Körperliche Bewegung, der die Menschen einst entgehen wollten, um sie zuerst Sklaven, dann den Arbeitern und schließlich den Maschinen zu übergeben, gerät zu einer zwar nutzlosen, aber absolut notwendigen Tätigkeit, die neben und wegen der Arbeit zunehmend die Freizeit ausfüllt. Die wurde früher der Muße gewidmet und ist jetzt zur Zeit für das Workout geworden, letztlich für das Laufrad. Und weil die Langweile beim körperlichen Workout schnell entsteht, müssen die Freizeitkörperarbeiter sich an Medien und Apps anschließen, um die Öde der bloßen, in sich kreisenden Bewegung zu ertragen.
Zwei Stunden während der Arbeitszeit soll man aus gesundheitlichen Gründen nicht sitzen - mindestens. Wer Schreibtisch-, d.h. in der Regel Computerarbeit verrichtet, sitzt nicht nur oft länger, sondern hat oft auch wenig Gelegenheit, umherzuwandern oder zwischendurch immer mal wieder eine Pause einzulegen, wenn er nicht Raucher ist und vom Büro längere Wege in Kauf nehmen muss, um eine Zigarette zu qualmen (Vom homo sedens und anderen Mißbildungen).
Britische, amerikanische und australische Wissenschaftler haben im British Journal of Sports Medicine nun den Stand der wissenschaftlichen Forschung aufgrund eines Gremiums internationaler Experten zu Richtlinien formuliert. Damit soll die Gefahr, die vom anhaltenden Sitzen ausgeht, reduziert werden. Besser wären nicht nur zwei Stunden, sondern vier Stunden, die im Stehen oder im Gehen als eine neue Art von Peripatetikern zu verbringen wären.
Vier Stunden von acht Stunden Arbeit vor dem Computer, das wird wirklich Arbeit, schließlich soll man auch nicht zu lange stehen. Gut wären Tische, sagen die Experten, die man hochfahren kann, um auch im Stehen arbeiten zu können. Auf die Idee, den Stuhl des zur Fettleibigkeit und Behäbigkeit neigenden homo sedens mit Pedalen wie auf einem Bürotrainer auszustatten, kamen die Wissenschaftler aber nicht. Dann könnten die Sitzenden während der Arbeit zumindest ihre Füße bewegen, bei Ärger auch schneller, was der Gesundheit dienen würde. Vorgeschlagen wird, dass man eben auch mal öfter kurz aufstehen soll, um Herzkreislauferkrankungen und vorzeitigem Tod zu entgehen. Wer lange sitzt, ist eben eher tot.
Die Arbeitgeber sind aufgerufen, ihre Angestellten in Bewegung zu versetzen oder ins Stehen zu bringen, zudem sollen sie diese dazu anhalten, sich besser zu ernähren, wofür das Gehalt wohl nicht steigt, nicht zu rauchen, weniger Alkohol zu trinken und Stress zu vermeiden. Letzteres ist besonders gut, weil Stress in der Arbeit, unter dem viele Menschen leiden, kaum selbst von den Arbeitnehmern ausgeht. Eine weniger zwanghaft sesshafte Arbeitshaltung würde, so suggerieren die Autoren, nicht nur der Gesundheit des Angestellten dienen, sondern auch dessen Produktivität steigern und Krankheitstage senken, was doch dem Arbeitgeber zugutekäme. Eine Win-Win-Situation also, die man auch als "Corporate Social Responsibility" (CSR) bezeichnen könne.
Schon allein leichte körperliche Bewegung wie die Veränderung der Körperhaltung, Stehen und Gehen könne den Energieverbrauch um 0,5 bis 2,0 kcal/min gegenüber dem puren Sitzen erhöhen. 70 Prozent der Menschen in Europa und Nordamerika würden es nicht schaffen, die empfohlenen 150 Minuten pro Woche, die zusätzlichen 1000 kcal entsprechen, mittlerer körperlicher Aktivität (an unbezahlter Gesundheitsarbeit wegen der sitzenden Tätigkeit während der Arbeit) zu leisten. Das macht dick, befördert Krebs, Diabetes und Kreislauferkrankungen. Eigentlich würden sich 95 Prozent nicht ausreichend bewegen.
Irgendwie scheint die Norm zu gelten, dass die Menschen während des Tages weniger als 9 Stunden sitzen sollen: 60 Prozent der Wachzeit, 6-7 Stunden während der Arbeit und 3 Stunden Zuhause. Aber das heißt auch, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer verantwortlich gemacht werden können, wenn die Zeit der körperlichen Bewegung oder des Stehens im Laufe des Tags zu gering ist. Je stärker die Normen aufgebaut werden, desto wichtiger und zwingender wird es werden, die körperliche Aktivität objektiv zu messen, um die Frage der Verantwortung zu regeln. Viele machen das schon freiwillig, die Krankenkassen werden zur Kostensenkung zunehmend darauf dringen, dass die Arbeitgeber, aber vor allem alle Versicherten den Normen nachkomme und ihr Pflicht an Bewegung nachweisbar absolvieren.