Straffreies Containern: Kein Ende der Debatte in Sicht

Seite 2: Straffrei Containern: "Symbolpolitik, die am Kern vorbeigeht"

Jochen Brühl hielte es für grundsätzlich gut, wenn weniger Lebensmittel verschwendet würden. Zwar sieht der Vorsitzende der Tafeln im "Containern" generell keine Konkurrenz. Doch hält er es für zynisch, wenn es Menschen erlaubt werde, im Müll zu wühlen, um sich ernähren zu können. Bedürftige sollten das Angebot der Tafeln nutzen. Eine Strafbefreiung helfe weder gegen Armut noch löse sie das Problem der Lebensmittelverschwendung.

Viel wichtiger sei es, dass Supermärkte nicht bis Ladenschluss ein übervolles Angebot präsentierten, weil dadurch am Ende zu viele Lebensmittel weggeschmissen würden. Zudem sollten Lebensmittelspenden vereinfacht werden.

Im letzten Jahr war der Andrang bei den Tafeln noch größer als sonst. Schuld daran waren vor allem die Preissteigerungen. Auf zwei Millionen Besucher schätzten die Tafeln die Besucherzahl – 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Rund drei Viertel der Tafeln klagte, zu wenig Lebensmittel zur Verfügung zu haben, ein Drittel verhängte einen Aufnahmestopp. Ursprünglich waren die Tafeln angetreten, um übriggebliebene Lebensmittel an bedürftige Menschen weiterzugeben. Inzwischen werden sie von der Politik fest einkalkuliert, um die wachsende Zahl der Armen aufzufangen.

Vorbild Frankreich: Gesetz soll Verschwendung reduzieren

Seit 2016 verpflichtet ein französisches Gesetz Supermärkte mit einer Fläche von mehr als 400 Quadratmetern dazu, genießbare Lebensmittel entweder selbst weiterzuverwenden oder sie an gemeinnützige Organisationen zu spenden. Die Händler sind aufgefordert, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um Lebensmittelverluste und Verschwendung zu vermeiden.

Erst an zweiter Stelle folgt das Spenden oder Weiterverarbeiten unverkaufter und für den menschlichen Verzehr geeigneter Lebensmittel. An dritter Stelle steht die Verwertung als Tierfutter und an vierter steht die Kompostierung für die Landwirtschaft oder die energetische Verwertung.

Bei Nichteinhaltung drohen hohe Geldstrafen. Bestraft werden auch Unternehmer, die ihre sicheren Lebensmittel absichtlich ungenießbar machen. Damit ist Frankreich weltweit das erste Land, das die Lebensmittelverschwendung offiziell unter Strafe gestellt hat. Im Nebeneffekt erhalten die Tafeln deutlich mehr Lebensmittel. Könnte man ein ähnliches Gesetz nicht in Deutschland erlassen, und wenn ja, warum ist es nicht längst in Kraft, fragt jemand auf dem Portal Abgeortnetenwatch.de

Hierzulande ist das Spendenaufkommen aus Handel und Produktion deutlich höher: Allein an die Tafeln werden jährlich rund 265.000 Tonnen pro Jahr Lebensmittel gespendet (die durch 60.000 Ehrenamtliche an 1,65 Mio. Tafelkunden verteilt werden). In Frankreich hingegen werde weniger als die Hälfte dieser Menge an zwei Millionen Bedürftige verteilt, argumentiert die Grünen-Abgeordnete Ophelia Nick.

Es müsse in erster Linie darum gehen, Lebensmittelüberschüsse oder -abfälle zu vermeiden. Eine entsprechende Zielvereinbarung wurde im April 2021 für die Außer-Haus-Verpflegung unterzeichnet. Für die Primärproduktion, Verarbeitung und Handel sollte die Vereinbarung bis Ende letzten Jahres abgeschlossen gewesen sein.

Tatsächlich veröffentlichte das Agrarministerium im November eine Reihe Absichtserklärungen: So soll sowohl in Dialogforen pro Sektor als auch im übergeordneten Nationalen Dialogforum über Maßnahmen, Fortschritte und Handlungsbedarf diskutiert werden. Zudem steuert ein "ressortübergreifendes Bund-Länder-Gremium die Umsetzung der Strategie und identifiziert weitere Handlungsfelder".

Jährlich fallen hierzulande entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette rund elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle an. Gut die Hälfte davon kommt aus privaten Haushalten. Hier zum Beispiel wollen das Dialogforum private Haushalte sowie die Nationale Strategie "Zu gut für die Tonne" ansetzen. Das klingt nach langen Meetings und ermüdenden Diskussionen, aber auch nach bürokratischen Mühlen, die nur langsam mahlen. Wichtiger wäre die Frage, was davon zeitnah in der Praxis umgesetzt wird.

Den Lebensmitteln ihren Wert zurückgeben

Einerseits entsteht in unserer Überflussgesellschaft eine große Menge an Essensmüll. Essen, das tonnenweise Treibhausgase emittiert – sowohl in der Herstellung als auch auf den Müllhalden. Andererseits wächst die Zahl der Armen, deren Geld nicht ausreicht, um sich Lebensmittel zu kaufen.

Sicher wird dieser Widerspruch nicht allein durch straffreies Containern aufgelöst. Dennoch wäre es ein erster Schritt zur Entkriminalisierung von Menschen, die sich aus Abfalltonnen bedienen, deren Inhalt ohnehin entsorgt werden soll.

Beim Wegwerfen von Essen handelt es sich um ein systemimmanentes Problem, das einhergeht mit der Entwertung von guten Lebensmitteln. Um es zu lösen, müsste man an die Ursachen ran – an den Kapitalismus, der darüber hinaus Menschen in nützliche Arbeitskräfte und nutzlose Esser aufteilt. Mehr soziale Gerechtigkeit, nicht nur innerhalb unserer Gesellschaft, sondern auch entlang globaler Lieferketten vom Produzenten bis zum Supermarkt wäre nötig. Die wenigsten Politiker setzen sich ernsthaft und konsequent dafür ein.