Strahlende Touristen
Zu Besuch in Tschernobyl: 35 Jahre nach der Reaktorkatastrophe entdecken Abenteurer die Sperrzone für sich. Die Regierung der Ukraine fördert das und will den Ort auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes bringen. Die Gefahr aber ist immer noch real
Der Reiseführer lonely planet empfiehlt diesen Trip als "unheimlichste" Tour auf der Welt: einen Tag lang die Sperrzone von Tschernobyl besuchen. Vor allem wegen dem unvorstellbaren Grauen ist der Ort 35 Jahre nach der Reaktorkatastrophe zu einer Touristenattraktion geworden. Denn die Atomkatastrophe hat nicht nur mehr als eine Millionen Menschen entwurzelt, Hunderttausende vertrieben und Tausende getötet. Der Super-GAU von Tschernobyl zieht auch das Fortschrittsversprechen der Wissenschaft für immer in Zweifel.
99 Dollar kostet der Basistrip, er startet morgens in Kiew. Im Reisebus gibt es eine Dokumentation über die Katastrophe zu sehen. Es war ein schlecht vorbereitetes Experiment, das die Welt verändern sollte: Block 4 des Atomkraftwerkes "W. I. Lenina" war in der Nordukraine ans Netz gegangen, ohne dass alle für die Genehmigung notwendigen Tests vorlagen. Die sollten nachgereicht werden, am 25. April 1986 wollte die Schicht des Tages nachweisen, dass nach einem Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine noch genügend Elektrizität liefern würde, um den Reaktor zu steuern - bis die Notstromaggregate anspringen.
Allerdings war die Stromnachfrage an diesem Tag im nahen Kiew so groß, dass das Experiment abgebrochen und an die nächste Schicht übergeben wurde. Die aber war gar nicht vorbereitet: Ohne die Risiken zu kennen, fuhren die Ingenieure den Reaktor herunter und bedienten ihn dann falsch.
Binnen weniger Sekunden erhitzte sich der Kern bis zum Schmelzpunkt, der Reaktor explodierte und schleuderte gigantische Mengen Radioaktivität in die Atmosphäre. Die Wolke mit radioaktivem Fallout verteilte sich zunächst über Skandinavien, dann über Polen, Tschechien, Österreich, Süddeutschland bis nach Norditalien, schließlich über die gesamte Nordhalbkugel.
Nach zwei Stunden Busfahrt ist der Kontrollpunkt "Dytyatky" erreicht, hier ist normalerweise Schluss für Besucher, der Schlagbaum ist bewacht. Im Tour-Preis sind aber auch die staatlichen Dokumente mit enthalten, die zum Betreten der Sperrzone berechtigen.
Eine halbe Stunde später gibt es in der Stadt Tschernobyl eine Belehrung, die zu unterschreiben ist: strikte Anweisung durch den Veranstalter, keinerlei Haftung. "Die Strahlung hier ist mit 0,17 Mikrosievert mittlerweile so niedrig wie bei den meisten Leuten zu Hause", sagt Johny Pirogow, Reiseleiter bei Chernobyl Tour.
Zumindest dort, wo in der Zone über die Jahre Straßen, Häuser, Wiesen radioaktiv "gereinigt" worden sind. In Deutschland schwankt die natürlich vorkommende Strahlung beispielsweise zwischen 0,08 und 0,16 Mikrosievert pro Stunde. Zur Sicherheit erhält jeder Tourist auch einen eigenen Geigerzähler.
Nach einem Zwischenstopp am Denkmal der "Liquidatoren" auf Tschernobyls Hauptstraße geht es dann Richtung Kraftwerk. Der Bus fährt auf der neu geteerten Straße am verlassenen Dorf Leliv - hier nächster Kontrollpunkt - vorbei, dann kommt Kopatchi. Dieses Dorf war so stark verstrahlt, dass es komplett abgetragen und in ein Zwischenlager gebracht werden musste.
Dahinter wird die Baustelle von Reaktorblock 5 und 6 sichtbar: Tschernobyl sollte einst zum größten Atomkomplex der Welt ausgebaut werden mit zwölf Reaktoren. Erst 1988 beendete die Sowjetunion die Bauarbeiten, trotz der Reaktorkatastrophe wurde zwei Jahre lang an den menschenverachtenden Bauplänen festgehalten.
Das größte mobile Bauwerk der Welt
Am Horizont spiegelt sich dann eine riesige Kuppel in der Sonne, die heute den Havarieblock umhüllt: Der sogenannte "Sarkophag" - also die 1986 eilig errichtete Ummantelung des Reaktors - war nach 20 Jahren brüchig geworden, deshalb wurde seit 2010 eine neue Schutzhülle gebaut.
Das Projekt heißt "Arc", zu gut deutsch "Bogen". Das gewölbte Dach hat eine Spannweite von 257 Metern ist in der Mitte 108 Meter hoch und 162 Meter lang. Weil die Strahlung direkt am Kraftwerk immer noch zu hoch war, wurde der "Arc" einige hundert Meter entfernt auf Rädern gebaut: Das größte mobile Bauwerk der Welt. Seit 2019 umschließt er den Unfallreaktor, seine Lebensdauer ist auf 100 Jahre ausgelegt.
Wenn der Bus das Atomkraftwerk passiert hat, gibt es ein Highlight der Tour: Prypjat, die einstige Atomkraftwerkerstadt, in der damals 50.000 Menschen lebten. "Das war eine sozialistische Musterstadt", erläutert Reiseführer Johny Pirogow. Schwimmbäder, Kindergärten, Restaurants, Parks, Theater, Polikliniken, Bibliotheken, ein Stadion: Den Atomkraftwerkern sollte es an nichts fehlen.
Das Durchschnittsalter der Einwohner lag in Prypiat bei 26 Jahren, sie wurden erst 36 Stunden nach dem Unfall evakuiert. Reiseführer Pirogow: "Man ließ sie in dem Glauben, nach wenigen Tagen in ihre Wohnungen, in ihr Leben zurückkehren zu können." Das Dekret lautete: "Nur das Allernötigste mitnehmen!" Aber die Prypjater sollten in diesem Moment ihre komplette Vergangenheit verlieren, für immer.
Die ist heute noch erahnbar in der Stadt. In der Schule liegen immer noch die Mathehefte, Geschichtslehrbücher und Aufsätze, die Lenins Weitsicht preisen, es liegen immer noch die Notenbücher des Jahres 1986 auf dem Tisch. In der Turnhalle hängt immer noch das Kletterseil von der Decke, immer noch lassen sich manch sozialistische Wandzeitungen lesen. Immer noch steht die Schrankwand in der Wohnung, ist der Geburtstag von Irina im Wandkalender eingetragen.
Im "Kulturhaus der Energetiker" strahlen noch Reste der einst üppigen Wandmalereien, in den Trümmern liegt das Mischpult der Diskothek "Edison 2". Im Theatersaal steht ein Plakat mit der Aufschrift "CCCP - 60 ΛET" an der Wand, 60 Jahre UdSSR. "Butter", "Bier", "Obst" steht über den Regalresten im Zentralkaufhaus.
Das Sperrgebiet
Vieles allerdings ist mittlerweile zerstört, kaum eine Fensterscheibe blieb verschont, sogar der Vergnügungspark ist übersät mit leeren Wodkaflaschen. "Der Frust", sagt der Reiseleiter. Frust, Alkohol und Ohnmacht - im Prinzip haben Vandalen die ganze Stadt kurz und klein geschlagen.
Ursprünglich sollten Kinderkarussell, Autoscooter und Riesenrad am 1. Mai, dem Tag der Werktätigen, eröffnet werden. Das Riesenrad von Prypjat ist vermutlich das einzige auf der Welt, dass nie ein Kind in die Luft getragen hat. Tatsächlich spürt man hier, was die Tour zur "unheimlichsten" auf der Welt macht: Menschenglück, das von der atomaren Strahlung hinweggerissen wurde.
Mittagessen gibt es in der Kantine des Atomkraftwerks, auf Wunsch auch vegetarisch. "Danke, keinen Hunger", heißt es dann oft. Reiseführer Pirogow kennt das, regelmäßig würden hier die Touristen aussteigen. "Ich erkläre ihnen dann, dass das Sperrgebiet nie eine menschenleere Gegend war."
Anfang der 2000er Jahre waren es noch über zehntausend, die hier arbeiteten und in den 1990ern sogar noch deutlich mehr: Bis Mitte der 90er Jahre liefen die anderen drei Blöcke des Atomkraftwerks trotz Strahlung weiter, Block 3 sogar bis ins Jahr 2000.
Auch heute sind es immer noch einige tausend Menschen, es geht darum, die Reaktorblöcke zurückzubauen, auch ein Zwischenlager wird hier betrieben. Pirogow: "Tausende Arbeiter brauchen eine gute Kantine und es ist klar, dass die Speisen strahlenfrei sind." Radioaktivität gebe es hier genug und wer seine Dosis voll hat, der müsse die Sperrzone verlassen.
Tatsächlich birgt die Tour nach Tschernobyl natürlich immer noch Gefahren. Es gibt Gegenden, die nicht gesäubert sind, in denen die Strahlung immer noch sehr hoch ist. Auch über Moos schlägt der Geigerzähler deutlich höher aus als beispielsweise über Asphalt. Mediziner warnen vor der unnötigen Strahlendosis, die man sich bei diesem Trip einfängt, Wissenschaftler halten das Risiko für hoch.
"Im Grunde aber ist jeder Linienflug in zehn Kilometern Höhe strahlenintensiver", beschwichtigt Pirogow und weist auf die kosmische Strahlung hin. Jedenfalls werden es immer mehr Touristen, die den Trip in die Zone buchen, die ukrainische Regierung fördert das. Vor zehn Jahren fuhr man noch zu fünft im Van in die Zone, mittlerweile begegnen sich Reisebusse.
Tschernobyl als Welterbestätte
2018 soll die ukrainische Regierung 70.000 Genehmigungen erteilt haben, es gibt sogar den Versuch, mehrere Objekte in der Sperrzone für die Unesco-Liste des Weltkulturerbes vorzuschlagen. Die Idee dahinter: Tschernobyl als Welterbestätte aufzunehmen, was bedeuten würde, dass etwa die Atomruine dann auf einer Liste mit dem Taj Mahal in Indien, der Akropolis in Athen oder der Chinesischen Mauer stünde - als Stätte von "außergewöhnlichem universellen Wert".
"Tschernobyl war der Anfang vom Ende der Sowjetunion", erklärt der letzte Sowjet-Chef Michail Gorbatschow in der Dokumentation, die im Bus gezeigt wird. Für die Bewältigung der Katastrophe habe das Land derartig viele Ressourcen aufbringen müssen, dass für die Weiterentwicklung des Sozialismus einfach nichts mehr übrigblieb. Insofern gibt es gute Argumente für den "universellen Wert": Ausgerechnet die Atomkraft trieb den Sozialismus nach Gorbatschows Lesart in den Ruin. Noch heute sind die Folgekosten enorm, Experten beziffern sie auf 7 Prozent des ukrainischen Bruttosozialprodukts.
Freilich gab es 2019 bereits eine viel effektivere Werbung für die "Destination" als eine "Welterbe-Titel": die US-amerikanische Erfolgsserie "Chernobyl". Nach Angaben der Tourismus-Veranstalter hat das Fernsehspiel die Nachfrage um bis zu 40 Prozent gesteigert.