Stromknauf-Tweet der Berliner Polizei vor Gericht

Friedel 54 am 24,6.2017. Bild: Montecruz Foto/CC BY-SA-2.0

In letzter Zeit wurde die Übernahme von Polizeimeldungen zu politischen Protesten durch Zeitungen wieder verstärkt kritisiert. Gegen eine absurde Meldung von 2017 läuft eine Klage

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Vor allem in Berlin genießt der Begriff "Stromknauf-Tweet" eine gewisse Bekanntschaft. Damit ist eine Online-Meldung der Polizei vom 29. Juni 2017 gemeint. An jenem Tag wurde im Stadtteil Neukölln das selbstverwaltete Soziale Zentrum Friedel 54 mit Hilfe von 770 PolizistInnen geräumt. Vorangegangen war eine lange Kampagne gegen die Räumung der 13 Jahre lang von mehreren politischen Gruppen genutzten Räume zu Gunsten einer luxemburgischen Briefkastenfirma.

Am Tag der Räumung beteiligten sich rund 150 Menschen an einer Sitzblockade vor dem betroffenen Haus und angeblich halb so viele an einer im Innenhof des Hauses. Hunderte Menschen protestierten an den Polizeiabsperrungen. Das zu räumende Ladenlokal war unter anderem mit einer Betonwand verbarrikadiert.

Aufgrund der Kampagne und der aufgeheizten Stimmung in Sachen Berliner Immobilienmarkt war das öffentliche Interesse groß, was während der Räumung auch im Internet seinen Ausdruck fand. In diese Diskussion unter anderem der unnötigen Polizeigewalt wollte die Polizei intervenieren. Sie tat das unter anderem mit einer berühmt-berüchtigten Falschmeldung, die seitdem für Unmut und Belustigung sorgt.

Das von der Polizei veröffntlichte Türknauf-Foto.

Der Hergang ist durch seine parlamentarische Behandlung öffentlich geworden: Nachdem die Polizei in den Innenhof der Friedelstraße 54 vorgedrungen war, meldete sie um 10:40 Uhr intern, "an einer Kellertür im Innenhof ein eingeklemmtes Stromkabel und eine auf dem Podest [also vermutlich oben an der Treppe; R.H.] stehende Kabeltrommel" vorgefunden zu haben. Sie prüfte mit einem "handelsüblichen zweipoligen Spannungsprüfer", ob diese Gegenstände unter Strom standen, teilte die Polizei dem Landesparlament später mit. An der Kabeltrommel sei "eine konstante 230-Volt-Spannung" festgestellt worden, am Türknauf habe das Gerät "eine Spannung von bis zu 230 Volt angezeigt, die dann jedoch wieder abfiel". Die Polizei erbat bei der Stromnetzfirma die Unterbrechung der Stromzufuhr für das Haus, denn eine Lebensgefahr habe nicht ausgeschlossen werden können.

Schon um 10:54 Uhr veröffentlichte die Polizei dann auf Twitter die Meldung: "Lebensgefahr für unsere Kolleg. Dieser Handknauf in der #Friedel54 wurde unter !Strom! gesetzt. Zum Glück haben wir das vorher geprüft." Dazu gab es ein Foto von einer Tür, bei dem am unteren Bildrand undeutlich etwas zu sehen ist, das wie eine Steckdose am Ende eines Kabels (also wie bei einem Verlängerungskabel) aussieht und vor der Tür zu liegen scheint.

Irgendwann öffnete die Polizei die Kellertür und stellte fest, dass keine Stromquelle mit der Tür verbunden war. Vier weitere Türen im Haus prüfte sie auf Spannung, konnte aber keine feststellen. Um 12:04 Uhr wurde per Polizeifunk aus der Friedelstraße 54 gemeldet: "Es lag kein Strom auf einer Klinke, beziehungsweise auf einem Geländer im Objekt." Das wurde jedoch nicht veröffentlicht.

Vorverurteilungen in Zeitungen und Online-Plattformen

So verbreitete sich die Meldung von der lebensgefährlichen Stromfalle im ganzen Land. Auf Twitter konnten interessierte politische Akteure mit Hinweis auf den Polizei-Tweet ihr Weltbild bestätigt sehen - wie Sebastian Czaja, Vorsitzender der Berliner FDP-Fraktion. Große Medien übernahmen die Falschmeldung ebenfalls. Die Berliner Tageszeitung "Tagesspiegel" dichtete sogar hinzu, es habe sich um eine Tür "im Inneren" gehandelt.

Schlimmer ist, dass andere Medienleute in Kurzschlussreaktionen einen Anschlag unterstellten - dabei sagt selbst der skandalöse Polizei-Tweet nicht, dass mit Absicht eine Stromfalle gelegt wurde. Der öffentlich-rechtliche Sender "Radio Berlin", heute "RBB 88.8", twitterte: "Lebensgefährlicher Anschlagsversuch auf Polizisten bei Räumung #friedel54". Und Michael Sauerbier, der als Chef-Reporter BIlD Berlin-Brandenburg firmiert, schrieb: "#Mord-Versuch in #Berlin: Besetzer setzen Türknauf vor Hausräumung durch die #Polizei unter Strom #Friedel54".

Bemerkenswert bei all dem ist, dass schon auf Twitter von Beginn an nach Beweisen, oder überhaupt Erläuterungen der Kurzmeldung gefragt wurde, die Skepsis aber mit Hinweis auf den Polizeitweet abgetan wurde. Die "Berliner Zeitung" machte das besonders deutlich mit dem Tweet: "Die @polizeiberlin hat die Info noch einmal bestätigt und ist für uns eine verlässliche Quelle. Wer Gegenbeweise hat, kann sie uns schicken."

Als Reaktion auf geäußerte Zweifel twitterte die Polizei um 12:37 Uhr einen Hinweis auf ihre Ausgangsmeldung. Sie brauchte also nur 14 Minuten, um einen bloßen vagen Verdacht in eine Skandalmeldung umzusetzen, konnte aber 33 Minuten nach interner Richtigstellung des Verdachts keine Richtigstellung veröffentlichen. Das geschah erst am folgenden Tag, wieder auf Twitter.

Tagesspiegel am 30.6.2017

Klage wegen Eingriffs in Grundfreiheiten

Am 30. März 2019 haben zwei Mitglieder des Vereins, der die Friedel54-Räume gemietet hatte, eine Klage gegen den Polizei-Tweet eingereicht. Sie verlangen, dass der Tweet gelöscht und seine Rechtswidrigkeit festgestellt wird. Die mit Anhängen über 100 Seiten umfassende Klageschrift liegt Telepolis vor.

Die Polizei hat daraufhin den Tweet gelöscht, bestreitet aber eine Rechtswidrigkeit. "Die Gegenseite sagt, mit dem Tweet werde niemand direkt angesprochen, da aus der Angabe Friedel54 kein Personenbezug hergestellt werden könne", erklärt die Anwältin Anna Gilsbach, die die Klage führt, gegenüber Telepolis. Die Argumentation, warum die beiden Klagenden, nennen wir sie Friedel 1 und Friedel 2, sich in Grundfreiheiten eingeschränkt sehen dürfen, lautet wie folgt:

Friedel 1 war Vorstandsmitglied des Vereins und gehörte zu den bei der Räumung verbarrikadierten Personen. Friedel 2 machte die Pressearbeit für den Verein, auch während der Räumung, und wurde dabei auf die Falschmeldung angesprochen. Die Beiden sehen einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit und die Meinungsfreiheit. Der Tweet habe Leute davon abgeschreckt, sich an dem Protest während und nach der Räumung zu beteiligen. Die Polizei habe auf illegitime Weise in die öffentliche Meinungsbildung eingegriffen.

Es sei sichtbar - die Klageschrift enthält Presseartikel als Indizien dafür -, dass die Berichterstattung über die Kritik an der Räumung und die von vielen Medien festgestellte überbordende Polizeigewalt gegen die Sitzblockaden und die Presse in den Hintergrund, und die vermeintliche Stromfalle in den Vordergrund gerückt sei. (Nebenbei bemerkt: Dass die Polizei bei der Räumung einen Zaun im Hof zerstörte und laut einem Hausbewohner Fahrräder herumwarf, einen Kinderwagen beschädigte, ein Fahrradschloss zerschnitt und einen Abstellraum aufbrach, wurde dann nicht mehr berichtet.)

Wegen der mit diesem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht einhergehenden Rufschädigung bestehe ein Rehabilitationsinteresse. Eine Wiederholungsgefahr bestehe insoweit, als Friedel 1 Mitglied eines Kneipenkollektivs ist, das sich derzeit ebenfalls gegen seinen Rauswurf wehrt, und da Öffentlichkeitsarbeit macht. Friedel 2 sei weiterhin stadtpolitisch aktiv.

Die Klageschrift führt aus, dass die Polizei ihre "beamtenrechtliche Grundpflicht", das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot einzuhalten, verletzt habe. Die Formulierung des Tweets zeige, dass die Polizei damit "nicht lediglich die Öffentlichkeit informieren und auf eine Gefahr hinweisen" wollte. Tatsächlich gab es keinen Grund, per Internet den ganzen Planeten vor einer Kellertür in Berlin-Neukölln zu warnen. Zur Gefahrenabwehr reichte es, dass die Polizei die Tür in dem von ihr kontrollierten Innenhof bewachte.

Hingewiesen wird auch auf die Grundlagen der polizeilichen Nutzung von Twitter. "Eine Kommentierung oder Bewertung von Versammlungsabläufen via Twitter erfolgt seitens der Polizei Berlin nicht", schrieb der Berliner Senat 2015 in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zu den Grundsätzen der Nutzung solcher Online-Plattformen.

Den Korrektur-Tweet der Polizei am Tag nach der Räumung wird in der Klageschrift aus mehreren Gründen als unzureichend bewertet. Der Text sei erstens ungenau, weil er nicht explizit auf einen Irrtum hinweist oder den Vorwurf einer Falle zurücknimmt, und zweitens nur bei einem Klick auf den Tweet zu sehen. Zudem besteht keine visuelle Nähe zur Falschmeldung, der Korrektur-Tweet hat aber eine viel kleinere Verbreitung gefunden. Das Fehlverhalten der Polizei wird darin schon gar nicht deutlich.

Ein Fehlverhalten gab die Berliner Senatsverwaltung für Inneres im Juli 2017 übrigens nicht zu. Drei Wochen nach der Räumung antwortete sie auf eine parlamentarische Anfrage, die Polizei habe "zu jedem Zeitpunkt faktenbasiert auf Grundlage des aktuellen Sachstandes" getweetet.

Anwältin Gilsbach sagt, solche Klagen gebe es bisher so gut wie gar nicht, und merkt an: "Zum Beispiel bei den Protesten gegen den G7-Gipfel auf Schloss Elmau 2015 wurden Twitter-Meldungen der Polizei stark kritisiert, auch in Zeitungen, aber da hat niemand geklagt." Möglich sei das nur, wenn eine Falschmeldung sich gegen konkrete Personen richtet. Rechtsprechung zur polizeilichen Nutzung von Twitter gebe es so kaum.

Unkritische Medien übernehmen immer wieder Polizeimeldungen

Beängstigend ist der Fall aber auch in Sachen Journalismus. Offenbar haben viele Medien den absurden Polizei-Tweet als belastbare Quelle angesehen und sich nicht für die dahinter stehenden Fakten interessiert. Dabei muss diese Meldung eigentlich journalistische Nachfragen auslösen, denn so eine Stromfalle ist doch etwas Besonderes: Wie war sie konstruiert, wie gefährlich war sie, wie wurde sie entdeckt und beseitigt? Doch das fragte offensichtlich kaum jemand.

Die Richtigstellung am Tag nach der Räumung leitete die Polizei mit den Worten ein: "Was die Community interessiert, interessiert auch uns. Wir haben noch einmal genau bei unseren eingesetzten Kolleg. nachgefragt." Abgesehen davon, dass hier zugegeben wird, am Vortag nicht genau nachgefragt zu haben - die Korrektur wird nicht mit Presseanfragen begründet. Anscheinend hatten da nur die kleinen Online-Medien "Mieterecho online" und neukoellner.net nach Informationen zum Stromknauf gefragt. In "Mieterecho online" hielt ich damals fest, dass die Polizei auch bei der Richtigstellung keinen plausiblen Hergang schildern konnte und sich sogar in Widersprüche verwickelte, nämlich unterschiedliche Angaben dazu machte, wie die Tür letztendlich geöffnet wurde. Erst am Montag nach der Räumung vermittelte mir die Polizei den Erklärungsansatz "Kriechstrom".

Übernahme von Polizeimeldungen durch professionelle Medien wurde in den letzten Wochen wieder stärker kritisiert, sogar vom Deutschen Journalisten-Verband. Anlass war die Anti-Kohle-Aktion "Ende Gelände" zwischen Aachen und Köln im Juni. Da mussten die Polizei und dann auch beispielsweise der WDR die Nachricht zurücknehmen, einige der Protestierenden auf einem Kohlebagger hätten sich "mit Kot eingeschmiert, um es für die Polizisten unangenehm zu machen". Die Leute hatten sich mit Öl eingeschmiert.

Kritisiert wurde auch, dass die Zahl der verletzten PolizistInnen irreführend war. Erstens wurde schnell bekannt, dass von den 16 Verletzten nur vier den Dienst nicht fortsetzen konnten und von diesen vier sogar zwei ohne Fremdverschulden zu Schaden gekommen waren. Zweitens gab es auch bei einigen der restlichen sogenannten Verletzten keine Fremdeinwirkung. "Nach derzeitigem Stand sind etwa die Hälfte der Verletzungen aus der direkten Konfrontation zwischen Aktivisten und Polizeibeamten entstanden", teilte die Polizei Aachen Telepolis am 24. Juli zusammenfassend mit.

Dass der Ausdruck "verletzte Polizisten" wenig aussagekräftig ist, müsste eigentlich längst bekannt sein. 230 verletzte PolizistInnen etwa meldete die Polizei mehrere Tage nach den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017 (später erhöhte sie die Zahl beträchtlich). Davon hatten aber nur 21 am Tag nach ihrer Verletzung nicht arbeiten können. Der Großteil hatte wahrscheinlich nur am polizeilichen Tränengas, an Flüssigkeitsmangel oder Erschöpfung gelitten.

Bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2008 lautete eine der fragwürdigen Polizeimeldungen, es habe über 400 Verletzte in ihren Reihen gegeben, davon 30 schwer Verletzte. Es stellte sich aber heraus, dass nur zwei in ein Krankenhaus gekommen waren, von denen einer dort nicht mal über Nacht bleiben musste und der andere einen gebrochenen Fußknöchel hatte. Polizeiliche Meldungen während der Protesttage wurden sofort von Medien übernommen, was schon damals massiv kritisert wurde.

Aktuellere Fälle von irreführender Öffentlichkeitsarbeit der Polizei

An Pfingsten 2018 erfand sie einen politisch motivierten gefährlichen Angriff einer Menschenmenge auf das Haus eines Polizisten im niedersächsischen Hitzacker, und Medien bis nach Bayern gaben den Fall ohne eigene Recherche so wieder.

2016 setzte die Polizei Kiel die Falschmeldung in die Welt, zwei Afghanen (deren Staatsbürgerschaft eigentlich keine Rolle spielte) hätten drei Jugendliche belästigt und gefilmt, woraufhin eine große Gruppe die drei Opfer gejagt habe - alles falsch, wie sich nach einigen Wochen herausstellte.

Als die Hamburger Polizei 2014 ein Gefahrengebiet ausrief, in dem sie besondere Befugnisse hat, diente unter anderem ein erfundener Angriff von 30 bis 40 Menschen auf eine Polizeiwache als Rechtfertigung.

In Berlin wird der "Stromknauf" übrigens gern in einem Atemzug mit dem "Säurekonfetti" genannt. Im Februar 2016 wurden Berliner Polizisten bei einer Demonstration "vermutlich mit chemisch behandeltem Konfetti beworfen", mutmaßtedie B.Z. Berlin, weil sich Polizeiuniformen nach der Berührung mit dem Konfetti etwas verfärbt haben sollen. Zwei Wochen später gab dieselbe Zeitung Entwarnung: Am Konfetti waren keine Chemikalien festgestellt worden. Gelitten hatte darunter sowieso niemand.

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