Syrien: Türkei setzt auf gute Beziehungen zur al-Qaida-Miliz al-Nusra-Front
Idlib: Der maßgebliche "Kampf gegen den Terrorismus" der türkischen Regierung gilt den Kurden
Der Sekundenschlaf von Erdogan bei der Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko wundert nicht. Der türkische Präsident hat eine Menge Konflikte angeheizt, auf vielen unterschiedlichen Fronten und Ebenen, die schwer zu bändigen sind, beispielsweise den Visa-Streit mit den USA.
Die Ankündigung einer möglichen hohen Strafe für den deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner strapaziert das schwierige deutsch-türkische Verhältnis noch weiter, so dass mittlerweile von einer Reisewarnung für deutsche Urlauber die Rede ist.
Der Verdacht terroristischer Verbindungen
Der Prozess gegen die deutsche Journalistin Mesale Tolu, der heute in der Istanbuler Haftanstalt Silivri beginnt, gehört ebenfalls zu dieser Serie an Konflikten, die eins gemeinsam haben: Es geht immer um den Verdacht terroristischer Verbindungen. Grob gesagt um Verbindungen zu politischen Gegnern Erdogans.
Im Fall Tolu werden ihr Verbindungen zur Marxistisch Leninistische Kommunistische Partei MLKP und die FESK zur Last gelegt. Die Vorwürfe gegen Peter Steudtner sind weniger konkret: Laut der Sprecherin der Auswärtigen Amtes, Maria Adebahr, liege dem Ministerium die Anklageschrift noch nicht vor. Man wisse nur, dass es um "zwei getrennte Straftatbestände" gehe, namentlich um "Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Organisation".
Der Visa-Streit zwischen den USA und der Türkei schaukelte sich über die Festnahme eines Mitarbeiters des US-Generalkonsulats in Istanbul auf. Der Mann wird von türkischen Behörden verdächtigt, dass er mit der Gülen-Bewegung in Kontakt stehe und überdies ein Spion sei.
Türkische Verbindungen zur al-Qaida-Miliz
Diesen schablonenhaft vorgetragenen Anklagen der Verbindungen zu terroristischen Vereinigungen stehen anderseits eigenartige Verbindungen der Türkei zu terroristischen Vereinigungen gegenüber, exemplarisch zur al-Nusra-Front in Syrien, die trotz ihrer PR-Kosmetikversuche mit unterschiedlichen Namensgebungen zur al-Qaida-Familie gehört und entsprechend bei der UN katalogisiert wird. Jabhat al-Nusra ist eine terroristische Vereinigung.
Am vergangenen Sonntag hat Erdogan eine neue von der Türkei geleitete Operation in Nordsyrien, genauer in Idlib, angekündigt und die ersten Panzer dorthin geschickt. Man arbeite ähnlich wie zuvor bei der Operation Euphrates Shield mit FSA-Milizen zusammen, heißt es, um die Deesklationszone in Idlib abzusichern, ganz wie es die Astana-Vereinbarung vorsieht. Demnach soll Russland sich um die Absicherung der äußeren Grenzen der Deeskalationszone kümmern und die Türkei um die innere Einhaltung der Waffenruhe. Dazu sollen etwa 500 Beobachter in Idlib postiert werden.
Es ist ein riskantes Vorhaben wegen der al-Qaida-Miliz, so der Lagebefund, wie er von Kennern ausgestellt wird. Dem ist als größerer Rahmen hinzufügen, dass es zu dieser Situation in dieser Ausprägung nicht gekommen wäre, wenn die Türkei nicht seit Beginn der kriegerischen Versuche, die syrische Regierung zu kippen, die Logistik der Dschihadisten unterstützt hätte.
Hätte die Türkei von Beginn der Auseinandersetzungen ab 2011 und in den folgenden Jahren nicht die Grenzen durchlässig gehalten für den Zustrom von Rekruten, Kämpfern, Waffen, Kriegsgerät und anderes notwendiges Material für die Milizen, die im Nachbarland ein Emirat errichten wollten, hätten die Umstürzler weitaus weniger militärische Schlagkraft entwickeln können.
Das ist das Mindeste, was man der Türkei an gewährter Hilfeleistung unterstellen kann. Es gab im Laufe der Jahre sehr viele Hinweise darauf, dass das Gewährenlassen auch mit aktiver Hilfe gekoppelt wurde. Ohne jetzt auf die Belastbarkeit der Vorwürfe der Mitwirkung türkischer Geheimdienste bei Waffen- und Materialieferungen an die al-Nusra-Miliz oder ihren langjährigen Kampfgenossen von Ahrar al-Sham einzugehen, ist schon die aktive, politische Förderung der syrischen Opposition, die Verbindungen zu den Kampfmilizen hatte, ein deutliches Zeichen dafür, dass die Türkei jahrelang die bewaffnete Gegnerschaft zu Baschar al-Assads Regierung nach Kräften gefördert hat.
Furcht vor der nächsten humanitären Katastrophe in Idlib
Die augenblickliche Situation in Idlib, das an die Türkei grenzt, ist also auch, und nicht zu einem geringen Teil, Resultat der türkischen Politik, die jahrelang auf einen Machtwechsel in Damaskus setzte und mit der Opposition paktierte. Daher auch ihre von den Astana-Abmachungen zugewiesene Rolle als Garantiemacht, die für die Opposition verantwortlich ist.
Das Problem, dem sie nun gegenüber steht, ist die al-Qaida-Miliz Jabhat al-Nusra, die mittlerweile unter Hayat al-Tahrir al-Sham (HTS) firmiert. Dass der laut russischen Informationen schwerverletzte al-Nusra-Chef Julani (HTS-Mitglieder bestreiten dies beflissen über soziale Netzwerke) als Emir des HTS eingesetzt wurde, sagt die Hauptsache zur Dominanz und Prägung der HTS.
Vom Verhalten der al-Qaida-Miliz hängt ab, ob sich in Idlib die nächste humanitäre Katastrophe entwickelt, schreibt der schwedische Journalist Aron Lund. Laut der UN-Nothilfe-Behörde OCHA leben in Idlib derzeit etwa 2 Millionen Menschen. Einen "substantiellen Anteil" stellen Binnenflüchtlinge.
Drei von vier Bewohnern hängen laut OFHA von der Hilfe von außen ab. Diese wiederum hängt davon ab, wie die Lage in der Provinz ist. Mit anderen Worten: Entschließt sich die al-Qaida-Miliz zum Krieg, dann stellen die Hilfsorganisationen aus Sicherheitsgründen ihre Lieferung und ihre Betreuung ein.
Nun kann man Lund nachsagen - und er hat das an vielen Stellen gezeigt -, dass er mit Strömungen der bewaffneten Opposition sympathisiert und dem russischen Militäreinsatz in Syrien sehr kritisch gegenübersteht. So ist sein Blick auf die Situation in Idlib auf die Situation der anderen Milizen in Idlib gerichtet. Er verfolgt aufmerksam, wie sie gegenüber al-Nusra auf Abstand gehen und wie sich Animositäten verstärken.
Die Spannungen, die er schildert, dürften nicht seiner Phantasie entsprungen sein. Demnach wäre es nicht unwahrscheinlich, dass al-Nusra aus seiner Lage mit dem Rücken zur Wand heraus, auf gewalttätige, kriegerische Mittel zum Machterhalt greift und die Lage eskaliert. Umso mehr als die al-Nusra laut Lund befürchtet, dass ihre Milizenmitglieder überlaufen - nämlich zur türkischen Seite. Es wäre nicht das erste Mal, dass die "Uniform" getauscht wird.
Gespräche mit al-Nusra: Pufferzone bei Afrin
Die Türkei werde sich von bewaffneten Auseinandersetzung mit der al-Nusra-Front in Idlib fernhalten, darauf läuft Elijah Magniers Analyse hinaus. Seiner Auffassung nach kann sich die türkische Armee und ihre FSA-Verbündeten keine solche Konfrontation mit der überlegenen al-Qaida-Kampftruppe leisten.
Bislang hatte dies die Türkei auch gar nicht vor. Wie mehrere Quellen bestätigten, darunter auch Charles Lister mit seinen guten Beziehungen zu Dschihadisten-und Milizenkreisen, gab es Unterredungen zwischen türkischen Vertretern, Milizenführern und der al-Nusra-Miliz. Zwischenstand ist, dass man sich auf einen Korridor einigte, aus dem al-Nusra abziehen soll, um Kämpfe zu vermeiden.
Wenig verwunderlich befindet sich die vereinbarte "Pufferzone", wo sich al-Nusra fernhalten soll und die Türkei das Sagen hat, genau an der Grenze zum kurdischen Afrin. Sie verläuft von Atme über Darat Izza nach Anadan, ihre Lage ist in der Karte zu diesem Bericht sehr deutlich zu erkennen.
Das fügt sich bestens zum großen Rahmen der türkischen Politik: Das kurdische Afrin wird von mehreren Seiten abgesperrt (vgl. auch hier). In Afrin leben die "Terroristen", die Erdogan tatsächlich bekämpfen will. Das ist sein erstes Interesse. Man darf gespannt sein, was aus der al-Nusra-Front wird.
Manche Beobachter spekulieren damit, dass sie sich einen neuen Namen und "neue Kleider" zulegt, um russischen Bombenangriffen zu entgehen. Vorstellbar sei auch, dass einige Mitglieder Exil in der Türkei finden.