Tatverdächtiger kurz vor Messerattacke "psychisch unauffällig"
Bei Entlassung aus der U-Haft wenige Tage vor den Morden im Regionalzug war Ibrahim A. psychiatrisch beurteilt worden – ohne besondere Auffälligkeiten. Eine Abschiebung des Staatenlosen war kaum möglich.
Nur wenige Tage vor der Messerattacke, bei der am Mittwoch in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei junge Menschen starben und weitere Fahrgäste verletzt wurden, ist der mutmaßliche Täter psychiatrisch beurteilt worden – besondere Auffälligkeiten wurden dabei nicht festgestellt.
Schon im Rahmen seiner knapp einjährigen Untersuchungshaft sei er in der Hamburger Justizvollzugsanstalt Billwerder psychiatrisch betreut worden, teilte die Hamburger Justizbehörde am Donnerstag mit. Grund für die Betreuung seien Tätlichkeiten gewesen, in die er zwei Mal in der Haftanstalt verwickelt gewesen sei.
Die Untersuchungshaft war demnach wegen eines Gewaltdelikts verhängt worden – eine Verurteilung sei auch bereits erfolgt. Die dabei verhängte Freiheitsstrafe sei aber durch die U-Haft fast vollständig verbüßt gewesen, hieß es am Donnerstag weiter. Der Haftbefehl gegen den 33-jährigen staatenlosen Palästinenser sei deshalb am Donnerstag vergangener Woche aufgehoben worden.
"Ein Psychiater hat kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt", sagte eine Behördensprecherin laut einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Deshalb habe es auch keine belastbaren Anhaltspunkte gegeben, um eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten.
"Anders als bei der Außervollzugsetzung eines Haftbefehls bestehen bei der Aufhebung eines solchen keine Möglichkeiten, Auflagen oder Weisungen zu erteilen." Der Mann war nach Behördenangaben seit seiner Einreise im Jahr 2014 mehrfach im Zusammenhang mit Gewaltdelikten aufgefallen.
Nach Berichten der dpa unter Berufung auf Sicherheitskreise liefen gegen ihn Verfahren wegen Bedrohung, Körperverletzung, sexueller Belästigung und Ladendiebstahl. Manche davon scheinen aber angesichts schlechter Beweislage eingestellt worden zu sein.
2016 sei er zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden, weil er in Bad Münstereifel einen Mann geschlagen und mit einem Messer im Gesicht verletzt habe, berichtet der Focus. Ansonsten seien Geldstrafen wegen Drogenverstößen und Diebstahls in NRW, wo er die meiste Zeit gemeldet war, aktenkundig.
Nun wird Ibrahim A. zweifacher Mord und versuchter Totschlag in vier Fällen vorgeworfen. Am Mittwoch soll er in dem Regionalzug mit einem Messer auf andere Fahrgäste eingestochen haben. Dabei wurden eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger getötet, fünf weitere Menschen zum Teil schwer verletzt, bevor andere Fahrgäste den Angreifer überwältigen konnten
Spitzenpolitiker versprechen Aufarbeitung, AfD geißelt "Kuscheljustiz"
Der Zug stoppte anschließend in der Ortschaft Brokstedt, wo am Donnerstag Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther den Rettungs- und Einsatzkräften dankte. Mit ihm war auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nach Brokstedt gereist.
Sie stellte eine umfassende Aufarbeitung in Aussicht: Es müsse aufgeklärt werden, wie es sein konnte, "dass ein solcher Täter noch hier im Land war" – und wie es passieren konnte, "dass er trotz so vieler Vorstrafen nicht länger in einer Justizvollzugsanstalt war".
Die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) sprach am Donnerstag den Opfern und Angehörigen ihr "tiefstes Mitgefühl" aus. "Auch wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dass diese schreckliche Tat von den zuständigen Behörden aufgeklärt wird", versprach sie.
"Alle betroffenen Behörden der verschiedenen Bundesländer sind mit der gründlichen Sachverhaltsklärung beschäftigt und im engen Austausch." Auch der Justizausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft werde sich bei seiner nächsten Sitzung mit dem Fall befassen.
Vor allem stellt sich die Frage nach dem Motiv – von einem dschihadistischen Hintergrund gingen die Ermittler zunächst nicht aus. Dass sich der Mann noch im Land befand und auch nicht als ausreisepflichtig galt, hat wohl auch damit zu tun, dass sein Herkunftsland in Deutschland nicht als Staat anerkannt wird. Eine Abschiebung dorthin ist nicht ohne weiteres möglich. Kein anerkannter Staat ist umfassend für ihn zuständig.
Ungeachtet dieser Rahmenbedingungen sprach in Hamburg AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann von "Kuscheljustiz", die ein Ende haben müsse; ebenso wie eine "rot-grüne Politik der offenen Grenzen".