Technokratie: Das neue Priestertum
Elon Musk und die utopischen Wurzeln der Technokratie. Urbilder der Ideologie, die zunehmend politische Entscheidungen prägt. Was das für unsere Zukunft bedeutet.
Der US-amerikanische Blogger und Autor Patrick Wood hat sich tief in die Ideologie der technokratischen Bewegung eingearbeitet. Entsprechende Analysen, wie etwa der sehr gut recherchierte Beitrag des kanadischen Rundfunksenders CBC, rufen ihn nicht umsonst als Experten auf.
Wood hat aber auch über die Historie hinaus gearbeitet. Er sieht die Doktrin der Technokraten auch in ganz bestimmten späteren Weltanschauungen aufgehoben, die bis heute die politische Diskussion prägen.
In seinem Buch Technocracy Rising (2015) definiert Wood besagte Doktrin wie folgt:
Die in den frühen 1930er-Jahren entstandene Technokratie steht im Gegensatz zu allen amerikanischen Institutionen, die uns zur größten Nation der Welt gemacht haben. Sie lehnt Eigentumsrechte ab, erklärt den Kapitalismus für obsolet, hasst Politiker und traditionelle politische Strukturen und verspricht einen erhabenen utopischen Traum, der nur möglich ist, wenn Ingenieure, Wissenschaftler und Techniker die Gesellschaft führen dürfen.
Patrick Wood, Technocracy Rising
Wohl aber beruft sich Wood explizit auf einen Aspekt jenes technokratischen Traums, der sich scheinbar konträr zu den Überzeugungen des designierten Effizienzministers Elon Musk verhält:
Als Aldous Huxley 1932 "Schöne neue Welt" schrieb, sah er diesen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel voraus und prophezeite, dass am Ende eine wissenschaftliche Diktatur stehen würde, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte.
Tatsächlich verändert die Technokratie Wirtschaft, Regierung, Religion und Recht. Sie regiert durch Regulierung statt durch Rechtsstaatlichkeit, Politik wird von nicht gewählten und nicht rechenschaftspflichtigen Technokraten gemacht, die in Regierungsbehörden sitzen, und regionale Regierungsstrukturen ersetzen souveräne Einheiten wie Städte, Bezirke und Staaten.
Patrick Wood, Technocracy Rising
Wissenschaftler in einer neuen Theokratie
Als direkte Vorbilder des technokratischen Weltbilds nennt Wood den französischen Philosophen Henri de Saint-Simon und dessen Landsmann Auguste Comte. Letzterer gilt nicht nur als Vater der modernen Sozialwissenschaft, sondern auch des Positivismus – dessen Prämisse ist, dass nur messbare, wissenschaftlich beweisbare Tatsachen allgemeine Gültigkeit beanspruchen dürfen. Nicht etwa mythologische Überlieferungen bzw. übersinnliche, esoterische Überzeugungen.
Saint-Simon übersetzt den Positivismus Comtes' in eine politische Norm. Wie der Soziologe hält auch der Philosoph zwar an den moralischen Prinzipien der (christlichen) Religion fest, erhebt aber den Anspruch, sie zu "säkularisieren".
Zu diesem Zweck sollen an die Stelle der kirchlichen Eliten Wissenschaftler, Industrielle und Ingenieure treten, die ihre Autorität daraus ableiten, die geeignetsten Verwalter der bestehenden "Sachzwänge" zu sein.
Die Saint-Simonisten werden die Überlegungen des Meisters später zum Anlass nehmen, ein neues "Priestertum" zu fordern, welches die "industrielle Religion" predigt.
Als letzte Instanz der technokratischen Dreifaltigkeit schließlich macht Wood Frederick Winslow Taylors Methode der wissenschaftlichen Betriebsführung ("scientific management") aus, welche nicht nur in der Sphäre der Produktion (vgl. Fordismus) Anwendung gefunden hat, sondern mit ihrem Versprechen einer wissenschaftlich begründeten Effizienzsteigerung auch im politischen Raum Widerhall findet.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Technokratie schließlich als eine Manifestation der Gesellschafts-Wissenschaft verstehen, als "social engineering", als soziale Steuerung. Letztlich, und damit ist der Anknüpfungspunkt an unser Internet-Zeitalter gefunden, an die Kybernetik (vom Griechischen "kybernetes" = Steuermann).
Mit der Steuerung und Transzendierung der materiellen Natur, also der natürlichen, "gottgegebenen" Beschränkungen, scheint für die Technokraten am zivilisatorischen Horizont auch die Steuerung und Transzendierung des Menschen selbst – schließlich: der Evolution – auf.
Jetzt, da die Größe des Planeten bekannt ist, sollte man Wissenschaftler, Künstler und Industrielle dazu bringen, einen allgemeinen Plan für Unternehmungen zu entwerfen, um den menschlichen Herrschaftsbereich in jeder Hinsicht so produktiv und angenehm wie möglich zu gestalten.
Patrick Wood, Technocracy Rising
Gleichzeitig verfällt diese Form des Szientismus, des schier unbedingten Glaubens an Wissenschaft und Technik, selbst wieder zurück in religiöses oder: magisches Denken. Diesem Phänomen haben sich Max Horkheimer und Theodor Adorno unter dem Namen "Dialektik der Aufklärung" bzw. "Kritik der instrumentellen Vernunft" gewidmet.
An der Stelle des Schöpfergottes
Die technokratische Utopie hat ihr "Urbild", um sich eines hintergründigen Ausdrucks zu bedienen, im Philosophenstaat des antiken griechischen Philosophen Platon (Politeia) sowie seiner Schilderungen des untergegangenen Idealstaates Atlantis (Timaios, Kritias).
In den Grundzügen bleibt dieses Urbild über Jahrhunderte erhalten, etwa in Thomas Morus’ "Utopia" (1516), Tommaso Campanellas "La città del sole" (1602) oder Francis Bacons "New Atlantis" (1626).
Das Motiv einer durch Wissenschaft und Technik gestalteten, geordneten Zivilisation wird aber nicht nur in der Renaissance, sondern auch in der Moderne aufgegriffen. Darunter in sozialistischen Schriften wie dem "Maschinenfragment" in Karl Marx’ "Grundrisse(n) der politischen Ökonomie" (1857–1859), in den sozialistischen Vorstellungen von H.G. Wells und den Fabianern oder in der Utopie "Walden Two" (1948), in welcher der Behaviorist Burrhus Frederic Skinner eine konditionierte Gesellschaft beschreibt, die das autonome Individuum zur Fiktion erklärt hat.
Gemeinsam ist all diesen Gesellschaftsentwürfen, dass in ihnen das Privateigentum in der ein oder anderen Form abgeschafft wurde. Entsprechungen finden sich aber auch in der Auflösung der Familie als Einheit der Sozialisierung, einem gesteuerten politischen Diskurs (sprich: Zensur) oder dem (wissenschaftlichen Eingriff) in die menschliche Evolution.
Auch Edward Bellamys retrospektive Utopie Looking Backward 2000-1887 kann zu diesem szientistischen Kanon gezählt werden. Wie wir sehen werden, spielt dieses Werk auch für die technokratische Bewegung eine besonders bedeutende Rolle.
Eine enge Verwandtschaft unterhält der Szientismus auch zu den altertümlichen Vorstellungen der Gnostiker, welchen zufolge – stark verkürzt – ein Schöpfergott (als böser "Demiurg") losgelöst vom eigentlichen Gott existiert.
Zum "echten" Gott findet der Mensch nach der gnostischen Lehre durch die Ausbildung seiner Geisteskraft, seinem "göttlichen Funken" und der Entdeckung des arkanen, geheimen Wissens (Altgr. "gnō̂sis" = Erkenntnis, Wissen). Der Sündenfall, den die jüdisch-christliche Religion beklagt, wird damit gewissermaßen zum Befreiungsschlag.
Die Usurpation der Rolle des Schöpfergottes ist nicht länger Blasphemie, sondern Gottesdienst.
Im nächsten Teil der Serie geht es um die Technokratie als historische Bewegung.
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