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Telepolis exklusiv: EU-Staaten planen Sanktionen gegen Sittenpolizei im Iran (Update)

Harald Neuber

Bei der Berufswahl falsch abgebogen: "Sittenwächter:innen" im Iran. Bild: Ebrahim Noroozi, CC BY 4.0

Themen des Tages: Details über Strafmaßnahmen der EU gegen Iran. Jeffrey Sachs: USA für Nord-Stream-Sabotage verantwortlich. Und ein "feindseliger Akt" der Opec+.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Warum die iranischen Sittenwächter ihre Konten in der EU räumen und Reisepläne stornieren sollten.

2. Wer nach Ansicht eines renommierten US-Ökonomen und UN-Funktionärs für die Nord-Stream-Sabotage verantwortlich ist.

3. Und wie die erdölexportierenden Staaten die Energiekrise im Westen eskalieren.

Doch der Reihe nach.

EU wird am 17. Oktober neue Iran-Sanktionen erlassen (mit Update)

Weitere EU-Mitgliedsstaaten haben sich einem Vorschlag der Bundesregierung und Frankreichs zur Ausweitung der Sanktionen gegen die iranische Führung sowie staatliche Organisationen in der Islamischen Republik angeschlossen. Erstmals soll auch die sogenannte Sittenpolizei in Gänze auf die EU-Sanktionsliste gesetzt werden. Das erfuhr Telepolis aus Diplomatenkreisen.

Demnach unterstützten bei einer Sitzung der Ratsarbeitsgruppe zum Mittleren Osten und der Golfregion am Dienstag alle an der Aussprache teilnehmenden Diplomaten den Vorstoß aus Berlin und Paris.

Am Montag hatte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel erstmals berichtet, dass ein entsprechendes Vorhaben in Brüssel von Deutschland und Frankreich vorgebracht und von Dänemark, Italien, Spanien sowie Tschechien unterstützt worden war. Nach Telepolis-Recherchen stellten sich am Dienstag nun zwölf weitere Staaten hinter den Vorstoß.


Update: Inzwischen bestätigt auch ein EU-Bericht die Pläne, die iranische Sittenpolizei zu sanktionieren. Laut dem Dokument, das Telepolis exklusiv vorliegt, hat die österreichische Delegation in Bezug auf die Sanktionsliste gefragt, "wie eine Organisation wie die Sittenpolizei in Gänze gelistet werden könne". Die Vertreter des Europäischen Auswärtigen Dienstes und des Juristischen Dienstes des Rates antworteten demnach, "dass solche Listungen üblich seien". Natürlich würde nicht jedem Mitglied einer Organisation eine Reisebeschränkung auferlegt. Das Vermögen der Organisation würde jedoch eingefroren.


Inzwischen ist die Debatte offiziell, wie dieses Dokument, das Telepolis vorliegt, belegt.

Die Bundesregierung hatte für die zusätzlichen Strafmaßnahmen angesichts der Proteste und der Gewalt im Iran plädiert. Der EU seien 16 konkrete Vorschläge unterbreitet worden, um gegen Einzelpersonen und Organisationen im Iran Sanktionen zu erlassen.

Ziel seien Konsequenzen für diejenigen, die den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini zu verantworten haben. Die junge Kurdin war am 13. September von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen worden und starb in Haft unter bislang ungeklärten Umständen.

Bei den Beratungen am Dienstag in Brüssel bekräftigte die deutsche Delegation die Notwendigkeit weiterer Strafmaßnahmen und drängte auf schnelles Handeln.

Im Iran würden Rechte der Frauen, das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Informationsrecht verletzt beziehungsweise eingeschränkt, hieß es nun von deutscher Seite. An die Wahrung dieser Rechte sei der Iran als Vertragspartei des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte gebunden.

Handwerkliche Fehler in Vorlage aus Berlin

Die neuen Sanktionen gegen Akteure im Iran sollen beim Außenministertreffen am 17. Oktober beschlossen werden. Bis dahin müssten jedoch mindestens vier der 16 aus Berlin vorgelegten Neulistungen gestrichen oder neu begründet werden, hieß es von Europäischen Rat. Ihnen wurden in der von Berlin vorgelegten Form keine Chance eingeräumt, erfolgreich und dauerhaft Bestand zu haben. Mit anderen Worten: Die Gelisteten hätten nach Ansicht der EU-Ratsexperten voraussichtlich erfolgreich gegen die Aufnahme in den Sanktionskatalog klagen können.

Die neuen Sanktionsvorschläge stießen nach Telepolis-Recherchen bei einzelnen Mitgliedsstaaten jedoch auch auf Vorbehalte. Sie könnten, hieß es am Dienstag, die laufenden Verhandlungen um den Fortbestand des Atomabkommens mit Iran gefährden. Dennoch wurde das überarbeitete Paket nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Eine entsprechende Durchführungsverordnung soll im Laufe dieser Woche auf EU-Arbeitsebene bestätigt und für das Außenministertreffen am 17. Oktober vorbereitet werden. Die EU will die Sanktionen zudem mit den USA, Kanada, Großbritannien und Australien abstimmen.

Die USA hingegen haben bereits weitere Maßnahmen gegen Teheran angekündigt. Washington werde "weiterhin iranische Beamte zur Rechenschaft ziehen und die Rechte der Iraner auf freie Proteste unterstützen", hatte US-Präsident Joseph Biden am Montag bekräftigt. Allerdings machte Biden zunächst keine weiteren Angaben zu den geplanten Maßnahmen.

Die iranische Führung interpretiert die Sanktionsdrohungen aus dem Westen als Beleg für ihre These, dass die Proteste aus dem Ausland gesteuert seien. Teherans Außenamtssprecher Nasser Kanani hielt der US-Regierung am Dienstag "Unaufrichtigkeit" vor.

Es wäre besser für Biden gewesen, er hätte etwas über die Menschenrechtslage im eigenen Land nachgedacht, bevor er humanitäre Gesten macht, auch wenn Heuchelei nicht durchdacht sein muss.

Nasser Kanani

Die Sanktionen des Westens richteten sich "gegen die iranische Bevölkerung" und seien ein "Beispiel für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", so Kanani weiter.

Die EU hatte zuletzt Ende Juni ihre bestehende Sanktionsliste aktualisiert und Anträge auf Deindizierung abgelehnt. Ein entsprechendes Gesuch hatte etwa die Shahid Beheshti University – die einstige Nationaluniversität des Iran – an Brüssel gestellt.

Artikel zum Thema:

Redaktion Telepolis: Medienbericht: EU bereitet Sanktionen gegen Iran vor [1]
Oliver Eberhardt: Proteste im Iran: Warum es um mehr als um das Kopftuch geht [2]
Harald Neuber: Kopftuch ab! Wie Medien in der Iran-Krise versagen [3]

Jeffrey Sachs: USA und Polen hinter Nord-Stream-Sabotage

Der US-Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs hat den Verdacht geäußert, dass die USA für die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee verantwortlich sind [4]. Gegenüber dem US-Nachrichtenportal Bloomberg sagte der US-Ökonom und Direktor des UN Sustainable Development Solutions Network, die USA seien womöglich von Polen unterstützt worden:

Die (Sabotage der) Nord-Stream-Pipeline, denke ich, war eine Aktion der USA, vielleicht auch USA und Polen.

Jeffrey Sachs

Auf Nachfrage der Bloomberg-Journalisten, welche Belege er für seine Mutmaßungen habe, verweis Sachs auf Radar-Daten, die Helikopter des US-Militärs über den Nord-Stream-1- und -2-Pipelines zeigten. Normalerweise seien diese Militärhubschrauber im polnischen Gdansk (Danzig) stationiert.

Auch habe es von Vertretern der US-Regierung mehrere "Drohungen" gegeben, Nord Stream 2 zu beenden. In diesem Zusammenhang verwies Sachs auf eine Äußerung des US-Außenministers Anthony Blinken, die Telepolis am Mittwoch auch erwähnt hatte. Blinken hatte die Havarie als eine "enorme strategische Chance für die kommenden Jahre" bezeichnet [5].

Im Netz kursierten diese Woche bereits Bilder angeblicher Trackingdaten [6], die auch US-amerikanische Militärschiffe im Havariegebiet zeigen sollen. Telepolis konnte diese Beiträge zunächst nicht unabhängig überprüfen. Allerdings war die Nato nach eigenen Angaben bereits früher im Jahr mit speziellen Tauchkommandos bei Bornholm im Einsatz [7].

Nach Angaben von Nachrichtenagenturen wurde die Leitung Nord Stream 2 bei dem mutmaßlichen Angriff offenbar weitaus weniger beschädigt, als zunächst angenommen – oder sogar verschont. "Was Nord Stream 2 betrifft, so ist diese Pipeline nach vorläufiger Einschätzung tatsächlich in technisch geeignetem Zustand", so Russlands Energieminister Alexander Nowak am Mittwoch im Staatsfernsehen. Russland sei in der Lage, über Nord Stream 2 Gas nach Europa zu liefern. Nowak forderte zugleich eine Beteiligung Russlands an den Ermittlungen zur Sabotage.

Das Bundeskriminalamt warnte nach den mutmaßlichen Angriffen auf die Pipelines in der Ostsee laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vor weiteren Sabotageakten gegen die kritische Infrastruktur. Dies gehe aus einem Schreiben der Behörde an Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Wirtschaft hervor.

Artikel zum Thema:

Harald Neuber: Nato war bei Nord-Stream tauchen, Biden bietet neuen Taucheinsatz vor Bornholm an [8]
Harald Neuber: Was bei der Debatte über die Nord-Stream-Lecks falsch läuft [9]
Bernd Müller: Leck in Nord-Stream-Pipelines: Wer sprengte die Gasleitungen? [10]

Westen ächzt unter Energiekrise. Opec+ drosselt Erdöl-Förderung

Telepolis berichtet heute über ein Treffen der Energieminister in Wien, die dem Ölkartell OPEC+ angehören. Sie haben sich darauf geeinigt, ihre Ölproduktion zu drosseln; ab November sollen zwei Millionen Barrel pro Tag weniger gefördert werden, so Telepolis-Autor Bernd Müller:

Nach eigenen Angaben versuchen die Länder mit diesem Schritt, den weltweiten Ölpreis zu stabilisieren. In den letzten drei Monaten war dieser von 120 US-Dollar pro Barrel auf etwa 90 US-Dollar gefallen. Hintergrund dieses Absturzes war unter anderem die Furcht vor einer globalen Rezession. Aber auch die steigenden Zinsen in den USA und der starke Dollar spielten eine Rolle.

Der US-Nachrichtensender CNN hatte am Dienstag über Panik im Weißen Haus berichtet. Eine Kürzung der Fördermenge solle in der US-Regierung als "totale Katastrophe" bezeichnet worden sein. Es wurde auch gewarnt, dass die Entscheidung als "feindseliger Akt" gewertet werden könne.

Steigende Energiepreise: Rund 900 Stadtwerke in Gefahr

Rund 900 Stadtwerke sind von den massiv steigenden Energiekosten betroffen, berichtet heute Telepolis-Autor Christoph Jehle:

Die Regionalversorger und die Stadtwerke sind vielfach auch die Grundversorger, auf welche die Endkunden zurückfallen, wenn sie ihr bisheriger meist kostengünstiger Versorger aus dem aktuellen Vertrag entlässt oder dieser ausläuft. Dies trifft aktuell übrigens nicht nur Privat- und Firmenkunden, sondern auch zahlreiche Kommunen, deren Bezugsverträge auslaufen.

AKWs verlängert, Neun-Euro-Ticket ausgelaufen?

Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn widmet sich heute der Zukunft des Neun-Euro-Tickets und der Debatte über verlängerte Laufzeiten für Atomkraftwerke. Zum Neun-Euro-Ticket berichtet er:

Derweil hat eine Kampagne "9-€-Ticket weiterfahren!" 20.000 Unterschriften unter eine Petition gesammelt, die die unbefristete Fortführung des günstigen Tickets fordert. Am morgigen Freitag soll sie dem Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) übergeben werden. Gefordert wird darin unter anderem, massive Investitionen in Bahn und Bus, wozu auch mehr und besser bezahltes Personal gehört. Dafür müssten Haushaltsmittel umgeschichtet werden. Statt einseitig den Autoverkehr zu fördern, müsse Mobilität für alle ermöglicht werden.


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Medienbericht-EU-bereitet-Sanktionen-gegen-Iran-vor-7282781.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Proteste-im-Iran-Warum-es-um-mehr-als-um-das-Kopftuch-geht-7281568.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Kopftuch-ab-Wie-Medien-in-der-Iran-Krise-versagen-7275264.html
[4] https://www.bloomberg.com/news/videos/2022-02-23/columbia-s-sachs-criticizes-nato-s-handling-of-ukraine-video
[5] https://www.heise.de/tp/features/Wie-Karl-Lauterbach-kurzzeitig-in-den-Krieg-zog-7284401.html?seite=2
[6] https://twitter.com/jafeap/status/1575474474790670338
[7] https://www.heise.de/tp/features/Wie-Karl-Lauterbach-kurzzeitig-in-den-Krieg-zog-7284401.html?seite=2
[8] https://www.heise.de/tp/features/Wie-Karl-Lauterbach-kurzzeitig-in-den-Krieg-zog-7284401.html?seite=2
[9] https://www.heise.de/tp/features/Was-bei-der-Debatte-ueber-die-Nord-Stream-Lecks-falsch-laeuft-7282983.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Leck-in-Nord-Stream-Pipelines-Wer-sprengte-die-Gasleitungen-7277723.html