Test in Afghanistan: "Signifikante Reduktion der Gewalt"
Als Vorlauf zur Unterzeichnung eines Abkommens zwischen den USA und den Taliban wollen sich beide Parteien eine Woche lang mit kriegerischen Akten zurückhalten. Danach wird das Islamische Emirat vorbereitet?
Ab Mitternacht heute, Samstag, den 22.02.2020, soll die Bevölkerung in ganz Afghanistan eine Woche lang vom Krieg verschont bleiben. Die USA und die Taliban haben sich für diesen Zeitraum auf eine "signifikante Reduktion der Gewalt" geeinigt. Bestätigt wird das vom US-Außenministerium, vom Nationalen Sicherheitsrat der afghanischen Regierung und - in einer abweichenden Formulierung - von den Taliban, die sich nicht von ungefähr als "Islamisches Emirat von Afghanistan" ausgeben.
Auf der englisch-sprachigen Webseite des Emirats heißt es am Freitag, dass "beide Parteien nun eine geeignete Sicherheitssituation schaffen". Dem unmittelbar angeschlossen ist: "in advance of agreement signing date". Übersetzt bedeutet das, die "geeignete Sicherheitssituation" ist der Vorlauf zu einem Termin, der für die Taliban tatsächlich signifikant ist: der 29. Februar. An diesem seltenen Datum soll die Vereinbarung zwischen den USA und den Taliban unterzeichnet werden.
Die Taliban versprechen sich davon den Vorlauf zur Ablösung der Regierung. Mit "Emirat" wird ein Anspruch benannt, der keine andere Regierung duldet. Die Regierung in Kabul erkennen die Taliban mit ihrem "Emirat" nicht an.
Vermintes Gelände
Afghanistan ist vermintes Gelände. Das ist auch buchstäblich zu verstehen. Man könne in der kurzen Zeit nicht alle Sprengköpfe im ganzen Land unschädlich machen, heißt es von den Taliban zur Testwoche. Das wird als ein Grund dafür genannt, weshalb es nicht zu einer Vereinbarung mit den Begriffen "Waffenruhe" oder "Waffenstillstand", die ganz andere Anspruchskaliber gewesen wären, gekommen ist. Ein weiterer Grund ist das gegenseitige Misstrauen, auch das politische Gelände ist vermint.
Zuletzt ist Präsident Trump plötzlich abgesprungen, als das Abkommen schon zur Unterschrift bereit lag, wie im Anfang September 2019 kolportiert wurde. Dann vollzog Trump eine seiner typischen Kehrtwendungen: "Die Verhandlungen mit den Taliban sind tot", erklärte er.
Damals wie heute weiß die Öffentlichkeit nicht, was das Abkommen an konkreten Vereinbarungen enthält. Beide wurden unter Ausschluss der afghanischen Regierung zwischen US-Unterhändlern und der Taliban-Delegation in Doha ausgehandelt. Der Taliban-Delegation zum vorigen Abkommen gehörte eine berüchtigte Figur des früheren Taliban-Emirats an: Mullah Abdul Ghani Baradar, der zweite Mann der Taliban unter Mullah Omar, der von 1996 bis 2001 Staatsoberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistan war.
Auch von dem aktuellen Abkommen dringt nichts Verlässliches nach außen (siehe dazu Friedensbemühungen in Afghanistan von 2015 bis 2020).
Bekannt sind Grundpositionen. Vor allem von den Taliban, die sich in einer Hauptsache dezidiert äußern: Sie wollen den Totalabzug der US-Truppen samt ihrer Verbündeten. Die Verhandlungsmarge besteht im Zeitraum. Es hieß immer, dass die Taliban eine andere Zeitperspektive haben als die USA: Sie können warten, die US-Administration stehe da unter einem anderen Erfolgs- und Kostendiktat. Am Ende, darauf pochen die Taliban, muss ein vollständiger Abzug stehen.
Die US-Regierung hat andere Vorgaben. Sie will einen Abzug auf Raten, die Rede von einem Totalabzug wird vermieden. Afghanistan ist ein Nachbarland Irans. Die vollständige Aufgabe der strategisch günstigen militärischen US-Präsenz in der Konfrontation mit Iran ist nicht im Sinn der Falken.
Präsident Trump ist mitten im Wahlkampf für seine nächsten vier Jahre im Amt. Ein Abzug der Truppen aus dem "endlosen", teuren und deprimierenden Krieg in Afghanistan wäre, wenn er denn gut zu verkaufen ist, eine Success-Story, die Einhaltung eines Wahlversprechens für die erste Amtszeit. Eine Äußerungen, die definitive Aussagen zu einem Totalabzug machen, braucht er nicht zu machen.
Dem Abzug der US-Truppen steht nicht nur die Frage entgegen, was dann aus denen wird, die den grauenhaften Brutalitäten der US-Präsenz zum Trotz davon auch einen gewissen Schutz bezogen. Was passiert mit den afghanischen Mitarbeitern der westlichen Militärmacht und ihrer Verbündeten? Mit den Frauen, die zumindest teilweise eine bessere Stellung erlangten, mit den Mädchen, die Schulunterricht bekamen, der nicht hauptsächlich auf ihre Unterwerfung unter Dogmen des religiösen Patriarchats ausgerichtet ist, mit Minderheiten wie den Hazara, die von den Taliban Grausamkeiten befürchten?
Was passiert mit den Politikern, die mit den USA zusammenarbeiteten - alle über den Kamm geschoren sowieso nur korrupt, die sich schnell auf den Weg in ihre teuren Villen im Ausland machen? Was passiert mit den afghanischen Sicherheitskräften, mit der Polizei und der Armee?
Das sorgt, soweit es die Zivilgesellschaft betrifft, für Aufregungen in einem politischen Lager, auf das Trump nicht viel Wert legt. Das kann er ignorieren.
Aber, wenn es um nationale Sicherheitsinteressen geht, hat es der US-Präsident, heißt er auch Trump, mit einer innenpolitisch mächtigen Fraktion zu tun. Die fragt danach, wie es um die Garantien steht, dass sich die Taliban nicht noch einmal mit dschihadistischen Terroristen vom Schlag der al-Qaida einlassen und ihnen Schutzraum gewähren wie seinerzeit Bin Laden vor 9/11.
Der gesuchte Terrorist Haqqani in der New York Times über den Frieden in Afghanistan
Am vergangenen Donnerstag erschien in der New York Times ein Artikel von Sirajuddin Haqqani, allein das ist schon keine kleine Sensation, dass der Kopf des sogenannten Haqqani-Netzwerks, das - anders als die Taliban - von den USA als islamistische Terrororganisation gelistet sind, in diesem Medium veröffentlichen kann.
Was er schreibt, ist dann beinahe nebensächlich: Natürlich über den Frieden, der jetzt nach so vielen Jahren möglich ist, über das Misstrauen und die Andeutung guter Absichten: "Wir sind uns bewusst über die Sorgen und Fragen innerhalb und außerhalb Afghanistans darüber, welche Regierung wir haben werden, wenn die ausländischen Truppen abgezogen sind …"
Meine Antwort zu diesen Besorgnissen lautet, dass dies vom Konsens unter den Afghanen abhängt. Wir sollten unsere Bedenken und Kümmernisse nicht einem Prozess in den Weg stellen, der mit einer aufrichtigen Diskussion einhergeht und einem Nachdenken, das zum ersten Mal frei ist von ausländischer Vorherrschaft und Einmischung.
Sirajuddin Haqqani
Sirajuddin Haqqani ist Sohn von Jalaluddin Haqqani. Der war der führende Ost-Paschtunen-Befehlshaber der Taliban im vorigen Taliban-Emirat in den späten 1990ern und einer der "gefeiertsten Befehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion", wie ihn Ahmed Raschid in seinem Buch "Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad" schildert. Da gäbe es dann auch ein paar Anknüpfungspunkte zu den USA …
Sein Sohn, Sirajuddin, wird aktuell von Thomas Jocelyn mit diesen Stichworten porträtiert und eingeordnet: "global Terrorist" mit einer ausgesetzten 10 Millionen US-Dollar Belohnung auf einem "Steckbrief" des US-Außenministeriums, Partner der al-Qaida, verbündet mit der pakistanischen Mudschahedin-Gruppe Jaish-e Mohammed, ein eifriger Befürworter der Einsetzung der Scharia in Afghanistan.
Die Drehbuchschreiber in Washington
Wieder und wieder betont Jocelyn die engen Verbindungen zur al-Qaida, die es seit vielen Jahren zwischen den Haqqanis und der Terrororganisation gibt (Vater Haqqani war demnach sogar ein Mentor Bin Ladens). So steht für den Autor des Long War Journals wie auch für den zweiten namhaften Autoren des Journals, Bill Roggio, völlig außer Frage, dass die Taliban die US-Führung an der Nase herumführen. Dass der Deal mit den Taliban ein unvernünftiges "Appeasement" bedeute.
Zu beiden Personen, die über einigen Einfluss in Washington verfügen (Jocelyn wird öfter als Experte von Kongressausschüssen angehört) allerdings auch anzumerken, dass sie zur Kerntruppe der Neokonservativen gehören. So sehr sie Quellen für eine wachsame Identifizierung von Dschihadisten und deren Verbindungen wie etwa auch bei syrischen Milizen sein können, so sehr sind sie auch darauf ausgerichtet, Iran mit in dieses Geflecht zu ziehen.
Da zeigt sich eine Agenda, die ins Obsessive überschwappen kann, wie man am Chef des Think Tanks Foundation for Defense of Democracies (FDD) - zu dem das Long War Journal gehört - auf irritierende Weise beobachten kann: Was Mark Dubowitz in den letzten Monaten und Wochen teilweise über Iran geäußert hat, ist nur in den USA oder in schrägsten Satiresendungen möglich.
Dies sei nur erwähnt, um zu zeigen, dass das Lager der einflussreichen Kräfte in den USA, die sich gegen den Truppenabzug aus Afghanistan stemmen, mit einer teilweise ideologisch eskalierenden Obsession eine Agenda verfolgt, die letztlich viel mit Iran zu tun hat.
Den Versprechen der Taliban auf den Zahn fühlen
Dennoch fühlen Jocelyn und Roggio der Taliban-Rhetorik schon richtig auf den Zahn. Dass Sirajuddin Haqqani in seinem Artikel das al-Qaida-Problem nicht mit einem Wort erwähnt, wie auch die Garantien der Taliban zu diesem Problem vage bleiben, nicht klar und eindeutig formuliert sind, sondern viel Spielraum lassen, ist nicht zu übersehen.
Und das erhärtet die Befürchtung, dass von den Taliban nicht viel Gutes zu erwarten ist, allen wohlmeinenden Ansagen von ihrer Seite zum Trotz: Nichts anderes als ein im besten Fall etwas moderateres Update des vorigen islamischen Emirats (von 1997 bis Dezember 2001).
Der Friedensprozess, auf den es aus Sicht der afghanischen Bevölkerung ankommen wird, wird zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban verhandelt. Nach dem eigenartigen Auszählungsprozess, der Monate gedauert hat und nur einen hauchdünnen und hochumstrittenen Plus-50-Prozent-Anteil für den Wahlsieger Ghani erbracht hat, ist die Regierung für die anstehenden Friedensgespräche mit den Taliban sehr schlecht gerüstet (siehe dazu den lesenswerten und erhellenden Lagebericht des deutschen Afghanistan-Experten Thomas Ruttig).