Till Lindemann: Freiheit der Kunst endet da, wo die Kunst endet

Till Lindemann auf der Buchmesse. Bild (2017): Sven Mandel / CC BY-SA 4.0

Kiepenheuer und Witsch hat die Zusammenarbeit mit dem Rammstein-Frontmann zu Recht beendet. Was das mit "Fight Club", Karadžić, neuen Rechten und Alice Schwarzer zu tun hat.

In den frühen Neunziger-Jahren brachte eine kleine, neu gegründete Literaturzeitschrift aus dem Umkreis des Münchner Literaturbüros das Gedicht Morgenbombe heraus, dort hieß es:

"Endlich werde ich / die Morgenbombe werfen und / man wird nur noch das / Lachen eines launischen / einsamen Mannes hören."

Eine kleine Sensation, sagte man, aber das stimmte lediglich ganz anders als von der Redaktion gedacht. Der Autor war nicht etwa ein Chuck Palahniuk, der mit dem Fight Club alle Theorien von Klaus Theweleit zur Übermännlichkeit nicht nur zu einer musikalischen Hymne verdichtete, sondern diese auch besser verstanden hatte. Der halt wusste, wovon er redete.

Der gelernte Journalist Palahniuk hatte eine Kindheit voller Gewalt hinter sich und engagierte sich in Obdachlosenheimen, bevor er den Roman schrieb. Man könnte kaum vor Gericht begründen, wieso es sich dabei um Kunst handelt, aber vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntlich in Gottes Hand.

Kunst dagegen ist die Sache von Menschen, diese wissen meist nicht so genau, woran sie sind und stellen Fragen. Die Ambivalenz in Palahniuks Roman spüren wird jede Leserin und jeder Leser genau spätestens bei der ersten Aufforderung zur Schlägerei, so diese Leserin und dieser Leser denn zum Genuss der Kunst befähigt ist.

Nein, das Gedicht über die Morgenbombe stammt nicht von einem Künstler, sondern von Radovan Karadžić, der vom Haager Tribunal für Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und diese in England absitzt. Das Gedicht ist kurz, sein erster Teil lautet:

"Ich habe mich vom Guten abgewendet / brenne wie eine Zigarette auf / meinen neurotischen Lippen. / Von allen fertiggemacht / warte ich in der / Morgendämmerung auf / meine große Stunde."

Von einem großen Kunstwerk wie dem Fight Club oder einem noch deutlich größeren wie "Der Fremde" von Albert Camus unterscheidet sich das Gedicht nicht durch die albernen Zeilenbrüche, sondern durch die fehlende innere Kontextualisierung. In dieser wäre die Ambivalenz als Kennzeichen der Kunst zuhause, des Menschlichen.

Der Schlussmonolog des Fremden nämlich würde auch als plumpes Manifest eines Selbstmordattentäters durchgehen können, läse man ihn bloß isoliert.

Bei Karadžić findet man derlei Kontextualisierung nicht, und das ist es, was er mit Till Lindemanns sogenanntem Gedicht "Wenn du schläfst" gemein hat, das den ach so schönen Geschlechtsverkehr mit einer betäubten Frau aus der Sicht des nicht so betäubten Lyrikers besingt.

Deshalb liegt der Verlag Kiepenheuer und Witsch mit seiner Entscheidung auch jenseits des Respektes für etwaige oder tatsächliche Opfer des Autors richtig, das Gedicht nun aus dem Programm zu nehmen und die (angeblich neu entdeckte) Kontextualisierung in einem Porno des Autors als Grund anzugeben.

Falsch war dagegen zuvor schon seine Verteidigung als Kunst und die Inanspruchnahme der zu ihr gehörenden Freiheit. Die Freiheit der Kunst endet da, wo die Kunst endet. Und das Gedicht ist wie bei Karadžić keine Kunst, sondern plattes Dummzeug, das genau so gemeint ist, wie es geschrieben wurde.

Man darf das ruhig zur Kenntnis nehmen. Schließlich leben wir ja immer noch im Sprachraum des weithin bekannten Theaterstückes "Biedermann und die Brandstifter" von Max Frisch, - oder etwa nicht? Dann sollte es schleunigst aufgeführt werden.

Der Unterschied

Den Fall Lindemann in der Debatte mit Monika Maron zu vergleichen, ist übrigens nicht zielführend. Monika Marons Bücher sind allesamt im positivsten Sinne hoch diskutabel, sie als Person ist es auch, zuletzt in einer TV-Dokumentation zum nach wie vor bekennenden Rammstein-Fan Uwe Tellkamp.

Dort erklärte sie genau, wo die Cancle Culture die Freiheit der Kunst zerstört: Wenn sie in der Figurenrede eigene Widerstände verspürt und sich plötzlich fatal an die Zeiten Ostdeutschlands vor 1989 erinnert.

In der täglichen Praxis der sensitivity reader wird das genauso vergessen wie die schöne alte Forderung, ein Roman habe ein Kinnhaken zu sein. Niemand redet automatisch der Sozialpädagogik anstelle der Kunst das Wort, wenn es um Menschenwürde geht. Es hält aber auch niemand Jonathan Meese für einen Nazi.

Gleichwohl gab es in dem zur Trennung des S. Fischer Verlags von Monika Maron führenden Buch über ihren Hund eine große Irritation, denn dieser Hund wurde dort unschwer zu erkennen von den Freunden der Autorin um die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen gemocht, und zwar ausdrücklich, obwohl er doch so hässlich sei.

Nun gehört zu diesen Freunden auch der ausgewiesen rechtsradikale und alles andere als freiheitlich denkende und agierende Martin Sellner, der in Dagens Buchclub unter falschem Namen auftrat. Das rettet man auch dann nicht durch einen gehätschelten Hund, wenn er kein reinrassiger Schäferhund ist.

Wenngleich hier eine Debatte besser gewesen wäre, man mag der Verlegerin die nicht ganz überzeugende Reaktion der Trennung nachsehen. Ob man im Falle Lindemann zum Beispiel eine Lex Mesrine hätte anwenden können, indem die Gewinne wohltätigen Zwecken zugeführt werden, müssen Juristen beantworten. Ich glaube kaum.

Man muss im Zusammenhang mit der Trennung des Verlages von Lindemann aber auch auf die andere Seite zeigen. Im selben Haus wird Alice Schwarzer verlegt.

Die andere Seite

Schwarzer hat nicht nur in ihrem berühmten und großartigen Erstling "Der kleine Unterschied" die alltägliche Unterdrückung der Frau so nachvollziehbar zur Sprache gebracht, dass wir Jahrzehnte später zum Glück nicht mehr in derselben Welt leben.

Sie hat dabei ebenso den ausgesprochen widerwärtigen Fall der Brüder Reimer wider besseren Wissens zu legitimieren versucht. Es handelt sich um die unfreiwillige Kastration eines bei der beiden Zwillinge durch John Money, dem Wortschöpfer des gender, der im Selbstmord beider Männer endete.

Zudem feierte Schwarzer Lorena Bobbitt als Heldin, weil diese ihrem Mann den Penis mit einem Küchenmesser abschnitt, – als dieser schlief. Mit sexueller Gewalt an Schlafenden hat man also Erfahrung. Übrigens ist Frau Schwarzers seit vielen Jahren bei Focus online zugängliche Artikel über die sogenannte Beyond-Bitch-Bewegung jüngst dort verschwunden.

Die Privilegien der Kunst

Sieht so aus, als sei man mit der Popliteratur, die den Spagat zwischen alter Kulturtechnik und jungem Publikum schaffen wollte, im größten Stile gescheitert. Der deutsche Kulturbetrieb duldet mittlerweile auch gerne Autorinnen, die Menschen wahlweise zu Müll oder trash erklären, und man fragt sich schon fast, was an Donald Trumps lockerroom talk eigentlich so schlimm war.

Statt Jugend und Rebellion, Debatte und Emanzipation hin zu einer besseren Welt samt allen Fehlern am Wegesrand publizistisch zu begleiten, folgte man blind Populärem aus anderen Disziplinen als der Literatur. Jetzt kann man den Wald vor lauter Hässlichkeit kaum noch sehen.

Aus jugendlichem Freiheitdrang wurde unreflektiertes vormodernes Denken, für das diese autoritären, vulgären Persönlichkeiten heute exemplarisch stehen.

Ein Künstler, der den Fehler in seinem Werk spürte wie einen Stachel im eigenen Fleisch, ist Herr Lindemann gewiss nicht. Und deshalb kann er sich auch nicht auf die Privilegien der Kunst berufen, ohne sie zu missbrauchen.