Todsichere Sicherheitspolitik

Eine Zeitung fordert gemäß dem Zeitgeist, die Auseinandersetzungen mit Russland "bis zum bitteren Ende" durchzustehen. Was aber bedeutet das konkret?

Seit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), wie es die FAZ nennt, auf den Ukrainekrieg mit einer "sicherheitspolitischen Wende" reagiert hat, erhält er breite Zustimmung. Das zeigt sich unter anderem in einer Umfrage des Nachrichtenmagazins Focus zu den von ihm angekündigten Rüstungsbeschlüssen:

Fast 60 Prozent bewerteten das Paket aus mehr als 100 Milliarden Euro, dem Kauf des Atombombers F 35 für die nukleare Teilhabe im Fall eines Atomkrieges, der Bewaffnung von Drohnen und weiteren bislang umstrittenen Schritte der Militarisierung – darunter die Übererfüllung der Nato-Vorgabe, zwei Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung militärisch zu verausgaben – als positiv oder eher positiv.

Die linksliberale Tageszeitung taz fragte kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine: "Hat sich der Pazifismus überholt?" Und Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ Die Grünen) sagte in diesem Kontext, unsere "Wehrhaftigkeit entscheidet unsere Sicherheit" – so berichtet es die Süddeutsche Zeitung im Kontext der Frage: "Aber wie wehrhaft ist Deutschland wirklich?" 1

Die Bild bringt diese Frage als Angriff auf die Verteidigungsministerin Lambrecht: "Kann diese Ministerin Krieg?".2 Die Frankfurter Rundschau schrieb in einer Bilanz der Gipfeltreffen von EU, Nato und der G7-Staaten an einem Tag Ende März 2022 in Brüssel, der Westen habe "nicht nur ein (...) deutliches Signal an den russischen Autokraten Putin und sein Regime gesendet. Darüber hinaus haben sie verdeutlicht, dass der Westen bereit ist, die Auseinandersetzungen mit Russland bis zum bitteren Ende durchzustehen."

Das bittere Ende bezieht sich inhaltlich und unausgesprochen auf die Gefahr, die für die Zivilisation von den über 100 Atomreaktoren in Europa – einem Viertel der weltweiten Nutzung von Atomkraft – ausgeht. Ein Krieg in diesem Erdteil kann mit unverantwortlich hoher Wahrscheinlichkeit auch ohne den Einsatz nuklearer Arsenale in einem atomaren Inferno enden.

Angesichts der Begründung der Nato-Sicherheitspolitik drängt sich der Gedanke an den Roman 1984 des britischen Schriftstellers George Orwells auf. Die Herrschenden nennen "Krieg" darin "Frieden" und deuten "Ignoranz" als "Stärke". Es ist besorgniserregend, dass vergleichbare Überlegungen nicht den gebotenen Widerstand der Öffentlichkeit hervorrufen, sondern weitgehend ohne Widerspruch hingenommen werden.

Friedensdemonstrationen für die Nato

Es ist sogar so weit gekommen, dass Vertreter einer Friedenslogik im Namen des Friedens vermehrt Angriffe erfahren. Die Meinungsmache der Militärlobby zeigt Wirkung.

Zwar ist es evident, dass auch der aktuelle Angriffskrieg Russlands zentrales Element einer Eskalationsdynamik ist, die sich militärisch nicht lösen lässt. Doch treffen Nato-Pläne zur Aufrüstung und Verstärkung der militärischen Drohkulisse selbst bei einer großen Zahl von Teilnehmern an Friedensdemonstrationen auf Zustimmung.

Russlands Völkerrechtsbruch ist für diese Entwicklung nicht die einzige Erklärung. Ganz offensichtlich hat die Militärlobby ihre Lektionen aus vergangenen Kriegen von Vietnam bis Irak gelernt.

Einst prangten Fotos von US-Kampfjets, die einen Bombenteppich über Vietnam ausklinkten, von Kindern auf der Flucht aus ihrem brennenden Dorf oder von Folteropfern in CIA-Einrichtungen auf Titelseiten der Tagespresse.

Heute sind Fotos von Opfern aus Kriegen, in denen Angreifer Nato-Waffen benutzen, kaum mehr zu sehen. Erschütternde Fotos von Kriegsopfern aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine dominieren die Kriegsberichterstattung in den Mainstream-Medien.

Es geht hier nicht darum, Russlands Menschenrechtsverletzungen zu relativieren, wenn Kritik darauf hinweist, wie stark hier mit zweierlei Maß gemessen wird, um Menschen zu manipulieren.

So blenden die Meinungsmacher den Jemen-Krieg weitgehend aus, obwohl die UNO ihn 2018 mit seinen hunderttausenden Toten und über zehn Millionen oft vom Hungertod bedrohten Flüchtlingen zur größten humanitären Katastrophe unserer Zeit erklärt hat.

Ebenso ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA gegen den Irak mit seinen mehr als 600.000 Toten und vielen Flüchtlingen, die es teils sogar bis nach Deutschland geschafft haben, aus der medialen Aufmerksamkeit verschwunden, obwohl die Katastrophe dort weiterhin anhält.

Auch der Afghanistan-Krieg, in dem über 240.000 Menschen zu Tode kamen, in dem bis heute die Hungersnot grassiert und über 5,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben worden sind, wird aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt.

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