Total Recall -Wiederbelebung der mündlichen Kultur oder Schiffbruch mit Zuschauern?

Das Festival des nacherzählten Films

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Zehn Minuten können verdammt kurz sein - zum Beispiel, wenn man versucht, die beiden ersten Folgen von Sylvester Stallones Boxerepos Rocky vor einem begeisterten Publikum nachzuerzählen: Dirk Hergenhahn und Martin Härlin hatten sich offensichtlich gut vorbereitet und ihren Auftritt in 15 Runden eingeteilt. Nur leider hatten sie vergessen, die Applauspausen mit einzukalkulieren, und am Ende der zehn Minuten waren sie erst bei der 14. Runde angelangt. Den dritten Platz haben sie trotzdem geschafft bei Total Recall, dem Internationalen Festival des nacherzählten Films, das am Samstag, den 3. November zum 3. Mal in Düsseldorf stattfand.

Bei Total Recall versuchen die Teilnehmer nichts weniger als das Unmögliche: Bewegte Bilder in Sprache zu verwandeln - und zwar möglichst vollständig, schließlich bedeutet Total Recall soviel wie "allumfassende Erinnerung". Die Redezeit ist auf zehn Minuten begrenzt, Spickzettel und andere Hilfsmittel sind verboten, die Jury ist das Publikum. Die Veranstalter, der Musiker Axel Ganz und der Filmemacher Bernd Tersteggen, wissen sehr wohl, dass die Teilnehmer zum Scheitern verurteilt sind. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben sie den ersten Preis "Silberne Linde" getauft - frei nach dem Motto "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold".

Andererseits gibt es nichts Erhabeneres als anderen - aus sicherer Entfernung - beim Scheitern zuzusehen. Hoffnungslos langweilige Veranstaltungen wie Formel-1-Rennen oder das Neujahrsspringen erzielen ja nur deshalb sagenhafte Quoten, weil die Zuschauer insgeheim auf spektakuläre Unfälle hoffen dürfen. Dabei geht es nicht nur um den vielgeschmähten Nervenkitzel, sondern geradezu ans Eingemachte: anderen beim Stürzen, Sterben, Scheitern zuschauen festigt die eigene Identität wie nichts anderes. Am genauesten hat das der Philosoph Hans Blumenberg beschrieben, der sich mit dem Phänomen "Schiffbruch mit Zuschauer" beschäftigte und seiner Untersuchung den Untertitel "Paradigma einer Daseinsmetapher" gab.

Auch für Axel Ganz und Bernd Tersteggen ist Total Recall mehr als nur eine voyeuristische Veranstaltung. Sie verstehen das Festival des nacherzählten Films "als ein Experiment um Sprache". Sie wollen herausfinden, wie sich gesprochenes Wort und erinnertes Bild zueinander verhalten und welche Strategien die Nacherzähler anwenden, um die flüchtigen Bilder in den Griff zu kriegen - und nebenbei das Publikum für sich zu gewinnen.

Aus diesem Grund schauen sie sich immer wieder die Aufzeichnungen sämtlicher Auftritte an und erstellen insgeheim einen Katalog der Erzählstrategien, die sie jeweils nach dem ersten Anwender benennen. So gibt es beispielsweise den Techler-Stil, der sich dadurch auszeichnet, dass der Film erzählt wird, ohne direkt auf ihn einzugehen. Anwender des Pöhler-Stils haben sich "verdammt gut vorbereitet, verzichten auf Klamauk, fassen die Ausgangsposition knapp und klar zusammen, kennen alle Figurennamen, so dass man dem Ganzen gut folgen kann. Damit das nicht zu langweilig wird, führen sie einige Szenen näher aus, flechten Originaldialoge ein, aber insgesamt setzen sie auf sehr dezente Wirkung." Mit Erfolg: Thomas Pöhler belegte 1999 und 2000 jeweils den ersten Platz. Neu hinzu kam in diesem Jahr der Klatura-Stil: mit seiner szenisch aufgebauten Nacherzählung von Stanley Kubricks Full Metal Jacket zog Fabian Klatura das Publikum förmlich in den Drill mit ein - und wurde mit dem 2. Platz belohnt. Platz eins allerdings ging an Dan Dinner und seine Präsentation von Rendez-vouz mit Joe Black.

Insgesamt kommen beim Publikum die imperfekten Erzähler am besten an, beziehungsweise jene, die keine Rolle spielen wollen - bei der ersten Veranstaltung im Jahre 1999 gab es unter den Teilnehmern ein paar ausgebildete Schauspieler, die versuchten, über die bloße Nacherzählung hinauszugehen, was das Publikum aber ganz und gar nicht gut fand. Um zu verhindern, dass aus dem "Festival des nacherzählten Films" ein "Festival des nachgespielten Films" oder gar eine Comedy-Veranstaltung wird, gibt es ein Rednerpult: es soll die Redner an Ort und Stelle fesseln und den Schüchternen Halt und Deckung geben, wenn sie sich dem Publikum stellen. Damit auch sonst nichts ablenkt vom gesprochenen Wort, sind bedruckte T-Shirts, Laserpointer und dergleichen tabu.

"Es wird immer behauptet, die mündliche Kultur sei uns verloren gegangen - das Gegenteil ist der Fall," meint Bernd Tersteggen. "Der Unterschied ist nur: heute erzählen sich die Leute keine Märchen, sondern Filme - oder was sie sonst im Fernsehen gesehen haben." Prinzipiell nämlich dürfen die Wettbewerber alles nacherzählen - in welcher Sprache auch immer -, vom Kleinen Fernsehspiel, über Dokumentarfilme aller Art bis zur Tagesschau oder dem letzten Länderspiel - entweder komplett, als Sequenz oder auch nur als Szene. Seltsamerweise jedoch konzentrierte sich das Gros der Teilnehmer bislang aufs dramatische Fach. An Total Recall von Paul Verhoeven mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle hat sich bislang nur ein einziger Teilnehmer versucht. Dabei wäre es besonders interessant zu sehen, wie ein Film, der auf einer Kurzgeschichte ("We Can Remember It for You Wholesale" von Philip K. Dick) basiert, in mündliche Rede transformiert wird.

Die Presse-Reaktionen auf das "Festival des nacherzählten Films" reichen von Staunen ("Darauf muss man erstmal kommen", FAZ) bis hin zu Verständnislosigkeit ("Wie wärs mit Beethoven-Symphonien in Gebärdensprache als Experiment um stumme Musik und gezeigte Töne?" Berliner Morgenpost)

Mich erinnert die Veranstaltung an Leo Lionnis Bildergeschichte Frederick die auf genial einfache Weise zeigt, was Sprache und kollektives Erinnern leisten kann: Eine "Familie schwatzhafter Feldmäuse" bereitet sich auf den Winter vor indem sie "Körner, Nüsse, Weizen und Stroh" sammelt. "Alle Mäuse arbeiteten Tag und Nacht. Alle - bis auf Frederick." Der sammelt lieber Sonnenstrahlen, Farben und Wörter, denn er weiß: der Winter ist kalt und grau, und irgendwann wird ihnen der Gesprächsstoff ausgehen.

Tatsächlich kommen Fredericks Vorräte zum Einsatz, sobald Nüsse und Körner aufgefressen sind und es kalt wird im Gemäuer. Zuerst schickt er den Verwandten die Sonnenstrahlen, indem er die Erinnerung an sie wachruft: "Fühlt ihr schon, wie warm sie sind? Warm, schön und golden?" Prompt wird "den vier kleinen Mäusen schon viel wärmer. Ob das Fredericks Stimme gemacht hatte? Oder war es ein Zauber?" Die Antwort ist ihnen egal, Hauptsache, es geht ihnen gut. Und statt wie im Herbst am Sinn von Fredericks "Erinnerungsarbeit" zu zweifeln, wollen sie das volle Programm:

"Und was ist mit den Farben, Frederik?" fragten sie aufgeregt. "Macht wieder eure Augen zu", sagte Frederick. Und als er von den blauen Kornblumen und roten Mohnblumen im gelben Kornfeld und von grünen Blättern am Beerenbusch erzählte, da sahen sie die Farben so klar und deutlich vor sich, als wären sie aufgemalt in ihren kleinen Mäuseköpfen.

Am Ende wollen die Mäuse die Wörter hören. Doch was sie präsentiert bekommen, sind nicht nur einzelne Wörter, sondern regelrechte Gedichte.

Als Frederick aufgehört hatte, klatschten alle und riefen: "Frederick, du bist ja ein Dichter!" Frederick wurde rot, verbeugte sich und sagte bescheiden: "Ich weiß es - ihr lieben Mäusegesichter!"

Im besten Fall also verwandelt sich die Beschreibung, Reinszenierung, Beschwörung und Manipulation des Erinnerten zu Poesie. Und da auch bei uns der Winter naht und bei jedem mal der Strom ausfallen kann, wäre es vielleicht gar nicht so schlecht, sich schon mal zu üben in der Kunst der Nacherzählung.