Totale Telematik

Symbolfoto: JC Gellidon

Wüste Phantasien über eine seuchensichere Stadt der Zukunft - ein Gespräch mit dem "Smart Cities"-Experten Anders Riel Müller

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Den allermeisten Menschen rund um die Welt, die nicht über das Privileg eines eigenen Gartens oder über eine ländliche Zufluchtsstätte verfügen, hat der Lockdown die "Unwirtlichkeit unserer Städte" deutlich gemacht.

Budenangst

Alexander Mitscherlich spricht in seinem gleichnamigen Pamphlet von 1965 in diesem Zusammenhang von "Budenangst". Wir sollen dieser Tage gern aus Gründen der Gesundheit möglichst in der Wohnung bleiben. Wir halten es dort aber auf Dauer nicht aus.

Die "Kunst zu Hause zu sein" stellte Mitscherlich vor mehr als 50 Jahren der "suchthaften Hingabe an das Fernsehprogramm" gegenüber, die er als das Unvermögen deutet, zu Hause zu sein.

Ersetzt man das Wort "Fernsehprogramm" durch Internet oder Videostreaming, lässt sich auch gegenwärtig fühlen, was er mit Unwirtlichkeit meinte. Statt sich im Zuhause wohl zu fühlen, eins zu sein mit den "eigenen vier Wänden", spürt man bei zu langem Aufenthalt "auf der Etage" die Enge der auf Zeit überlassenen "Bude". Der Mieter dreht den medialen Hahn auf, durch den die Bilder einer anderen, freieren Welt ins Heim gespült werden. Die künstlichen Filmwelten helfen den Bewohnern der Mietshäuser, die Beengtheit der Verhältnisse leichter zu ertragen.

Es kursieren heute schon Pläne für eine kombinierte Wohn- und Arbeits-Umwelt zur Verhinderung künftiger Seuchen, die ganz auf das Problem der grundsätzlichen Unzulänglichkeit unserer Wohnunterkünfte abgestellt sind. Vielfältiger Service soll die fehlende Abwechslung durch gewachsene Beziehungen zum Umfeld ersetzen. Mitscherlich sprach damals mit Bezug auf solche Techniken von "Komfortgreuel".

In seinem Buch "Thesen zur Stadt der Zukunft" (1971) stellt Alexander Mitscherlich die Behauptung auf, utopische Pläne für Städte wie New York (er spricht konkret von Brooklyn, wo Menschen "unter extremen deformierenden Anpassungszwang" leben) seien "Ersatzbefriedigungen" ihrer Erfinder, "Ausdrucksmittel jener Spannungen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern aufzwingt".

Mit Verweis auf Lewis Mumford nennt er sie "Fluchtutopien", geprägt von einem "Abwehrcharakter gegen gesellschaftliche Konflikte, die der Utopist nicht zu lösen vermag". Er kommt zu dem messerscharfen Schluss: "Fluchtsysteme, zu denen auch die Fluchtutopien gehören, vermeiden die politische Veränderung zu Gunsten eines autoritären Wunschdenkens, dass sich im Falle der Stadtutopie zunächst das Air ästhetischer Perfektion zu geben weiß."1

Im aktuellen Fall der post-COVID Pläne für New York wird das "Air ästhetischer Perfektion" ganz im Stil einer wild gewordenen "Werkzeugintelligenz" (Mitscherlich über den technischen Erfindungsgeist) durch die geschliffenen Oberflächen der Bildschirme garantiert, die nun das Zentrum jeder Wohnung bilden sollen, und mehr noch als schon zuvor Außenwelt abschneiden und Sozialleben durch die optische Einspielung einer Fake-Utopie ersetzen.

Schauen wir uns genauer an, wer diese Dienstleistungs-Environments des 21. Jahrhunderts gestalten will, so ahnen wir, was Mitscherlich meinte, als er sagte, unsere Städte seien Produkte der Phantasie, aber aus harter Materie. Sie würden daher auf uns wirken "wie Prägestöcke". Der massive Einsatz von Software wird diese Stempelwirkung nicht gerade weicher machen.

Schutzunterbringung zu Haus

Dass solche Gedanken keine abgehobene sozialpsychologische Spekulation aus der längst vergangenen Zeit des bundesdeutschen Wiederaufbaus sind, die heute nicht mehr gültig, sondern im Gegenteil erschreckend aktuell sind, zeigt ein Artikel über die Zukunftspläne für New York, der jüngst in der auch sonst überaus empfehlenswerten Internetzeitung The Intercept erschien.

Die "Schutzunterbringung zu Haus" (im US-wording: "shelter-at-home") hat uns die "Unwirtlichkeit unserer Städte" erneut schmerzhaft bewusst gemacht. Das hat neben einer dramatisch zunehmenden häuslichen Gewalt (Buden-Koller) derzeit zwei konkrete Folgen: Flucht aufs Land und wüste Phantasien einer seuchensicheren Stadt der Zukunft.

Seit Pfingsten pilgern Heerscharen von Städtern durch die Dörfer und betrachten jedes noch so verwaiste Haus mit begehrlichen Blicken, solange es über einen Garten verfügt, in dem man sich grillend den nächsten Lockdown überstehen sieht. Da absehbar nicht für jedermann eine Kate im Dornröschenschlaf zur Verfügung steht, arbeiten Visionäre unter Hochdruck am Umbau der Städte. Dem bekannten Ruf "Bleibt zu Hause" lassen sie die Botschaft folgen "Wir schenken euch alle notwendigen Geräte, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen."

Die zentralen Schlagworte bei der Umwandlung unserer nicht pandemiegerechten Städte in "Smart Cities" sind geläufig: G5, Tracing-App, Telehealth, Homeschooling. Das alles getragen von einer Geste der karitativen Wohltat. Wir begreifen schlagartig, warum das Google-Empire seinen Namen geändert hat: Eine radikale "Alphabetisierung" unserer Umwelt steht ins Haus.

Zero

New York City war schon länger ein Zentrum der symbolischen "Null". "zero tolerance" wurde mit Rudy Guiliani ab 1993 zum Synonym für die Stadt. Der Anschlag von 9/11 planierte ein "ground zero". Ausgehend von diesem Loch, das zwei Flugzeuge in den Stadtplan von NYC stanzten, bauten die USA die gesamte Welt um. Die Stadt gilt seither als spezialisiert auf "tabula rasa"-Pläne. Wenn man richtig abräumen will, muss man dort anfangen.

So verwundert es kaum, was Naomi Klein am nicht weniger symbolischen 8. Mai 2020 der Welt enthüllte: ein weiteres "zero" sei in Arbeit, ein Nullpunkt, diesmal gleich für die ganze Gesellschaft.

Eric Schmidt und seine wunderbare Familienstiftung "Schmidt Futures" sollen den "Governor" Andrew Cuomo dabei unterstützen, New York in eine smarte Modellstadt zu verwandeln. Kein Sim in dieser City bleibt am Ende an seinem angestammten Platz.

Wozu der ganze Aufwand?

Nur zu unserem Besten, versteht sich: sichere Gesundheit, bessere Bildung, höherer Datendurchsatz, was in jedem Fall gut ist. Die neue Null ist scheint's ein Reingewinn.

Doch das Geschenk der Totaldigitalisierung ist ein trojanisches Pferd: Wir müssen uns ändern, radikal ändern. Sonst kommen Seuchen, Schulausfall und überlastetes Netz im jährlichen Dreierpack. Was müssen wir tun, um in den Genuss der Segnungen von Sicherheit und solider Erziehung zu gelangen und um ständig genug Filme ruckelfrei streamen zu können?

Bild: Janneke

Die Lösung klingt einfach, wenn auch etwas beklemmend: Wenn wir auf immer in der Bude bleiben, schenken uns die Dienstleistungsimperien die Endgeräte, mit denen wir am Leben, oder dem, was davon übrig ist oder neu kommt, teilnehmen können.

Und immerhin, eins steht fest: Wir haben uns in den letzten dreißig Jahren schon an so manches gewöhnt, das wir uns nicht im Traum hätten vorstellen wollen, und wir haben so manches eingetauscht - für ein wenig weniger Risiko.

Nullrisiko

Naomi Klein versteht die geplante "zero risk society", die Nullrisikogesellschaft, in Anlehnung an ihr Buch von 2007 als eine "pandemische Schock-Doktrin". Das Loch im Cover der Originalausgabe macht zweierlei klar: der Erfolg des "Katastrophenkapitalismus" wird durchschlagend sein! Und: Du bist sein Ziel!

Eine "Blue Ribbon Commission" unter dem Vorsitz von Eric Schmidt soll den Umbau von New York planen. Das kündigte Cuomo zwei Tage zuvor, am 6. Mai 2020, bei seinem wöchentlichen Corona-Briefing an.

Mit im Boot sind andere, einschlägig bekannte "Visionäre" und ihre milliardenschweren Stiftungen. Bill und Melinda Gates - man möchte diese Namen schon gar nicht mehr aufschreiben, weil einem ganz elend dabei zumute wird - also BMG sind auch dabei, mit einer bahnbrechenden Idee, die Cuomo bald viel Geld in die Kasse spülen soll: der Verkauf von Schulgebäuden. Denn "wozu brauchen wir physische Klassenräume, wenn wir all die Technologie besitzen?"

Doch nicht nur die Schulen sind "dran". Schmidt geht weiter als Gates. Der Google-Mann kennt kein Stückwerk. Es geht ums Ganze. Mit den richtigen Algorithmen ist die Welt in sieben Tagen neu erbaut. Im Wall Street Journal verkündet Schmidt sein Manifest der neuen Stadt am Draht.

Wie wird es sich anfühlen, in der "smart city NYC" zu leben? Wie können wir uns den künftigen Alltag ausmalen? Ich habe dazu den Urbanisten Anders Riel Müller vom Forschungsnetzwerk der Universität Stavanger als Experten befragt.

Die gefühlvollen Unternehmer

Seine Antworten stelle ich in den Kontext der institutionalisierten "Selbstlosigkeit" von Milliardären und beziehe mich dabei auf ein anderes aktuelles Gespräch vom April 2020: Noam Chomskys Rede über die "gefühlvollen Unternehmer".

Als Beispiel für einen solchen "gefühlvollen Unternehmer", der sich aus dem operativen Geschäft ganz zurück gezogen hat und sich nunmehr "philanthropischen" Fragen und der Forschung widmet, unterziehe ich besagten Eric Schmidt einer näheren Untersuchung. Es geht mir dabei vor allem um seine Rolle als Kopf der Kommission für Nationale Sicherheit und Künstliche Intelligenz und seine Funktion als Chairman im Defense Innovation Board.

Hier sitzt der "Google Überfürst" gleich neben "dem reichsten Mann der Welt" Jeff Bezos und einer Anzahl Risikokapital-Magnaten wie Reid Hoffmann, insgesamt eine strahlende Korona von Multi- und Centi-Millardären, die über die "Sicherheit" unserer Zukunft bestimmen.

Die leitende Frage dabei ist: Welche Art von "Zivilgesellschaft" gedeiht auf dem fruchtbaren Boden der Serverfarmen von Plattformkonzernen, neben jenen ungeheuren Mengen sensibler Militärdaten, die in dem digitalem Gewächshaus ohnehin schon gehegt werden? Oder ist die viel besungene "zivile Nutzung" der KI ein Widerspruch in sich? Steht uns eine restlos nischenfreie Militarisierung des Alltags bevor, wenn wir KI in der beschriebenen Weise flächendeckend anwenden?

Wird jetzt ernst gemacht? Sitzen wir morgen bei dauerhaftem Spazierverbot in der Hausarbeitskaserne, dem Drill tausender Einpeitscher an der Neuen Medienfront unterworfen? Ist New York der erste große Anwendungsfall für KI auf allen Ebenen der Gesellschaft?

Doch zunächst zum "Screen New Deal", wie die Wortspiel-Meisterin Klein in Verkehrung des "green new deal" in sein Gegenteil die endgültige Ver-Zoomung unserer sozialen Kontakte nennt. Was genau verbirgt sich hinter dem schillernden Zauberwort von der "smarten Stadt"?

Es folgen die Antworten von Anders Riel Müller.

Der smarte Planet

Naomi Klein sagt in ihrem Text in "The Intercept" bezüglich der Pläne für NYC: "Das ist der Entwurf einer Zukunft, in der unsere Wohnungen nie wieder ausschließlich private Räume sind". Hat sie Recht? Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff "smart city"?
Anders Riel Müller: Lass mich zunächst festhalten, dass ich hier nur über "smarte" Stadtentwicklung in westlichen demokratischen Marktwirtschaften spreche. Der Antrieb für Smart Cities in anderen Teilen der Welt könnte völlig anders sein. In chinesischen Smart Cities erkennt man beispielsweise eher Versuche der Regierung, eine effiziente politische Kontrolle zu installieren ... aber insgesamt denke ich, dass die Auswirkungen auf die Marginalisierten in allen Gesellschaftsformen die gleichen sind.
Orit Halpern behauptet in seinem Buch aus dem Jahr 2017, "Auftrag zur Smartheit", dass das "intelligente" Konzept in Bezug auf smarte Städte auf eine Rede des damaligen Vorstandsvorsitzenden von IBM, Sam Palmisano, vor dem Rat für Außenbeziehungen am 6. November 2008 zurückgeht. Palmisano stellte damals seinen Vorschlag für einen "Smarten Planeten" vor, in dem er sich eine allgegenwärtige digitale Netzwerkinfrastruktur ausmalte, die wirtschaftliches Wachstum und eine saubere Umwelt ermöglichen würde.
Wenn wir dies in einem größeren Kontext betrachten, so gab es damals hochfliegende Hoffnungen auf ein neues globales Klimaabkommen bei der UN-Klimakonferenz, COP 15, 2009 in Kopenhagen - die dann als eine der am wenigsten erfolgreichen Klimakonferenzen der Geschichte endete - denn die Wirtschaft torkelte noch nach der Finanzkrise. Daher schlug Palmisano vor, dass "smart" zwei der größten globalen Probleme der damaligen Zeit angehen könnte. Somit war "Smartheit" als eine Lösung für Finanz- ebenso wie für Umweltkrisen etabliert.
Halpern und seine Co-Autoren schreiben: das Konzept "smart" basiert auf einer imaginären "Krise", die durch einen massiven Zuwachs an Geräten mit Sensoren bewältigt werden soll, eine Technologie, die wiederum angeblich Selbstorganisation und konstante selbstmodulierende und sich selbst aktualisierende Systeme ermöglicht.
Welches soziale Problem löst eine intelligente Stadt?
Anders Riel Müller: Das Ziel der Smart Cities ist es, die Stadt bis zu einem gewissen Grad von ihren widerspenstigen und chaotischen Elementen zu befreien, was James Scott als ein "Kernelement der Staatskunst" bezeichnen würde. Gemeint ist eine Technologie der Macht, die bestimmten Gruppen erlaubt, die Stadt zu kontrollieren und zu manipulieren, vorzugsweise ohne die widerspenstigen Elemente der partizipativen Demokratie einbeziehen zu müssen. In ihrer extremsten Form stellt sich die intelligente Stadt zukünftige Gesellschaften vor, die eher von Algorithmen als von demokratischen Institutionen geleitet werden.
Natürlich ist dies im wirklichen Leben nicht der Fall, weil dort die intelligente Stadt auf komplexe Gesellschaften trifft und sich an diese anpassen muss. In Norwegen betont die Nationale Smart City-Roadmap die Bürgerbeteiligung und wünscht sich ein breites Verständnis von Nachhaltigkeit als zentrales Element. Was jedoch bislang kein einziges Smart-City-Konzept, das ich untersucht habe, in Frage stellt, ist das Narrativ vom endlos möglichen Wirtschaftswachstum.

Die Umwandlung

Eric Schmidt und andere Befürworter der "smarten Stadt" sprechen gern vom "Re-Imaginieren", vom Umdenken und sich Neu-Erfinden. Unter "reimagine" stellen sie sich ganz konkret vor, dass die Bildung komplett neu aufgestellt werden muss (technisch). Aber nicht nur das. Denk beispielsweise an Restaurants, die nach der Ausgangssperre wiedereröffnen. Deren "Architektur" muss nun ganz andere Anforderungen erfüllen. Es geht nicht mehr um Geselligkeit, sondern darum, gesunde Distanz zu garantieren.
Es ist längst von bleibenden "post-COVID"-Lebensumständen die Rede, weswegen Schmidt vorschlägt, einfach "alles" zu telematisieren - er nennt es "tele-everything".
Kann eine bestehende Stadt mit einer heterogenen Bevölkerung wie NYC und insbesondere mit dem für amerikanische Verhältnisse vergleichsweise liberalen Klima überhaupt in eine intelligente Stadt "umgewandelt" werden?
Anders Riel Müller: Das kann ich ohne eine genaue Untersuchung des Einzelfalles nicht so einfach sagen. Viele Aspekte der Smart-City-Vision können in Krisenzeiten, unter dem Ausnahmezustand sicherlich leichter umgesetzt werden. Die Corona-Krise gibt ein gutes Beispiel für eine massive Ausweitung der Smart-City-Technologien, weil so die Ausbreitung des Virus verfolgt und Infektionsketten nachvollzogen werden können. In einer smarten Stadt mit all ihren Sensoren und Kameras lässt sich müheloser sicherzustellen, dass die Menschen die Regeln einhalten.
Es fällt mir immer schwer, die Zukunft vorherzusagen, aber ich denke, die Verwendung des Wortes "re-imaginieren" ist insofern interessant, weil an ihm deutlich wird, was genau die Benutzer des Wortes meinen. Sie stellen sich neue Arten von Bringdienst-Services vor oder eine Neu-Organisation von Produktion und Konsum, sogar von Politik. Aber jede "intelligente Stadt" wird schwer daran zu knabbern haben, sich die Wirtschaft selbst zu "re-imaginieren".

Nachhaltigkeit, Partizipation und Co-Kreation

Kannst du etwas über den Energieverbrauch intelligenter Städte erzählen?
Anders Riel Müller: Smart Cities in Europa konzentrieren sich sehr stark darauf, den Fußabdruck der Städte zu reduzieren, beispielsweise durch dezentrale Energieproduktion, maximierte Energieeffizienz, peer-to-peer-Energiehandel und ebenso durch den Einsatz von Sensoren, Computernetzwerken und Datenzentren. Ist das eine machbare, realistische Idee? Vielleicht. Ich denke, es ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Gezieltes Management von Energie-Produktion und -Verbrauch wird ein ganz offensichtlicher Anwendungs-Bereich für smart-city-Projekte sein, da es darum geht, Angebot und Nachfrage zu antizipieren und vorherzusagen. Innerhalb der EU scheinen sich die meisten Projekte für intelligente Städte auf das Thema Energie, Transport, Gebäude usw. zu konzentrieren ... alles Aspekte, die sich für ein kluges Technikmanagement eignen.
In Bezug auf Menschenrechte und Nachhaltigkeit im weitesten Sinne glaube ich allerdings, dass die Befürworter von Smart Cities noch viel expliziter über demokratische Eigenverantwortung und nicht zuletzt über soziale und ökologische Gerechtigkeit nachdenken müssen. Ich habe noch kein smart-city-Projekt mit einem ausgearbeiteten Programm für soziale und ökologische Gerechtigkeit gesehen.
In den letzten Jahren wird in den Diskursen über intelligente Städte verstärkt auf Partizipation gesetzt und auf gemeinsame Autorschaft, also das, was man Co-Kreation nennt. Aber diese Begriffe bleiben sehr vage und fluffig - vielleicht aus gutem Grund. Die Frage, wie das Problem sozialer und ökologischer Ungerechtigkeit in Städten angegangen werden kann, scheint ein Bereich zu sein, in dem intelligente Stadtprojekte noch viel zu lernen und zu arbeiten haben.
Vielleicht ist es auch vergeblich, solche Perspektiven einbeziehen zu wollen. Denn sie scheinen mit den zentralen Elementen der oft stark idealisierten Vorstellung von der intelligenten Stadt in Konflikt zu geraten. Ich meine solche Phantasmagorien wie die, dass Algorithmen ein optimiertes und effizientes Management der Gesellschaft ermöglichen.
In ihrem kürzlich erschienenen Buch "Schiefliegende Innovation" argumentiert Jennifer Clark von der Ohio State University, dass intelligente Städte technokratische Lösungen für "urbane Probleme" bieten, dass sie aber nicht in der Lage sind, die strukturellen Rahmenbedingungen, die zu einer ungleichmäßigen Entwicklung unserer Städte führen, zu schaffen. Vielmehr werden sie wahrscheinlich die bestehenden Ungleichheiten verschärfen, da smart-city-Projekte sowohl bestehende neoliberale Räume in der Stadt ausnutzen, als auch neue neoliberale Räume kultivieren.

Künstliche Intelligenz und Gesundheit

Ich möchte noch einmal auf die Rolle von Eric Schmidt als hochrangiger Berater, ja Koordinator des US-Verteidigungsministeriums zurück kommen. Bereits im Mai 2019 vor Erscheinen des Interim Report der National Security Commission on Artficial Intelligence im November 2019 hatte Schmidt unter dem Titel "Chinese Tech Landscape Overview" ziemlich zugespitzt die Erkenntnisse der KI-Verteidigungskommission, der er vorsteht, präsentiert. Das Papier ist nun unter dem Freedom of Information Act freigegeben.
Dort heißt es zum Thema "State Datasets: Surveillance = Smart Cities": "Massenüberwachung ist eine Killeranwendung für deep learning. So bezieht eine ganze Generation von Kl-Einhörnern den Großteil ihrer ersten Einnahmen aus staatlichen Sicherheitsverträgen."
Das ist natürlich als Warnung vor China gemeint - als Warnung an die Adresse des Pentagon, seine Chance nicht zu verschlafen. Was liegt hier für ein Verständnis von KI vor - als Waffe? Wie tief wird diese Idee von KI das zivile Leben "militärisch infizieren"?
Anders Riel Müller: Ich halte die KI-Frage für absolut zentral. Wie können wir eine KI unsere Gesellschaft steuern lassen, solange die Algorithmen im Eigentum von Privatunternehmen sind, die der demokratischen Kontrolle nicht komplett unterstellt sind? Wie können wir sicherstellen, dass die KI bestehende Vorurteile in Bezug auf Rasse, Geschlecht, Klasse, Fähigkeiten und so weiter nicht verstärkt?
Wenn ich hier von "Fähigkeit" spreche, meine ich, dass unsere Gesellschaft normalerweise so gestaltet ist, dass sie die Bedürfnisse der körperlich und geistig Gesunden in den Fokus ihrer Interessen setzt und alle anderen ausblendet. Wir müssen stets genau schauen, welche Kodierung hinter der Benutzung solcher Begriffe wie Gesundheit steht und wie dies bestimmte Menschen ausschließt. Sollten wir nicht grundsätzlich strikte Grenzen dafür setzen, inwieweit KI in den traditionellen Bereichen der Regierung angewendet werden darf?
Algorithmen werden zu einem großen Teil verwendet, um festzustellen, ob Du als Individuum soziale Leistungen überhaupt "verdienst", wie ein Guardian-Artikel im vergangenen Jahr deutlich machte. Man kann sehen, wie diese Art von Algorithmen in den Bereich von Regierung einsickern, indem Dienstleistungen an private Agenturen ausgelagert werden oder indem "Algorithmen" Entscheidungsprozesse übernehmen, die zuvor einmal von der Regierung ihren Sachbearbeitern zugebilligt waren.

Gründlich regieren - mit Algorithmen

Ich habe mich gerade unter dem Eindruck der Pandemie noch einmal intensiv mit John Brunner beschäftigt, der in seinen Büchern "Schockwellenreiter" und "Morgenland" Großrechner als handelnde Personen auftreten lässt, die ganze Gesellschaften managen. Brunner hatte eine Obsession für smarte Städte: Rechner steuern alle Operationen des Soziallebens in den beiden Büchern. Ein weiteres Buch hat er dann gänzlich der neuen Stadt gewidmet: in "The Squares of the City" beschreibt er eine fiktive Plan-Stadt als eine der modernsten Großstädte der Welt, Hauptstadt einer fiktiven Republik, die ihm als das "am gründlichsten regierte Land der Welt" gilt. Das gründliche Regieren mit Algorithmen - ist das Science Fiction oder die Realität von morgen?
Anders Riel Müller: In Ken Loach's Film I, Daniel Blake gibt es eine ausgezeichnete Szene. Sie setzt die Absurdität, Entmenschlichung und Ungerechtigkeit eines solchen Systems brillant in Szene.
Der Algorithmus wird zur ultimativen Autorität, eine Autorität, die schwer anzufechten ist, da sie durch geistige Eigentumsrechte geschützt ist. Die Logik ist die gleiche, wie bei einer Kreditprüfung. Ich bin vor kurzem nach Norwegen gezogen und kann keine Kreditkarte bekommen, weil der Algorithmus, der die Kreditprüfung durchführt, nicht genügend persönliche Daten über mich hat. Ich habe keine früheren Kredite oder Kreditkarten in Norwegen. Meine persönliche Wirtschaftsgeschichte reicht also nicht aus, damit der Algorithmus mir die Genehmigung erteilt, eine Kreditkarte zu erhalten.
Ich kann gegen diese Entscheidung keine Berufung einlegen - ein an sich antidemokratischer Umstand, der in sehr kleinen Buchstaben unter der "umstandslosen Ablehnung" (im Original: instant rejection) vermerkt ist. Dies, obwohl ich meine Einkommensquelle, meinen Wohnsitz und alles nachweisen kann. Der Algorithmus kümmert sich nicht darum. Denn er wurde geschrieben, um Dir kategorisch den Zugang zu einer Kreditkarte zu verweigern, wenn Du den vordefinierten Schwellenwert nicht erreichst.
Stell Dir vor, wenn solche Algorithmen bestimmen dürfen, ob Du Anspruch auf Sozialhilfe, Krankenversicherung, krankheitsbedingten Urlaub usw. hast. In demokratischen Gesellschaften gibt es rechtliche Möglichkeiten, Entscheidungen anzufechten, wenn Du den begründeten Verdacht hast, dass Verfahrensfehler gemacht wurden, Informationen vom Sachbearbeiter übersehen oder ignoriert wurden, besondere persönliche Umstände und dergleichen.
Aber wenn diese Entscheidungen durch einen Algorithmus getroffen werden und dieser Algorithmus geistiges Eigentum eines Unternehmens ist, wie kann man dann seine Entscheidung anfechten?
Wie kannst Du beweisen, dass der Algorithmus einen "Fehler" gemacht hat?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die KI oft als etwas Wünschenswertes für die Zukunft angesehen wird, aber die Algorithmen und die Logik hinter der KI beeinflussen bereits heute unser tägliches Leben, ob man nun einen Bankkredit, eine Versicherung oder eine Sozialleistung erhält. An Algorithmen zeigt sich immer wieder, dass sie bestehende Formen der Diskriminierung und Ungerechtigkeit verstärken.

Das neue Alphabet

Die führenden Unternehmen des Plattformkapitalismus melden derzeit mit Ausblick auf ein kommendes post-staatliches Machtvakuum verstärkt ihre Ansprüche an. "Schmidt Futures", die Bildungsförderungsstiftung der Eheleute Schmidt, fordert ein, dass wir Farbe bekennen: "Jeder Amerikaner sollte sich fragen, wo wir die Nation haben wollen, wenn die Covid-19-Pandemie vorbei ist." Sie postulieren die "Notwendigkeit eines schnellen, groß angelegten Experiments".
Naomi Klein pariert kritisch: "Die Technik gibt uns mächtige Werkzeuge an die Hand, aber nicht jede Lösung ist technologisch. Und das Problem mit der Auslagerung wichtiger Entscheidungen darüber, wie wir unsere Staaten und Städte neu gestalten können, an Männer wie Bill Gates und Eric Schmidt besteht darin, dass sie ihr Leben damit verbracht haben, den Glauben zu demonstrieren, dass es kein Problem gibt, das die Technologie nicht lösen kann." Kannst Du das bitte kommentieren?
Anders Riel Müller: Ich denke, Naomi Klein hat recht, dass nicht jede Lösung technologisch ist. Ich glaube jedoch, dass sie übersieht, was Schmidts ideologisches Projekt wirklich im Sinn hat: Die Neuorganisation der Wirtschaft als Silicon-Valley-artiges Risikokapital-Modell. Ich habe sechs Jahre lang im Silicon Valley gearbeitet. Was ich immer wieder sah, war, wie technologische Lösungen, die sich positiv auswirken könnten, schnell in die Logik von Risikokapital eingeordnet wurden. Sie kaufen das geistige Eigentum und skalieren die Idee so schnell wie möglich hoch.
Ich erlebte mehrfach, wie junge idealistische Studenten, die mit technologischen Lösungen aufwarteten, mit denen armen und marginalisierten Gemeinschaften geholfen werden sollte, von den Versprechungen der Venture-Capitalists, schnell viel Geld zu machen, überredet wurden, anstatt ihnen zu helfen, ihre Lösungen möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Ich glaube, dass Leute wie Eric Schmidt wirklich davon überzeugt sind, dass Silicon Valley und seine wirtschaftliche Logik die Probleme der Welt lösen kann... und ich sehe das als großen Grund zur Sorge.
Um es zynisch zu formulieren: Sie sehen Menschen nur als Erzeuger von Daten, die für ihre Profite genutzt werden können. Aber ich denke auch, dass sie wirklich glauben, dass die wirtschaftliche Logik, die sie zu Milliardären gemacht hat, die Probleme der Gesellschaft lösen kann. Ich meine, es ist heute eminent wichtig, diese Milliardäre kritisch zu betrachten, weil sie die Macht haben, die Politik zu beeinflussen und eine wirtschaftliche Logik zu verbreiten, die ich äußerst beunruhigend finde.
Bild: Janneke
Ich sehe auch Widerstandspotentiale, wie im Fall des Sidewalk-Labs-Projekts in Toronto, das genau einen Tag nach Cuomos "briefing" mit Eric Schmidt am 7. Mai 2020 stillgelegt stillgelegt wurde - auch am Sidewalks Lab war Alphabet in führender Rolle beteiligt. Aber so glatt läuft es eben nicht immer. Das lag zum guten Teil am Widerstand der Bevölkerung, der das Fortschrittstempo des Vorhabens so weit verlangsamt hat, dass die wirtschaftliche Logik des Projekts für die Eigentümer keinen Sinn mehr machte.
Die Wirtschaft des Silicon Valley verlangt schnelle Erträge, so dass eine Möglichkeit des Widerstands darin besteht, diese Art von Projekten den langen und schmerzhaften Prozess der öffentlichen Zustimmung durchlaufen zu lassen, indem man sie auf Schritt und Tritt verlangsamt, eine demokratische Aufsicht verlangt und das Recht jedes Einzelnen auf den Besitz der von ihm erzeugten Daten fordert.

Bedrohungen

Viele bedeutsame technische Innovationen der letzten Jahrzehnte wurden durch eine Bedrohung gerechtfertigt. Können intelligente Städte risiko- oder bedrohungsfreie Zonen kreieren?
Anders Riel Müller: Bei Smart Cities geht es um den Umgang mit Risiken und Bedrohungen, aber vor allem um die besonderen Risiken und Bedrohungen, um die sich bestimmte Gruppen (sprich: Elite und Mittelklasse) Sorgen machen. Der jüngste Aufstand in den USA und die weltweiten Proteste nach dem Tod von George Floyd zeigen deutlich, dass das Polizei-Motto "dienen und schützen" bedeutet, bestimmten Gruppen und Interessen Dienst und Schutz zu leisten. Für einen Schwarzen in den USA ist die Polizei ein alltägliches Risiko und eine tödliche Bedrohung.
Wir können bereits beobachten, wie "intelligente" Technologien mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Markt gebracht werden, um die Bedrohung durch Covid-19 zu "managen". Solche Produkte umgehen regelmäßig demokratische Prozesse im Namen von Effizienz und Effektivität. Ein solches Szenario ist natürlich der feuchteste Traum von Eric Schmidt.
Ein Szenario wie die Pandemie ermöglicht den Milliardären des Silicon Valley, rasch "technologische Lösungen" umzusetzen, unter Umgehung des langen und mühsamen Weges, der mit einer öffentlichen, demokratischen Kontrolle und genauen Prüfung aller Umstände und Folgen verbunden ist, die im Mittelpunkt jeder Stadtplanung stehen sollte.
Aus meiner Forschung meine ich, genügend Beweise beibringen zu können, dass intelligente Städte bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten eher verschlimmern als sie zu beseitigen. Abgesehen davon, dass Smart Cities einige aktuelle Risiken und Bedrohungen reduzieren, bringen sie jede Menge neue Risiken hervor, von denen viele mit der Einschränkung oder Zurücknahme demokratisch verbürgter Rechte und Gerechtigkeit zu tun haben. Wenn intelligente Stadtprojekte nicht ausdrücklich Begriffe der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Gerechtigkeit bereits im Kern enthalten, werden sie, so fürchte ich, viele der "bösen" städtischen Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, nur verstärken.
Intelligente Städte können vielleicht das Risiko von Verkehrsunfällen und die Bedrohung durch Umweltverschmutzung verringern. Aber sie können auch zu einem noch größeren Demokratiedefizit führen, wenn die Technologien und ihr Einsatz nicht vernünftig beherrscht werden. Diese neuen Risiken und Bedrohungen werden so, wie es jetzt aussieht, ungleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt sein.
Wenn Naomi Klein schreibt: "Es ist eine Zukunft, in der unsere Wohnungen nie wieder ausschließlich persönliche Räume sind", dann wendet sie sich meiner Meinung nach an die weiße und städtische Mittelschicht. Denn der exklusive private Raum war nie ein Konzept für alle. Die neuen Risiken und Bedrohungen werden meiner Meinung nach zumeist von ohnehin schon marginalisierten Gruppen ausgebadet, denn ihre Bewegungen im Stadtraum und ihre Aufenthaltsorte werden verstärkt überwacht, kontrolliert und eingeschränkt.
Dies geschieht bereits in vielen Städten, die mit Einsatz digitaler Technologien ihre Polizeiarbeit optimieren. Ich will damit sagen, dass die neuen Risiken, Bedrohungen und sozialschädlichen Effekte der intelligenten Stadt ungleichmäßig über die Bevölkerung verteilt sein werden, wobei diejenigen, die sich bereits jetzt am Rande der Gesellschaft befinden, die Hauptziele der Negativwirkung sein werden. Das passiert eben genau deswegen, weil die soziale, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit nicht das Hauptinteresse ist, die Entwicklung der intelligenten Stadt voranzutreiben. Ich hoffe allerdings, dass ich mit dieser Einschätzung falsch liege.

Olaf Arndt, ist Herausgeber der Zeitschrift "Die Aktion 4.0 - Organ für radikale Intelligenz" und Autor zahlreicher Sachbücher und Sammelbände zu Themen wie KI, Finanzkapitalismus, weniger-tödliche Waffen. Er führt die auf Telepolis begonnene Reihe mit Beiträgen zu den sozialen Folgen von Corona auf seinem Blog weiter. Dort sind auch Informationen zu erhalten über seinen neuen Roman "Unterdeutschland", der sich mit dem gleichen Thema befasst.

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