Türkei: An der Krise vorbeigeschrammt

Das türkische Verfassungsgericht sieht von einem Verbot der Regierungspartei ab

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Mit dem Urteil, das das türkische Verfassungsgericht am Mittwoch im Verbotsverfahren gegen die konservativ-islamische Regierungspartei AKP gefällt hat, ist eine schwere politische Krise in der Türkei zunächst einmal abgewendet worden. Die Richter folgten zwar mehrheitlich dem Antrag von Chefankläger Abdurrahman Yalcinkaya, die Partei von Ministerpräsident Tayyip Erdogan wegen angeblicher Bestrebungen, die laizistische Grundordnung des Staates zu beseitigen, zu schließen. Immerhin sechs der elf Höchstrichter votierten für ein Verbot der seit dem Jahre 2002 regierenden AKP. Dennoch wurde die verfassungsmäßig vorgeschriebene qualifizierte Mehrheit von sieben Stimmen knapp verfehlt.

Ganz unbeschadet geht die Partei Erdogans aus dem Verfahren trotz des „Freispruchs“ aber nicht hervor. Als „ernste Warnung“ an die AKP verfügte das Gericht, die staatlichen Zuschüsse für die AKP um die Hälfte auf 22,8 Millionen Lira (rund 12,5 Millionen Euro) jährlich zu halbieren – eine Entscheidung, die die vergleichsweise reiche AKP gut verkraften kann.

Zu dem Verbotsverfahren gegen seine Partei hatte Ministerpräsident Erdogan selber maßgeblich beigetragen. Schon im Wahlkampf zu den letzten Parlamentswahlen, die im Juli 2007 abgehalten wurden, hatte die kemalistische Opposition die Auseinandersetzung über die Frage, ob die Regierungspartei eine Umwandlung der Türkei in einen „Gottesstaat nach iranischem Vorbild“ im Schilde führe, gesucht – um so die Polarisierung des Landes in zwei Lager bewusst voranzutreiben.

Als Erdogans AKP dann aus den Wahlen dennoch mit 47 Prozent der Stimmen als strahlender Sieger hervorging, war sich selbst die Führung der AKP darin einig, dass angesichts der aufgeladenen Stimmung, für die der scharf geführte Wahlkampf gesorgt hatte, ein Ausgleich mit der Opposition nötig sei. Noch in der Wahlnacht versprach Erdogan deshalb in einer viel beachteten Rede, das triumphale Ergebnis keineswegs für einen „Regimewechsel“, sondern vielmehr „zum Wohle des ganzen Landes“ verwenden zu wollen: „Ich verstehe die Sorgen der Menschen, die mich nicht gewählt haben“, erklärte Erdogan in Richtung Opposition – und gab so zu verstehen, dass er die Bedenken derjenigen, die in der Regierung der AKP eine Bedrohung für einen liberalen Lebensstil sehen, ernst nehme.

Kräftemessen mit dem Militär

In den folgenden Wochen wurde jedoch rasch deutlich, dass die AKP keineswegs einen Ausgleich mit der Opposition suchen würde, sondern dass Erdogan tatsächlich, wie vielfach befürchtet, den überwältigenden Wahlsieg für ein Kräftemessen mit dem politisch einflussreichen Militär und den traditionellen kemalistischen Seilschaften im Staatsapparat nutzen würde, die zu seinen erbittertsten Feinden zählen.

So setzte Erdogan nur einen Monat nach der Parlamentswahl seinen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten, Abdullah Gül, durch und ließ ihn, mit Hilfe der ultranationalistischen MHP, in das höchste Staatsamt wählen - obwohl die Kandidatur seines langjährigen Weggefährten und engen Vertrauensmanns die Staatskrise, die zu den Parlamentswahlen vom Juli 2007 führte, erst hervorbeschworen hatte.

Im April 2007 hatte das türkische Militär immerhin kaum verhohlen mit einem Putsch gedroht, sollte Gül tatsächlich zum Präsidenten gewählt werden. Doch Erdogan konnte sich sicher sein, dass den Generälen nach dem überzeugenden Wahlerfolg die Hände gebunden waren und ihre Putschdrohung nicht umsetzen würden – eine richtige Einschätzung, wie sich bald herausstellte. Erstmals in der Geschichte der türkischen Republik vermochte es ein Ministerpräsident so, seinen politischen Willen gegen das als „allmächtig“ geltende Militär durchzusetzen.

Doch auch wenn Erdogan aus dem Kräftemessen als Sieger hervorging – die meisten Beobachter waren sich darin einig, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis seine Gegner zum Gegenschlag übergehen würden. Dadurch, dass die AKP nicht etwa einen Kompromisskandidaten für das Präsidentenamt benannt hatte, sondern kurzerhand ihren Wunschkandidaten durchpeitschte, war „der Bogen überspannt worden“, meinten schon damals viele.

Provokation mit der Kopftuchreform

Nach dem Doppelerfolg Parlamentswahlen und Präsidentenwahlen ging die AKP nun fataler Weise dazu über, ihre bislang verfolgte Reformagenda vollständig zu begraben und stattdessen politische Ziele in den Vordergrund zu rücken, die unweigerlich zur weiteren Polarisierung beitragen mussten. Ob EU-Reformen oder gar das ehrgeizige Verfassungsreformprojekt, das kurz nach der Wahl verkündet worden war und mit dem die autoritäre Verfassung von 1982, die noch von der Putschjunta verordnet worden war, ersetzt werden sollte – in den Monaten, die auf die Wahl Güls zum Präsidenten folgten, wurden sämtliche Reformprogramme auf Eis gelegt. In dem Glauben, von seinen Gegners nach den erlittenen Schlappen keinen ernsten Widerstand mehr befürchten zu müssen, wendete sich die AKP stattdessen einem Anliegen zu, das in der Türkei seit Jahren auf der Agenda des politischen Islam aufgrund seines hohen symbolischen Stellenwertes obenan steht: Die Freigabe des Kopftuchs an den Universitäten und Hochschulen.

Für die politischen Gegner der AKP allerdings besitzt die sogenannte „Kopftuchreform“, die durch zwei Verfassungsänderungen am 9. Februar umgesetzt wurde, einen genau so hohen „symbolischen Stellenwert“ – und wurde als „untrügliches Anzeichen“ für die Bestrebungen der Regierungspartei gesehen, den Laizismus in der Türkei „endgültig zu beseitigen“. Das Verbotsverfahren gegen die AKP, das die traditionell in kemalistischer Hand befindliche Justiz daraufhin am 14. März anstieß, war ohne Zweifel der lang erwartete Gegenschlag der politischen Gegner Erdogans, den der türkische Ministerpräsident durch eine leichtfertige Konfrontationspolitik im Anschluss an die Parlamentswahlen im Juli 2007 mit heraufbeschworen hat. Das Verbotsverfahren, das an diesem Mittwoch nun seinen Abschluss fand, war der Versuch eines „Justizputsches“, wie die AKP zu Recht monierte.

Weil acht der elf Verfassungsrichter gemeinhin zu den politischen Gegnern Erdogans gerechnet werden und auch aufgrund von anderen Vorzeichen, wie etwa dem Urteil des Gerichts vom 30. Juli, mit dem die „Kopftuchreform“ wieder rückgängig gemacht wurde, gingen die meisten Beobachter davon aus, dass die AKP tatsächlich verboten würde. 24 zumeist kurdische, linke und eben auch religiöse Parteien wurden in der Türkei seit 1963 bereits geschlossen. Dass die konservativ-islamische AKP und ihr Führer Erdogan, der immerhin wegen „Aufstachelung zur Feindschaft aufgrund der Religion“ bereits eine zehnmonatige Gefängnisstrafe verbüßt hat, dasselbe Schicksal ereilen würden, bezweifelten nur wenige.

Konflikt nicht beendet

Dass das Gericht nun dennoch nur eine Verwarnung aussprach, hat zwar eine schwere politische Krise vorerst verhindert – beendet ist der erbitterte Machtkampf zwischen Kemalisten und Religiösen durch das Urteil aber noch nicht. Die Kemalisten, die aufgrund eines autoritären und elitären Politikansatzes keinerlei Aussicht haben, in absehbarer Zeit auf demokratischem Wege an die Stelle der AKP zu treten, werden auch weiterhin auf einen Putsch des Militärs hinarbeiten, um so die Regierung Erdogan von der Macht zu verdrängen – und dabei auch Organisationen wie die rechtsnationalistische Untergrundbewegung Ergenekon, die zahlreiche Schnittpunkte mit kemalistischen Institutionen wie etwa der Zeitung Cumhuriyet oder der Vereinigung für das Gedankengut Atatürks (ADD) aufweist, stillschweigend dulden.

Vieles wird deshalb nun davon abhängen, wie die AKP mit dem neuerlichen „Triumph“, den sie über ihre politischen Gegner errungen hat, umgehen wird. Kehrt die Regierung Erdogan zu ihrem Reformprogramm zurück und engagiert sie sich erneut für eine Ausweitung der Demokratie und der freiheitlichen Grundrechte, so wie sie es in den Jahren 2003 bis 2005 getan hat, dürfte kaum die Gefahr eines Putsches bestehen. Sollte Erdogan allerdings seinen in den letzten 12 Monaten betriebenen demonstrativ provokanten Politikstil fortsetzen, wäre, insbesondere im Verbund mit der sich am Horizont abzeichnenden Wirtschaftskrise oder einer weiteren Eskalation der Kurdenfrage, eine weitere gefährliche Zuspitzung des Machtkampfs zwischen Kemalisten und Religiösen überaus wahrscheinlich.