Türkei: Wahlkampfauftakt per Verhaftung könnte strategischer Fehler sein

Ob sich Präsident Erdogan mit der Repression gegen wichtige Rivalen selbst einen Gefallen tut, ist fraglich.

Istanbuls Bürgermeister, der Hauptkonkurrent des Staatspräsidenten Erdogan wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Wessen Gewinnchancen sich dadurch erhöhen, ist offen. Das Urteil wird angefochten.

Am 14. Dezember verurteilte ein Istanbul Gericht den Bürgermeister der Großmetropole, Ekrem Imamoglu, wegen Beleidigung von Vertretern der zentralen Wahlkommission zu zwei Jahren, sieben Monaten und 15 Tagen Haft, hinzu kam ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot. Bemerkenswert ist, dass der Angeklagte selbst, potentieller Hauptrivale des amtierenden Staatsoberhaupts Recep Tayyip Erdogan bei den kommenden Präsidentschaftswahlen, weder an der Gerichtsverhandlung noch an der Urteilsverkündung teilnahm.

Imamoglu ist in Istanbul ausgesprochen populär

Die wichtigste Oppositionspartei der Türkei, die Republikanische Volkspartei CHP, der Imamoglu angehört, verurteilte die Entscheidung sogleich als politisch motiviert und kündigte den Weg in die Berufung an. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag erklärte nach einer allgemein sehr harten Reaktion der Opposition und einer Kundgebung zur Unterstützung Imamoglus mit mehreren tausend Teilnehmern recht hastig, dass die Entscheidung des Gerichts nicht endgültig sei.

Erst müsse sie in nächsthöherer Instanz bestätigt werden. Darüber hinaus kann Imamoglu gegen das Urteil den Rechtsweg bis zum Verfassungsgericht der Türkei beschreiten.

Theoretisch kann Imamoglu also immer noch Einzelkandidat einer Koalition aus sechs Oppositionsparteien werden und an den kommenden Präsidentschaftswahlen 2023 teilnehmen.

Aber der Weg durch die gerichtlichen Instanzen wird ihm dabei das Leben deutlich erschweren. Imamoglu kam 2019 durch eine ganze Welle an Unterstützung aus der Bevölkerung in Istanbul an die Macht und gewann zweifach die dortigen Bürgermeisterwahlen. Das erste, ursprüngliche Ergebnis war dabei von der Wahlkommission nach Beschwerde Erdogans regierender Partei AKP annulliert worden. Auf diese Annullierung bezog sich Imamoglus Bemerkung, die jetzt Anlass der gerichtlichen Auseinandersetzung ist: "Diejenigen, die das Ergebnis der Bürgermeisterwahl am 31. März annulliert haben, sind Narren" meinte er.

Istanbul als Schlüssel zur Türkei

Sein Doppelsieg gab der CHP die Kontrolle über die größte Stadt der Türkei, auf die 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes entfallen. Die Wahl gewann er gegen Erdogans Handlanger, Ex-Premier Binali Yildirim - und so war die zweifache Niederlage ein persönlicher Verlust für Erdogan selbst, der von 1994 bis 1998 die Stadt regiert hatte.

Er selbst prägte den populären Satz "wem Istanbul gehört, gehört die Türkei". Ironischerweise wurde auch Erdogan während seiner Zeit als Bürgermeister wegen "Anstiftung von ethnischem und rassistischem Hass" strafrechtlich verfolgt, aus seinem Amt entfernt und verbrachte vier Monate in Haft.

Dennoch sind die Verhältnisse aktuell anders als damals. "Erdogans Urteil nahmen dessen Anhänger damals mit Tränen in den Augen zur Kenntnis, aber heute begrüßten die Unterstützer von Imamoglu die Gerichtsentscheidung mit Begeisterung" schreibt ein Kolumnist der führenden türkischen Zeitung Hürriyet, Ahmet Hakan.

Die Oppositionsanhänger seien überzeugt, das Urteil fuße auf einem persönlichen Befehl von Erdogan selbst. "Heute gibt es in der Türkei keine staatliche Institution, die solch wichtige Entscheidungen ohne Wissen von Erdogan treffen kann" meint auch der Journalist Can Dündar, der selbst nach einem Mordanschlag und vor Strafverfolgung nach Deutschland geflohen ist.

Erdogan kämpft juristisch gegen die Opposition

Der Prozess gegen Imamoglu ist nicht der erste Schritt im Vorgehen gegen Schlüsselfiguren der CHP. Anfang diesen Jahres wurde Canan Kaftancioglu, Leiter des Istanbul Stadtverbands der CHP, wegen "Beleidigung der Republik Türkei und von Erdogan auf Twitter" mit einem Politikverbot und einer fünfjährigen Bewährungsstrafe belegt. Zudem steht im Januar die Entscheidung eines türkischen Gerichts an, um die Kurdische Demokratische Volkspartei (HDP) per Verbot aus der Politik entfernt werden soll.

Das Urteil gegen Imamoglu wird in der Türkei jedoch von vielen als strategischer Fehler Erdogans angesehen. Es steigert noch die Popularität des Bürgermeisters von Istanbul im Land und erhöht seine Chancen, als Einzelkandidat der Opposition nominiert zu werden.

Sie haben vor Gericht die Entscheidung durchgepeitscht, den von 16 Millionen Einwohnern Istanbuls gewählten Bürgermeister ins Gefängnis zu schicken. Sie tun alles, den Willen des Volkes mit Füßen zu treten, aber das wird vergebens sein. Der Wille von Millionen kann nicht ignoriert werden. Wir sind heute alle hier, um uns gegen Gesetzlosigkeit auszusprechen. Wir sind hier für die Gerechtigkeit!


Ekrem Imamoglu am 15. Dezember 2022 bei einer Großkundgebung zu seiner Unterstützung

Einer der Faktoren, die es Imamoglu ermöglichen könnten, bald von einer vereinten Opposition unterstützt zu werden, ist seine breite Basis und auch sein Ansehen sowohl bei weltlichen Nationalisten im Geiste Atatürks als auch bei Islamisten, die sich von Erdogan abgespalten haben. So tritt Imamoglu beispielsweise öffentlich oft mit seiner europäisch gekleideten Frau auf, aber auch mit seiner Mutter, die einen Charshaf, die türkische Version des Hijab, trägt.

Erdogans Partei als Familienclub

Erdogans Kurzsichtigkeit erklärt sich auch dadurch, dass es in seinem Umfeld niemanden mehr gibt, der ihm Vorwürfe macht, ihm widerspricht oder seine Entscheidungen infrage stellt.

"Die AKP ist heute eher ein privater Club der Familie Erdogan als eine Partei" meinte dazu Mehmet Yilmaz, Kolumnist des unabhängigen Politportals T24. Bemerkenswert ist hier auch, dass die oppositionelle Sechsparteiekoalition sich auch aus früheren Erdogan-Anhängern rekrutiert, die diesem den Rücken gekehrt haben. Etwa dem früheren Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu und den ehemaligen Außenminister Ali Babacan.

Aktuelle Meinungsumfragen zeigen, dass der Kampf um die Präsidentschaft und die Sitze des ebenfalls neu zu wählenden Parlaments voraussichtlich heftig wird. Laut einer kürzlichen Befragung des ORC Arastirma Center würden aktuell 44,6 Prozent der Befragten für die Oppositionskoalition und nur 32,3 Prozent für Erdogans Regierungskoalition stimmen. Es ist dabei offensichtlich, dass Erdogans Rating vor dem Hintergrund einer katastrophalen Inflation im Land mit Abwertung der türkischen Lira in den Keller geht.

Er wird alle Hebel für seinen Machterhalt in Bewegung setzen und der Opposition das Leben zu erschweren. So war das Urteil gegen Bürgermeister Imamoglu in der Tat nur ein Auftakt zu einem vorgezogenen Wahlkampf in der Türkei, der mit harten Bandagen geführt werden wird.