UN-Gerichtshof: Verteidigt Israel sich selbst oder begeht man Völkermord in Gaza?
Seite 2: Genozidaler Vorsatz?
Nimer Sultany, der öffentliches Recht an der Soas University of London lehrt, erklärte zudem im britischen Guardian:
Das Beharren darauf, dass der Gazastreifen besetzt und die Belagerung Bestandteil eines Apartheidsystems ist, ist wichtig, weil es Israels Argument, es habe in Selbstverteidigung gehandelt, infrage stellt. Es handelt sich nicht um einen Angriff von außen. Der Ausbruch der Gewalt kann daher nicht als nihilistischer Terrorismus, irrationale Gewalt oder tiefverwurzelter Hass verstanden werden. In jedem Fall, so Südafrika, sei das Argument der Selbstverteidigung irrelevant, da Völkermord durch nichts zu rechtfertigen sei. Staaten können im Namen der Sicherheit oder der Selbstverteidigung keinen Völkermord begehen oder Apartheid verhängen.
Das zweite Kernargument von Israel vor dem UN-Gerichtshof gegen die Völkermord-Klage bestand darin, dass man die unterstellte genozidale Absicht als nicht-existent zurückwies. Für den Vorwurf des Völkermords ist Vorsatz zentral.
In diesem Punkt betonte die Verteidigung, dass es eindeutig keine Regierungspolitik sei, obwohl Südafrika eine Reihe von Erklärungen von israelischen Offiziellen und Regierungsvertretern auflistete.
"Massive Diskrepanz" zwischen israelischer Darstellung und Realität
Israel wies auch darauf hin, dass es ein regelbasiertes Land mit einem Rechtssystem ist, sodass alles, was in Gaza falsch laufe und Verbrechen impliziere, vor den nationalen Gerichten verhandelt werden wird. Christopher Staker, ein Anwalt, der Israel vertritt, sagte:
Die unvermeidlichen Todesfälle und das menschliche Leid eines jeden Konflikts sind an sich kein Verhaltensmuster, das eine völkermörderische Absicht plausibel macht.
Zudem handele die israelische Armee in Übereinstimmung mit internationalem Recht und ziele darauf, zivile Schäden zu minimieren.
Thomas MacManus, Dozent für Staatsverbrechen an der Queen Mary University of London, sagte jedoch gegenüber Al Jazeera, dass der IGH wahrscheinlich eine "massive Diskrepanz" zwischen dem Bild, das Israel von seiner humanitären Sorge um den Gazastreifen zeichnet, und "der Realität vor Ort, wo die Menschen laut UN-Organisationen hungern, kein Wasser haben und Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen und Universitäten erleben", feststellen werde.
Ist der IGH zuständig?
Das dritte Hauptargument der israelischen Vertretung vor dem UN-Gericht war eher technischer Natur.
Zur Frage der Zuständigkeit argumentierte Israel, dass eine der Anforderungen des IGH-Mandats darin besteht, dass der Staat, der den Fall vorbringt, zunächst versuchen sollte, dieses Problem bilateral zu lösen.
Nach israelischer Auffassung ist es dem Land nicht gelungen, mit Südafrika zu sprechen, bevor es den Fall vor den Gerichtshof brachte. Südafrika wiederum argumentierte, es habe sich an Israel gewandt, aber keine Antwort erhalten.
Das israelische Team habe zwar starke "juristische und verfahrenstechnische Argumente" vorgebracht, so Marwan Bishara, leitender politischer Analyst bei Al Jazeera. Aber er fügte hinzu, dass "Israel das moralische, faktenbasierte, historische und humanitäre Argument aufgrund der Art und Weise, wie sich die Situation in Gaza entwickelt hat – im Zuge eines industriellen Tötens dort – verloren hat".
Das Internationale Gerichtshof wird nun in den nächsten Tagen bzw. Wochen über die von Südafrika geforderten vorübergehenden Maßnahmen wie einen Waffenstillstand beraten. Die Entscheidung darüber, ob Israel im Gaza-Krieg einen Völkermord begangen hat, wird erst in Jahren gefällt werden.