USA: 2,5 Millionen neue Waffenbesitzer
Was dem Selbstschutz dienen soll, endet oft in Selbstmord. Unbewaffnete Schwarze werden fast doppelt so häufig von der Polizei erschossen
Massen-Arbeitslosigkeit, Polizeigewalt, Wirtschaftskrise: Der Run auf die Waffengeschäfte in den USA ist dieses Jahr besonders groß. Die Verkäufe von Waffen und Munition haben seit Mitte März, als die Pandemie ausgerufen wurde, wieder angezogen. Und die überdurchschnittlich hohen Verkäufe setzen sich bis Mai fort. Die Waffenverkäufe werden auch im Juni weiter ansteigen. "Time to buy a gun" trendet auf Twitter seit die Proteste begonnen haben.
Laut den jüngsten Daten des National Instant Criminal Background Check (NICS) des FBI wurden in diesem Jahr so viele Hintergrundüberprüfungen ("background checks") für Waffenkäufe gemacht wie nie zuvor. Insgesamt zählt das FBI in den ersten fünf Monaten 30% mehr background checks als im gleichen Zeitraum 2019. Allein 3,74 Millionen Überprüfungen waren es im März, ein Höchstwert innerhalb eines Monats seit der Einführung der background checks im Jahr 1998. Erneut über drei Millionen waren es im Monat Mai. Die Daten des FBI zeigen überhaupt jährlich steigende Zahlen.
Für den Hintergrundcheck werden Name, Adresse und Geburtstag abgefragt als auch Vorstrafen, Drogenkonsum und psychischer Gesundheitszustand. Das National Instant Criminal Background Check System (NICS) durchsucht drei Datenbanken nach Auffälligkeiten. Eine Prüfung dauert in der Regel wenige Minuten. Beim Antrag zu schwindeln zählt als eine Straftat, die mit hohen Geldstrafen und Haftstrafen verbunden sein kann. Doch private Verkäufe, einschließlich durch Waffenschauen, Online-Marktplätze oder soziale Medien, sind von den bundesstaatlichen Hintergrundüberprüfungen ausgenommen und solche Waffenverkäufe werden nicht vom FBI erfasst.
2,5 Millionen Erstbesitzer von Schusswaffen
Bisher standen Naturkatastrophen, Amok-Läufe oder Diskussionen über strengere Waffengesetze in Zusammenhang mit rapide ansteigenden Waffenverkäufen. Dieses Jahr kommen der Lockdown dazu und die Proteste gegen Polizeigewalt dazu. Über allem steht der Selbstschutz.
Die National Rifle Association twitterte am Mittwoch "In der ersten Hälfte des Jahres 2020 sind mehr als zwei Millionen Amerikaner zum ersten Mal Waffenbesitzer geworden!". Laut eines Berichts der National Shooting Sports Foundation (NSSF), neben der NRA die wichtigste Lobby-Gruppe der Schusswaffenindustrie, zu der rund 8000 Waffen- und Munitionshersteller und -händler zählen, sollen es sogar 2,5 Millionen Erstkäufer sein.
NSSF berichtet, dass diese neuen Kunden im Durchschnitt knapp 600 Dollar für einen Kauf ausgeben, besonders begehrt seien halbautomatische Handfeuerwaffen und Shotguns. Und 40 Prozent der erstmaligen Waffenkäufer in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 waren weiblich.
Etwa 40% der Amerikaner geben an, dass sie laut einer Umfrage von 2017 eine Waffe besitzen oder mit einer solchen in einem Haushalt leben, und die Rate von Mord oder Totschlag durch Schusswaffen ist die höchste in der entwickelten Welt. Im Jahr 2017 gab es fast 11.000 Todesfälle als Folge von Mord oder Totschlag mit einer Schusswaffe.
Hohes Selbstmordrisiko
Doch der Selbstschutz hat in vielen Fällen dramatische Folgen. Sprichwörtlich geht der Schuss nach hinten los: Ungefähr 60% der jährlichen Todesfälle durch Schusswaffen in den USA sind Selbsttötungen. Laut Gun Violence Archive starben 2019 knapp 40.000 Menschen durch Schusswaffen, davon waren 24.000 Suizide. 465 Tötungen bei Massenerschießungen und Amokläufen stellen demnach nur einen Bruchteil der durch Schusswaffen verursachten Todesfälle in Amerika dar.
Das Selbstmordrisiko ist in der Gruppe der Erstkäufer besonders hoch, bestätigt eine am Donnerstag im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie. Forscher der Universität Stanford verfolgten mehr als 26 Millionen Menschen in Kalifornien, die vor dem 18. Oktober 2004 keine Waffen besaßen. Knapp 3% oder 676.425 Menschen wurden zwischen dem 18. Oktober 2004 und dem 31. Dezember 2016 Waffenbesitzern. Die Forscher fanden heraus, dass das Selbstmordrisiko in dieser Gruppe etwa neunmal so hoch war wie bei Nicht-Waffenbesitzern. Fast 18.000 Personen, die in der Studie erfasst wurden, starben durch Selbstmord. Etwa 7.000 dieser Todesfälle waren Selbstmord durch Schusswaffen.
Die Ergebnisse der Studie zeigen auch, dass mehr als die Hälfte der Selbstmord-Todesfälle unter Waffenbesitzern mehr als einem Jahr nach dem Kauf der Waffe auftraten. Das bedeutete, dass es sich nicht nur um Spontankäufe von Menschen in einer Lebenskrise handelte, die zu Selbstmorden beitrugen, so David Studdert, Professor für Medizin und Recht in Stanford.
Polizei erschießt unbewaffnete Schwarze häufiger
Zudem korreliert der Waffenbesitz mit einem erhöhten Risiko von der Polizei getötet zu werden. In einem ZDF-Artikel heißt es: "Mehr als 99 Prozent der von Polizisten getöteten Menschen trugen eine Schusswaffe bei sich." Laut der gesammelten Daten zur Polizeigewalt der Washington Post wurden seit 2015 bis heute 5389 Menschen von der Polizei erschossen. Den Daten zufolge waren von den Getöteten 350, d.h. 6,5 Prozent, zum Zeitpunkt der Schüsse nicht mit Pistolen, Messern oder anderen Gegenständen bewaffnet. In 3047 Fällen, 56 Prozent, trugen die Opfer Schusswaffen, in 789 Fällen Messer und in 183 Fällen Spielzeugpistolen.
Den Daten der Washington Post zufolge werden Schwarze durch die Polizei mit einer Rate erschossen, die deutlich höher ist als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der USA. Schwarze machen etwa 12 Prozent der Bevölkerung aus, aber 23 Prozent (1276 Fälle) derer, die seit 2015 von der Polizei getötet wurden. Zum Vergleich: Weiße machen 60 Prozent der Bevölkerung aus, aber 45 Prozent (2439 Fälle) der von der Polizei Getöteten. Von den getöteten Schwarzen waren 122 unbewaffnet, von den Weißen 145. Gemessen an der Gesamtzahl lässt sich daraus schließen, dass die Polizei unbewaffnete Schwarze fast doppelt so häufig erschossen hat wie unbewaffnete Weiße.