Über den Dächern die Sehnsucht

Seite 2: Klischees und schludriger Umgang mit historischem Material

Das Problem dieser Serie ist ausgerechnet ihr Umgang mit dem historischen Material, beziehungsweise die allzu saloppe Haltung ihm gegenüber: Jahreszahlen werden aus gutem Grund gar nicht erst genannt.

Denn wild springt die Serie hin und her durch die Jahre und Ereignisse, verbindet Weimar- und Berlin-20er-Klischees mit Halbbekanntem, völlig Neuem und gnadenlos Falschem, vermischt Zeitabschnitte, die zwar nur ein paar Jahre in diesem dichten, übervollen "Weimar" trennen, die aber mit guten Gründen von Historikern auseinandergehalten werden.

Zum Beispiel wird Louise Brooks als Kinostar mit ihrem zeitlos sensationellen Auftritt in G.W. Pabst "Die Büchse der Pandora" zu einer Zeit gezeigt, in der sie noch keinen deutschen Film gemacht hatte, umgekehrt kommt die Weltwirtschaftskrise chronologisch drei Jahre zu spät. Auch nimmt die Konzentration auf die lesbische Kultur dieser paradoxerweise gerade durch den verengten und betonenden Blick viel von seiner damaligen Selbstverständlichkeit.

Da wissen die Macher offenbar nicht, wie viel fortschrittlicher, freizügiger und libertärer zumindest das Weimarer Bürgertum mit Bisexualität und Homosexualität umging, und projizieren Spießigkeit und Konservativismus unserer Gegenwart in seinerzeitige Verhältnisse.

So erinnert der aufs Schrille und Exzentrische und auf sexuelle Befreiung konzentrierte Blick, der die künstlerischen und sozialen Aufbrüche der Epoche eigentlich ganz vergisst, die politischen Verwerfungen auch nur am Rande behandelt, eher an das so romantisierende wie einseitige Weimar-Bild aus Bob Fosses "Cabaret" als an "Babylon Berlin", das so unvermeidlich wie erkennbar auch Pate stand. Manches ist nahe an einer Freak-Show.

Das Männerbild

Eine Frage am Rande: Was ist denn eigentlich das Männerbild dieser Regisseurin?

Kein Mann, den wir hier sehen, hier hat "normalen", gar liebevollen Sex. Die, die Sex haben, sind sadomasochistisch veranlagt. Einem von ihnen kommt beim Sex der Flashback zu schrecklichen Front-Erlebnissen. Hm, nun ja – würde man sämtliche Frauen einer Serie derart schräg, abnormal, pervers zeichnen, wäre der Aufschrei groß.

Zu wenig kommt auch der doch sehr prägnante Jargon der Zeit im Dialog vor: Eine Ausnahme ist es, wenn eine alte Frau und "Engelmacherin" über die mongoloide Schwester Hedis sagt: "Am besten wir räumen sie ganz aus. Wenn sie in die Blödenanstalt kommt, dann machen sie das sowieso als erstes." Oder wenn Harry von seinen "Randgedanken" spricht, von der "Kluft, die einen von allen anderen Menschen trennt."

Aber wenn Harrys Vater ein Gesangssextett als "Kleinwüchsigengruppe" bezeichnet, dann ist das allzu gegenwärtige Sprache. 1928 hätte man von einer "Zwergengruppe" gesprochen, oder von "Liliputanern".

Auch sonst: Da kommt schon viel gestelzt und überbetont daher, gerade am Anfang der Serie: "Die moderne Frau stellt nicht mehr ihr Sein in den Vordergrund, sondern ihre Leistung" ist vermutlich aus einer damaligen Zeitschrift übernommen, nur eben allzusehr Schriftsprache. Aber was ist mit dem Satz "Durch Uniformität und ähnlichen Kleidungsstil fühlen sich die Trägerinnen einander verbunden. Konkurrenz und Sexualneid treten in den Hintergrund"?

Bauhaus? DADA? Brecht? Feuchtwanger? Tucholsky?

Gegen den Vorwurf, dass doch die Weimarer Kultur hier fast komplett fehle, könnte man einwenden: Das Kino komme doch vor: eben "Die Büchse der Pandora", später noch der Kollektivfilm "Menschen am Sonntag", und Else Lasker-Schüler auch. Und die Musik. Stimmt alles. Es stimmt auch, dass man sich beschränken muss.

Aber was erzählt es uns über Weimar - oder über unsere Gegenwart -, wenn für das Auftauchen eines Rosa-von-Praunstein-Plakats Platz ist, für den schwulen F.W. Murnau aber nicht, ebenso wenig für Fritz Lang oder "Kuhle Wampe"? Es erzählt nur etwas die Vorlieben der Regisseurin, die hier nicht weniger Egotrips fährt als ein Gaspard Noe, dem man daraufhin dann Narzissmus vorwirft.

Und zu Else Lasker-Schüler, die auch nicht gerade jeder gelesen hat: Ihr ist sogar der Film gewidmet, was vor allem ein bisschen prätentiös ist. Man stelle sich vor, alle Filme wären jetzt toten Künstlern gewidmet. Wichtiger aber: Lasker-Schüler ist eine großartige, zu wenig bekannte Autorin. Der Roman "Mein Herz", der im Film rauf und runter zitiert wird, stammt trotzdem aus dem Jahr 1912. Sechs Jahre, bevor "Eldorado KaDeWe" einsetzt. Nur ein paar Jahre, was soll's?

Bloß, dass ein Zivilisations- und Kulturbruch dazwischenlag, ein ganzes Zeitalter untergegangen war. Das ist so, als würde die Regisseurin einen Film über die Nullerjahre machen, dazu aber dauernd Maxim-Biller-Texte aus den Achtzigerjahren zitieren. Macht ja nix, das merkt doch keiner?

Vielleicht. Leider verstehen viele ja noch nicht mal, dass da überhaupt zitiert wird, wie zum Beispiel die Rezensentin der Taz, die allen Ernstes glaubt, die Versen "erinnern ... an den lieblich-melancholischen Ton der Lyrikerin Else Lasker-Schüler", wo eine kurze Netzrecherche schon Abhilfe geschaffen hätte.

Gibt es keinen Frauenroman aus den Zwanzigern? Doch, gibt es. Nur nicht ganz so prominent, so kunstbedeutungstriefend. Aber Irmgard Keuns "Kunstseidenes Mädchen", Vicky Baums "Menschen im Hotel", Gabriele Tergits "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" sind für einen weiblichen Literaturkanon der Zwanzigerjahre womöglich wichtiger als Lasker-Schüler, die einfach mal einer ganz anderen Generation angehört, ihre wesentlichen Werke vor 1914 schrieb, bei Gründung der Republik schon 50 war und zwischen 1925 und 1932 überhaupt nichts veröffentlichte.

Aber vor allem: Gab es in Weimar kein Bauhaus? Kein DADA? Keinen Surrealismus? Keinen Brecht? Keine Romane? Feuchtwanger? Kästner? Mann? Musil? Roth? Werfel? Keine Zeitungen, Kisch, Tucholsky, Wilder? Keine Kritische Theorie? Keinen George-Kreis? Keine Psychoanalyse?

Was dafür nicht fehlt, sind manche Klischees des Jüdischen: Die jüdischen KaDeWe-Erben Fritzi und Harry sind halt schon wahnsinnig geschäftstüchtig; sie sind auch künstlerisch ziemlich genial, sexuell "pervers", und damit es jeder versteht, hat Fritz auch noch ein Davidstern-Kettchen um den Hals baumeln.

Fazit: Die Zuschauer, die etwas wissen, erfahren nicht mehr. Die, die nichts wissen, kommen aus dem Film dümmer, jedenfalls verwirrter heraus.