Über die Zerstörung der Distanz
Film/Telekommunikation - Benjamin/Virilio
Benjamin und Virilio haben neben ihrer Denkweise und ihren Themen eines gemeinsam - die Kritik an der Zerstörung der Distanz durch die Technik. Sie widersetzen sich, ähnlich wie Heidegger, dem Trend der modernen Kultur, alles näherzubringen. Doch ist die Berührung nur negativ?
Wenn Walter Benjamin einen geistigen Nachfahren besitzt, der seine Untersuchungen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgedehnt hat, dann muß es Paul Virilio sein. Benjamin und Virilio haben hinsichtlich ihrer Methode und der von ihnen untersuchten Themen eine ganze Reihe von wesentlichen Gemeinsamkeiten.
Die Methode
Beide beherrschen die Induktion, die schwierigste philosophische Methode: die Ableitung von allgemeinen kulturellen und historischen Gesetzen aus den bis ins Kleinste reichenden Details des Alltagslebens. Das unterscheidet sie von den meisten Kritikern, die solche Details durch die Filter von bereits vorhandenen theoretischen Paradigmen sehen wollen. Beide verzichten auch auf die herkömmliche Methode der theoretischen Darstellung, die den Autor zuerst die Formulierung von allgemeinen Behauptungen abverlangt. Diese werden vielmehr durch bestimmte Beispiele zugunsten einer anderen, vom Kino stammenden Methode gestützt: die Bildmontage. Benjamin schreibt über das Passagenprojekt: "Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen." Virilio sagte kürzlich in einem Interview: "Ich schreibe immer mit Bildern."
Die Themen
Benjamin und Virilio wenden sich immer wieder denselben Themen zu: der Stadt, den Beziehungen zwischen der Sinnlichkeit und der Technik, den Auswirkungen der Wahrnehmungsformen auf die Politik. Dieser Essay wird eines dieser beiden gemeinsamen Themen behandeln: der durch ein kulturelles Produkt, in diesem Zusammenhang eine neue Kommunikationstechnologie (im Fall von Benjamin der Film, bei Virilio die Telekommunikation) bewirkte Bruch in den gewohnten Mustern der menschlichen Wahrnehmung. Es geht um die Einwirkung der Technik auf die menschliche Natur. Dieses Thema wird in herausragender Weise in Benjamins berühmtem Essay: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) ausgeführt. Virilio kehrt zu ihm in einem Aufsatz zurück, der gegenwärtig eine der interessantesten Kritiken der Cyberkultur darstellt - Die große Optik (1992).
Wie zieht man im 20. Jahrhundert die Grenze zwischen der menschlichen Natur und der Technik? Benjamin und Virilio lösen das Problem auf dieselbe Weise. Sie setzen Natur mit der räumlichen Entfernung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten gleich, während die Technik diese Distanz zerstört. Diese Annahme bringt sie dazu, die herausragenden neuen Techniken ihrer Zeit auf sehr ähnliche Art zu kritisieren.
Benjamin geht von seinem berühmt gewordenen Begriff der Aura aus, mit der einzigartigen Gegenwärtigkeit eines Kunstwerks, eines historischen oder natürlichen Gegenstandes. Wir könnten denken, daß ein Gegenstand nahe sein muß, wenn wir seine Aura erfahren wollen, aber Benjamin definiert die Aura paradoxerweise als "einmalige Erscheinung einer Ferne".
An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der scheinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges zu atmen.
Walter Benjamin
Ganz ähnlich wahrt der Maler, so Benjamin, "eine natürliche Distanz zum Gegebenen". Die der natürlichen Wahrnehmung und der Malerei eigene Achtung der Distanz wird von den neuen Technologien der Massenproduktion, besonders von der Fotografie und vom Film, außer Kraft gesetzt. Der Kameramann, den Benjamin mit einem Chirurgen vergleicht, "dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein", seine Kamera entschält den Gegenstand aus seiner Hülle. Mit ihrer neuen Mobilität, die in Filmen wie Dziga Vertovs "Ein Mann mit der Filmkamera" gefeiert wurde, kann die Kamera überall sein und mit ihrem übermenschlichen Blick eine Nahaufnahme von jedem Gegenstand machen. Diese Nahaufnahmen befriedigen das Bedürfnis der Massen, sich die Dinge "räumlich und menschlich näherzubringen" und "des Gegenstands im Bild ... habhaft zu werden." Mit der Mißachtung der Größe wird auch der einzigartige Ort der Gegenstände vernichtet, ebenso wie ihre Bilder in einer Illustrierten oder auf einer Filmrolle zusammengebracht werden. Das paßt zum Bedürfnis einer demokratischen Massengesellschaft nach der "universellen Gleichheit der Dinge".
Wenn Virilio über Telekommunikation und Telepräsenz schreibt, verwendet er auf ähnliche Weise den Begriff der Distanz, um ihre Auswirkungen zu verstehen. Diese Technologien lassen nach Virilio die räumlichen Distanzen zusammenbrechen, indem sie die vertrauten Wahrnehmungsmuster auf den Kopf stellen, die unserer Kultur und Politik zugrundeliegen.
Virilio führt die Begriffe "Kleine Optik" und "Große Optik" ein, um den dramatischen Wandel hervorzuheben. Die "Kleine Optik" basiert auf der geometrischen Perspektive und ist dem menschlichen Blick, der Malerei und dem Film gemeinsam. Sie beinhaltet die Unterscheidung zwischen nah und fern, zwischen einem Gegenstand und einem Horizont, gegen den er sich abhebt. Die "Große Optik" ist die elektronische Informationsübermittlung in Echtzeit, die "aktive Optik des Zeitalters der Lichtgeschwindigkeit".
Mit der Ablösung der "Kleinen Optik" durch die "Große Optik" wurden die Eigenschaften der ersteren zerstört. Wenn Information von jedem Ort mit derselben Geschwindigkeit übermittelt werden kann, haben die Begriffe des Nahen und Fernen, der Distanz und selbst des Raums keine Bedeutung mehr. Wenn für Benjamin das Industriezeitalter jeden Gegenstand aus seinem ursprünglichen Kontext riß und ihn dislozierte, so löscht das postindustrielle Zeitalter für Virilio die räumliche Dimension insgesamt aus. Zumindest prinzipiell ist jetzt jeder Ort auf der Erde unmittelbar von jedem anderen Ort aus erreichbar. Daher schließt uns die "Große Optik" in eine klaustrophobische Welt ohne Tiefe und Horizont ein. Die Erde wird zu unserem Gefängnis.
Virilio fordert uns auf, die "fortschreitende Entwirklichung des irdischen Horizonts (wahrzunehmen), die aus der künftigen Vorherrschaft der realen Zeitperspektive der Wellenoptik über die des realen Raums der geometrischen Optik des Quattrocento hervorgeht." Er bedauert die Zerstörung der Distanz, der geographischen Größe, der Weite des natürlichen Raums, die den zeitlichen Abstand zwischen einem Ereignis und unserer Reaktion garantiert und uns die Zeit für eine kritische Reflexion gibt, die für eine richtige Entscheidung notwendig ist. Die Herrschaft der "Großen Optik" führt uns unvermeidlich in eine Politik der Echtzeit. Sie erzwingt unmittelbare Reaktionen auf Ereignisse, die in Lichtgeschwindigkeit übermittelt werden und mit denen letztlich nur aufeinander reagierende Computer erfolgreich umgehen können.
Natürlich und kulturell
Geht man von der überraschenden Ähnlichkeit in der Darstellung der neuen Technologien bei Virilio und Benjamin aus, dann ist es bezeichnend, wie verschieden sie die Grenze zwischen dem Natürlichen und Kulturellen, zwischen dem ziehen, was bereits von der menschlichen Natur assimiliert wurde, und dem, was noch neu und bedrohlich ist. Benjamin, der im Jahre 1936 schreibt, nimmt eine wirkliche Landschaft und ein Gemälde als Beispiele für das, was der menschlichen Wahrnehmung natürlich sei. In diesen natürlichen Zustand dringt der Film ein, der die Entfernung auflöst, alles einander gleich nah macht und die Aura zerstört. Virilio hingegen, der ein halbes Jahrhundert später schreibt, zieht die Grenzlinien ganz anders. Der Film, der für Benjamin noch eine fremdartige Anwesenheit bedeutete, wurde bereits zum Bestandteil der menschlichen Natur, zur Fortsetzung unseres natürlichen Blicks. Für Virilio gehören im Gegensatz zur "Großen Optik" mit ihrer unmittelbaren elektronischen Übermittlung sowohl der menschliche Blick, als auch die Perspektive der Renaissance, die Malerei und der Film zur "Kleinen Optik" der geometrischen Perspektive.
Virilio stellt die Behauptung auf, daß es zwischen dem Film und der Telekommunikation, zwischen der "Kleinen Optik" und der "Großen Optik" einen historischen Bruch gebe. Man kann den Übergang von ersterer zur letzteren in Begriffen der Kontinuität verstehen, falls wir das Konzept der Modernisierung verwenden sollten. Modernisierung wird vom Prozeß des Zerfalls von Raum und Materie begleitet, der austauschbare und bewegliche Zeichen gegenüber originalen Gegenständen und Beziehungen privilegiert. "Modernisierung ist", so Jonathan Crary , "der Prozeß, durch den der Kapitalismus auftaucht und mobilisiert, was an einem Ort verankert ist, wegspült oder auslöscht, was die Bewegung hemmt, und austauschbar macht, was einzigartig ist."
Diese Darstellung paßt gleichermaßen zur Darstellung des Films von Benjamin und zu Virilios Darstellung der Telekommunikation, die sich nur in einem fortgeschrittenen Stadium dieses kontinuierlichen Prozesses befindet, Gegenstände in bewegliche Zeichen zu verwandeln. Zuvor begegneten sich verschiedene räumliche Orte in derselben Illustrierten oder auf derselben Filmrolle. Jetzt begegnen sie sich auf einem elektronischen Bildschirm. Natürlich sind die Zeichen selbst jetzt digitale Daten, was ihre Übermittlung und Manipulation noch einfacher werden läßt. Und im Unterschied zu Fotografien, die unveränderlich bleiben, läßt die digitale Repräsentation jedes Bild inhärent veränderbar werden. Sie erzeugt Zeichen, die nicht nur beweglich, sondern auch stets veränderbar bleiben. Doch so bedeutsam das auch sein mag, so sind das, mit einer Ausnahme, letztlich nur quantitative Unterschiede und keine qualitativen.
Im Gegensatz zum Film ist in der elektronischen Telekommunikation die Möglichkeit neu, daß sie eine Zwei-Wege-Kommunikation sein kann. Nicht nur kann der Benutzer sofort Bilder von unterschiedlichen Orten erhalten und sie auf einem elektronischen Bildschirm zusammenbringen, er kann durch Telepräsenz auch an diesen Orten "anwesend" sein. Er kann, in anderen Worten, eine Veränderung in der materiellen Realität über räumliche Distanz hinweg in Echtzeit bewirken. Auf diese Weise macht elektronische Kommunikation nicht nur den Prozeß zeitlich unmittelbar, in dem Gegenstände in Zeichen verwandelt werden, sondern auch den umgekehrten Vorgang: die Manipulation von Gegenständen durch diese Zeichen.
Film, Telekommunikation, Telepräsenz
Die Untersuchungen von Benjamin und Virilio ermöglichen uns, die geschichtlichen Folgen dieser Technologien hinsichtlich ihrer zunehmenden Zerstörung und schließlich vollständigen Vernichtung von etwas zu verstehen, das beide Autoren als eine fundamentale Bedingung menschlicher Wahrnehmung betrachten - die Vernichtung der räumlichen Distanz, der Distanz zwischen einem Subjekt, das sieht, und einem Objekt, das gesehen wird. Wenn man die in einem (perspektivischen) Blick enthaltene Distanz als etwas Positives, als notwendigen Bestandteil der menschlichen Kultur versteht, dann eröffnet sich eine wichtige Alternative zu der viel mächtigeren Tendenz im modernen Denken, Distanz als etwas Negatives aufzufassen. Diese negative Einstellung führt zum Angriff auf den gesamten visuellen Sinn. Distanz wird dafür verantwortlich gemacht, den Graben zwischen dem Betrachter und dem Schauspiel zu errichten, Subjekt und Objekt zu trennen, ersteres in die Position transzendentaler Herrschaft zu versetzen und letzteres passiv zu machen. Distanz ermöglicht es dem Subjekt, den Anderen als Objekt zu behandeln, sie ermöglicht, kurz gesagt, die Vergegenständlichung. Ähnlich haben französische Fischer diese Kritik dem jungen Lacan deutlich gemacht, der eine auf dem Meer treibende Sardinendose betrachtete: "Sehen Sie die Dose? Sehen Sie sie wirklich? Also gut, sie kann Sie nicht sehen!"
Im westlichen Denken wurde der Blick immer im Gegensatz zum Tasten verstanden und diskutiert. Der Niedergang des Blicks führt so stets zur steigenden Wertschätzung des Tastens. Man beobachte nur das gegenwärtige Interesse an der Idee des Haptischen. Wir könnten beispielsweise versucht sein, das Fehlen der Distanz, wie es für das Tasten charakteristisch ist, als Eröffnung eines neues Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt zu verstehen. Benjamin und Virilio wehren diese anscheinend logische Argumentationsstrategie ab, da sie beide die potentiell in diesem Akt liegende Aggression betonen. Anstatt die Berührung als einen respektvollen und vorsichtigen Kontakt oder als Liebkosung zu verstehen, wird sie von ihnen als grobe und aggressive Zerstörung der Materie dargestellt.
In diesem Sinn verkehren sich die gewohnten Konnotationen des Blicks und der Berührung. Die vom Blick gewährte Distanz schützt für Benjamin und Virilio die Aura eines Objekts, seine Position in der Welt, während das Verlangen, die Dinge einander näher zu bringen, die ihre Beziehungen der Dinge zerstört, letztlich die materielle Ordnung vernichtet und die Begriffe der Distanz und des Raums bedeutungslos macht.
Auch wenn wir mit ihrer Darstellung der neuen Technologien nicht übereinstimmen und ihre Gleichsetzung von natürlicher Ordnung und Distanz in Frage stellen, sollten wir die Kritik des Gegensatzes von Blick und Berührung aufgreifen und weiterführen.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer