Ukraine 2023: Blutiges Ringen um ein altes Prinzip

Historisches Antikriegsplakat von Heartfield. Foto: Telepolis

Dystopisches Drama im Geist der Vergangenheit: Der Mythos der Nation, Grenzforderungen und Raumkonzeptionen bestimmen das Geschehen. Wo bleibt der Geist der Utopie?

Wir schütteln das westliche Joch ab


Sergei A. Karaganov, Council on Foreign and Defense Policy, Russia

Wir werden jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen


Bundeskanzler Olaf Scholz, Litauen 2022

Es gilt einen Begriff zu finden, der sich müht, alles Vergangene neu zu betreiben und das Zukünftige neu zu beraten


Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918

Es ist eine Weile her, dass Ernst Blochs "Geist der Utopie" Furore machte. Das Buch erschien vor 105 Jahren, im Sommer 1918, an der Bruchkante der Zivilisation: Millionen Kriegstote, der Horrortrip der Spanischen Grippe, Umschlag der roten Revolution in einen Bürgerkrieg, all die Ereignisse erschütterten gleichzeitig die Welt. Und heute?

Obsolet ist der Bedarf an Utopie nicht. Im Gegenteil.

Eurasien 2023: Das militärische Patt auf dem Schlachtfeld und die unnachgiebige Haltung der Kontrahenten im Ukraine-Debakel wirft die Frage auf nach der Sinnhaftigkeit territorialer Raumkonzeptionen im 21. Jahrhundert. Was wäre ein Raum, der diese Opfer wert ist? Nach den Erfahrungen von Weltkrieg I und Weltkrieg II moralisch eine anachronistische Frage; sie sollte überholt, jegliche Versuchung zum Spiel mit dem Feuer geächtet sein. Keine geopolitisch zulässige Fragestellung mehr.

Wir betreten den Gedankenkreis der Utopie. In der realen Dystopie befinden wir uns schon.

Das dystopische Schauspiel im eurasischen Raum (zu diesem Begriff später noch mehr), das seit dem 24. Februar 2022 über unsere Bildschirme flimmert (propagandistisch instrumentiert, erwacht da Orwell zu neuem Leben?), führt die Ausweglosigkeit der Art Konzeptualisierung, wie beide Seiten sie vornehmen, vor Augen. Auf überholten Konzepten beharren heißt hier vor allem: Sterben.

Brigadegeneral Christian Freuding, Leiter des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministerium – er koordiniert auch die militärische Hilfe Deutschlands für die Ukraine – gefragt nach der ukrainischen Gegenoffensive, beschreibt die Opferbereitschaft so:

Die Ukraine muss sich jeden Meter Geländegewinn dadurch erarbeiten, dass sie Minensperren unter Feuer öffnet. Das ist das Schwierigste, das Blutigste, das Dramatischste, was man sich überhaupt vorstellen kann.


Brigadegeneral Christian Freuding

Schwer zu verdauen, was das in Zahlen bedeuten mag.

Wessen Land, dessen Nation

Die Idee des neuzeitlichen souveränen Staates hängt mit dem Westfälischen Friedenskongress in Münster von 1648 zusammen. Der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman (gest. 2017) erinnerte in "Retrotopia" an die Formel "cuius regio, eius religio" (wessen Land, dessen Glaube).

Eine Losung, die – aus damaliger Sicht – dem Nationalismus noch Vorschub leisten wird; an die Stelle von "religio" tritt "natio", damit lautet die Devise "cuius regio, eius natio" (wessen Land, dessen Nation). Diese Wandlung vollzog sich zuerst im Zuge der europäischen Revolutionen von 1848, später dezidiert dank Woodrow Wilson (Friedensverhandlungen von Versailles 1919) - aus "praktischen Erwägungen", so Bauman.

Die gefundene Gleichung gießt fatalerweise Ansprüche auf Besitz eines politisch unabhängigen souveränen Territorialstaats in die Gestalt eines Rechtsprinzips.

Der Nationalismus nun (als Phänomen und politisches Prinzip) ist eng verknüpft mit der Idee der territorialen Souveränität, erklärt Bauman weiterhin, und führt an der Stelle den Gesellschaftstheoretiker Ernest Gellner an, einen hellsichtigen Zeitgenossen, welcher so formuliert:

Dass Nationen eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen seien – ein in der Weltgeschichte angelegtes (…) Geschick –, ist ein Mythos.


Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995

Ein wahres Wort, gelassen ausgesprochen.

Wir verteidigen jeden Zentimeter!

Mit Woodrow Wilsons Neudeutung wird die Gleichsetzung von nationalem und staatlichem Bereich in ganz Westeuropa jedoch zum "imperative principle". Darauf weist Hans Rothfels in einer kenntnisreichen Studie aus den frühen 1960er Jahren hin (Nationalität und Grenze im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 9 (1961), Heft 3, S. 225-233).

Rothfels geht jedoch noch einmal einen Schritt zurück, und zwar in die Zeit John Stuart Mills (1806-1873). Der britische Philosoph und Ökonom Mill, einer der einflussreichsten Denker seiner Zeit, steht für die Ideenwelt des bürgerlichen Liberalismus. Zu den idealen Gemeingütern jener Tage zählt laut Rothfels, dass ein Staat möglichst nur aus Angehörigen einer Nation besteht und – umgekehrt - jede Nation möglichst ihren eigenen Staat haben soll.

Mit dieser Grundauffassung in Zusammenhang steht nun das Problem der territorialen Grenze; bezogen auf den Ukraine-Krieg eines der vorherrschenden Themen. An der Stelle John Stuart Mill, wie Rothfels ihn anführt:

It is in general a necessary condition of free institutions that the boundaries of government should coincide in the main with those of nationalities. / Übers.: Es ist im Prinzip eine notwendige Bedingung für freie Gemeinwesen, dass die Grenzen der Staaten im Wesentlichen mit denen der Nationalitäten übereinstimmen müssen.


John Stuart Mill, zitiert nach: H. Rothfels: Nationalität und Grenze im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 9 (1961), Heft 3

Hier ist das Prinzip der Nationalität als Bestimmungsgrund für Grenzziehungen markant ausgedrückt: Die Landesgrenze wird zum Kristallisationspunkt von Nationalität, Staatlichkeit und Souveränität (wir erinnern: Bundeskanzler Olaf Scholz gab mehrfach martialisch zu verstehen: "Wir werden jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen").

Welt und Gegenwelt

Man sieht hieran, dass auf dem Boden der Ukraine blutig um ein altes Prinzip gerungen wird. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass es in irgendeiner Weise zu einem Einlenken einer Seite oder zu einer Kompromiss zwischen den Kontrahenten, von welcher Art auch immer, kommen könnte.

Beidseits, sowohl von ukrainisch-westlicher wie von russischer Seite, wird die Maximalforderung erhoben, nämlich der Anspruch auf staatliche, nationale (und damit territoriale) Zugehörigkeit des Raumes, den wir Ukraine nennen – ausdrücklich: ohne die komplizierten Fragen von Moral und Rechtmäßigkeit hier zu diskutieren.

Putins Arbeitsweise lässt erkennen, dass er sich zum Ziel gesetzt hat, das Nachbarland konsequent und rücksichtslos zu de-nationalisieren. Er bombt die Ukraine zurück in eine Nicht-Nation, in den Zustand nackten Terrains (lat. "terra"), in die Befindlichkeit eines vorzivilisatorischen Raumes.

Dazu gehört, die Bevölkerung vom Boden der Ukraine zu lösen, ihnen Heimat und Wohnung zu nehmen, ihnen die Zukunftslosigkeit ihrer Nation als eschatologischen Feuersturm (Weltenbrand) vor Augen zu führen. Das ist es, was Putin tut. Hier angesprochen ist auch der Bestand der westlichen Welt als solcher, also aus russischer Perspektive die "Gegenwelt", an der in der Ukraine ein Exempel statuiert wird.

"Russkij Mir"

Raum bedeutet deswegen hier auch: Zivilisation, im Sinne einer spezifischen Kultur. Damit bestreitet Putin die ideelle und politische Konzeption der Ukraine als Teil einer westeuropäischen Zivilisation (oder weiter gefasst: der westlichen Welt).

Die Ideologie der russischen Welt ("Russkij Mir") dagegen, wie Putin sie seit Jahren beansprucht, formuliert einen völlig konträren Mythos, der sich aus Sprengseln der russischen Geschichte und aus der Vorstellung eines ideellen "Raumes" speist und Anteile enthält, die auf die russisch-orthodoxe Kirche zurückweisen.

Zusammen ergibt sich das Bild der "heiligen Rus", welches unversöhnlich der europäischen Gesetzlosigkeit, westlichen Irrlehren und falsch verstandener Freiheit und Liberalität gegenübergestellt wird. Das Gegengift: Ein antithetisches Identitätsnarrativ.

"In Bezug auf Bürgerinnen und Bürger der Ukraine vollzieht Russkij Mir (...) eine autoritäre Identitätsbehauptung, die große Teile der Ukrainer auf die Zugehörigkeit zu einer ostslawischen Gemeinschaft festlegt, die sich außenpolitisch und außenwirtschaftlich 'natürlicherweise' an Russland orientiert", schreibt dazu die Bundeszentrale für politische Bildung.

Zugespitzt ließe sich sagen, dass auf beiden Seiten des Konflikts hoffnungslos veraltete Prinzipien walten. Wir sehen auf westlicher Seite das beschworene Ziel der Rückeroberung besetzter Gebiete in den Grenzen vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022. Das deutsche Außenministerium stellte sich zudem hinter das ukrainische Kriegsziel, die Grenzen von 2013 – vor dem Anschluss der Halbinsel Krim an Russland -- wiederherzustellen. Auch diese Ziele könnte sich als Mythos erweisen.

Das utopische Ferment

Ein Ausweg? Nicht zu erkennen. Wir finden uns in die Welt der Gewalt von Thomas Hobbes zurückversetzt.

Bloch prägte die Formel vom "Umgedachtwerden der Welt". Die neuzeitliche Idee der Nation beweist ihre ideelle und konzeptionelle Insuffizienz erneut und brutal, inmitten einer beschworenen Friedensordnung, zerrieben zwischen Nato-Imperialismus und atavistischem russischen Weltensturz.

Das unübersehbare Patt auf dem geostrategisch dynamischen Kontinent Eurasien, am Saumesrand der europäischen Zivilisation, wo der Krieg "aus Gewölben tief" erwacht ist und an gespenstischen Trümmerstätten und über verminten Weizenfeldern eine ganze Generation niedermäht, zeigt: Es braucht dringend das utopische Ferment, neue Formen utopischer Weltgestaltung, um es mit Bloch zu sagen: das "Ende logischer Halbfabrikate".