Ukraine-Krieg: Der Umgang mit Verweigerern und der deutsche Kriegskurs

Fahne der Ukrainer, Soldat

Der Durchhaltewillen "der" Ukraine gilt in Deutschland als heroisch. Wer nicht für nationale Interessen sterben will, ist nicht so gern gesehen. Symbolbild: Pixabay Licence

Der Mythos der nie kriegsmüden Ukraine ist heilig. Russland gilt als gefährlicher Feind – nur nicht im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ein Kommentar.

Das Verhalten einiger Bundestagsabgeordneter der AfD und des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat für große Aufregung und teils für Empörung gesorgt: Sie waren am Dienstag der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Plenarsaal ferngeblieben.

Selenskyj und die Extremismus-Doktrin

Erwartungsgemäß wurde wieder von den Extremen links und rechts der Mitte geredet, die sich unfreundlich gegen den Repräsentanten eines von Russland angegriffenen Staates verhalten.

Auf Missfallen stieß auch, dass die BSW-Gründerin Wagenknecht sachlich korrekt anführte, dass Selenskyj nicht für die gesamte Ukraine spricht, sofern dieser Hinweis überhaupt wahrgenommen wurde.

Ukraine: Rabiate Formen der Rekrutierung

Sie erwähnte die rund 600.000 jungen Männer, die in die EU geflohen sind, weil sie nicht eingezogen werden wollen und weil sie nicht in diesem Krieg ihr Leben verlieren wollen.

Just an dem Tag, an dem Selenskyj im Bundestag sprach, begann in der Ukraine der Prozess gegen Yurii Sheliazhenko, der sich als Pazifist weigert, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Unter dem Motto "Pazifismus ist kein Verbrechen" hatten mehr als 30 Organisationen eine Solidaritätserklärung für den Angeklagten unterzeichnet.

Sheliazhenkos Wohnung wurde am 3. August 2023 durchsucht. Er steht seither unter mehrfach verlängertem Hausarrest, während der ukrainische Sicherheitsdienst gegen ihn ermittelt. Dabei geht es insbesondere um die Anschuldigung, im September 2022 eine pazifistische Erklärung im Namen der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung abgegeben hatte. Aus der Sicht des ukrainischen Staatsapparats wird damit "die russische Aggression gerechtfertigt".

Solidarität mit der Ukraine trotz Druck auf Pazifisten

Dabei werden darin die Invasion und alle Arten von Krieg ausdrücklich verurteilt. Sheliazhenkos Computer und sein Smartphone wurden beschlagnahmt und trotz eines Gerichtsbeschlusses noch nicht zurückgegeben.

Bezeichnend ist, dass trotz der Kriminalisierung von Pazifisten und anderer Oppositioneller der ukrainische Präsident auch bei Teilen der gesellschaftlichen Linken in Deutschland außerhalb jeder Kritik steht. Vielmehr wird jede kritische Äußerung schon als Unterstützung von Putin beurteilt. Dabei gilt es für deutsche Behörden als unproblematisch, russische Kriegsdienstverweigerer an Putins Staatsapparat auszuliefern.

Russland als lupenreiner Rechtsstaat: Die Logik des BAMF

Diese Erfahrung muss aktuell der 27-jährige Nikita R. machen, über den am heutigen Donnerstag die Berliner Zeitung berichtete. Sein Antrag auf Asyl wurde abgelehnt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen.

"Nach dem Bescheid des BAMF ist Russland ein lupenreiner Rechtsstaat", erklärt seine Anwältin Christiane Meusel, die dagegen Klage eingereicht hat.

Das ist besonders schwerwiegend in einem Land, das auf die Bedrohung durch Russland verweist, erklärtermaßen wieder kriegsfähig werden will und schon erste Schritte für eine neue Wehrpflicht diskutiert.

Antimilitaristische Aktionen der Grünen von einst

Dass schon ein Fernbleiben bei einer Selenskyj-Rede auf Empörung gerade auch bei den Grünen stößt, sollte Anlass für einen kurzen Rückblick in deren eigene Geschichte sein. Denn die Grünen hatten schließlich in ihrer Frühzeit noch ganz andere Aktionen auf Lager.

So bespritzte der Landtagsabgeordnete der Grünen in Hessen, Frank Schwalba Hoth, den US-Kommandeur bei einem Besuch im hessischen Landtag am 3. August 1989 mit Blut. Es war der Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Station von Mittelstrecken in Europa.

Sowohl die Grünen als auch große Teile der deutschen Friedensbewegung beschuldigten die USA, Europa für ihre militärischen Interessen zu opfern. In diesem Zusammenhang kursierte der Begriff "Euroshima", eine Verbindung aus Hiroshima und Europa.

Deutschnationale Erweckung mithilfe der Ukraine

Der Publizist Wolfgang Pohrt sah in der deutschen Friedensbewegung auch deshalb eine neue deutschnationale Erweckungsbewegung, weil sie mit Ressentiments gegen frühere Beteiligte der Anti-Hitler-Koalition arbeite.

Sein durchaus diskussionswürdiger Befund wird noch stichhaltiger, wenn man bedenkt, dass sich schon in den frühen 1980er-Jahren bei den Grünen und in ihrem Umfeld Gruppen tummelten, die sich für ein Ende des Systems von Jalta einsetzten, an dem sie vor allem kritisierten, dass in dieser europäischen Ordnung Deutschland und seine ehemaligen Verbündeten, von denen viele mit dem Naziregime kollaboriert hatten, wenig zu sagen hatten.

Deutschland und Ukraine: Verbündete in finsteren Zeiten

Zu diesen ehemaligen Verbündeten gehörte auch der deutschfreundliche Flügel des ukrainischen Nationalismus. Viele der damaligen Protagonisten fanden in München ein neues Domizil, wo der Frontmann des deutschfreundlichen Nationalismus, Stepan Bandera vom KGB ermordet wurde.

1989 als das System von Jalta endgültig einstürzte, begann die große Zeit der nun westlich gewendeten deutschfreundlichen Bewegungen. In der Ukraine setzten sie sich endgültig 2014 durchaus nicht mit demokratischen Mitteln durch. Wenn nun für einen Selenskyj-Empfang in Berlin ein kleiner Ausnahmezustand inszeniert wird, wird diese Tradition fortgesetzt.

Nur fehlt auch bei den wenigen Kritikern des Selenskyj-Besuchs jede deutschlandkritische Komponente. Manche, die noch vor 20 Jahren "Nie wieder Deutschland" skandierten, rufen jetzt am lautesten sinngemäß "Nie wieder Russland" oder "Slava Ukraini", und das kommt hierzulande auch wesentlich besser an.

Nie wieder Russland im Kunstmuseum?

Wie sich solche Parolen auch im Kunstbetrieb festsetzen, wird in der Ausstellung "Leak. Das Ende der Pipeline" deutlich, die aktuell im Leipziger Kunstmuseum zu sehen ist. Es ist eine Koproduktion der ursprünglich lange Zeit linken Künstlerin Hito Steyerl und des ukrainischen Künstlers Oleksiy Radynski. Anders, als der Titel vermuten lässt, spielt die bis heute ungeklärte Sprengung der Nord-Stream-Pipeline keine Rolle, wohl weil man die beim besten Willen nicht Russland in die Schuhe schieben kann.

Erhellend ist in der Ausstellung die Geschichte der deutsch-russischen Kooperation der Eliten auch schon vor 1914. Es geht um Kontakte zwischen bürgerlichen Staaten und deren Interessen – nicht etwa um Freundschaft oder gar Solidarität. Das war bei den Beziehungen zwischen Regierungen in Moskau und Bonn bzw. Berlin nie anders.

Das zeigt schon die Rolle des Wolff von Amerongen, der als Funktionär des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft zur Nazizeit wie in der BRD ein Ziel hatte: das Ende der Sowjetunion. Nur in der BRD nannte sich das "Wandel durch Annäherung".

Zerschlagung Russlands – ähnliche Ziele, andere Mittel?

Seine Funktion brachte Oleksiy Radynski im taz-Gespräch gut auf den Punkt:

Wolff von Amerongen war ein Ideologe der Losung "Wandel durch Handel". Er war überzeugt, dass man mit der Sowjetunion Geschäfte machen müsste, damit sie den Kommunismus aufgibt. Er wollte den sowjetischen Parteibossen zeigen, wie reich sie persönlich werden können. Mit anderen Worten: Er wollte sie korrumpieren.

Oleksiy Radynski im Gespräch mit der taz

Allerdings entsteht während des Interviews schnell der Eindruck, dass die beiden Künstler ähnliche Ziele mit anderen Mitteln verfolgen. Dabei ist interessant, wie Steyerl und Radynski Material kommentieren, das in der Sowjetion ukrainische Filmemacher in Sibirien aufnahmen und das sie in der Leipziger Ausstellung verwenden:

Für mich ist es wie Rohmaterial für einen Roadmovie, der noch fertigzustellen ist. Aber es birgt eine komplexe Kolonialdynamik. Es wurde in der Sowjetukraine produziert, die damals eine Kolonie Sowjetrusslands war. Und die Filmemacher:innen aus der Ukraine wurden in eine andere Kolonie der Sowjetunion geschickt, um Propagandafilme zu produzieren. Ukrainer:innen waren also auch Kolonisator:innen in Sibirien.

Oleksiy Radynski

Erinnerung an Kriegsdenkschriften

Beide Künstler Sibirien "ein von Russland besetztes Gebiet". Dafür werden kleine Ethnien herangezogen, die dafür sorgen sollen, dass Russland weiter "entkolonisiert" wird. Was Radynski und Steyerl vielleicht nicht wissen oder ausblenden: hier handelt es sich keineswegs um eine neue Definition von Kolonialismus.

Sie wurde von Kreisen des deutschen Imperialismus schon vor dem Ersten Weltkrieg benutzt. Das konnte man in den Kriegerdenkschriften des Pfarrers Rohrbach lesen, der schon vor mehr als 110 Jahren Russland "schälen" wollte, wie eine Zwiebel. Auch das NS-Regime versuchte angeblich unterdrückte Ethnien in der Sowjetunion auf seine Seite zu ziehen.

So steht auch eine angeblich kritische Ausstellung in Leipzig ganz in dieser deutschen Tradition. Das System von Jalta ist seit über 30 Jahren gesprengt, aber für manche wollen mit der Zerlegung Russlands fortfahren.

Der Autor hat mit Clemens Heni und Gerald Grüneklee im Critic-Verlag das Buch "Nie wieder Krieg ohne uns. Deutschand und die Ukraine" herausgegeben.