Ukraine-Krieg: Macron bringt Entsendung von Nato-Bodentruppen in die Debatte

Emmanuel Macron. Archivbild (November 2018): President of Ukraine / CC BY 4.0 Deed

Zur Lage in der Ukraine, was US-Medien meinen und transatlantische Spekulationen über die Zeit nach der Katastrophe. Eine Einschätzung.

Nach den Äußerungen des französischen Präsidenten stehen Spekulationen über einen Krieg zwischen der Nato und Russland mit neuer Brisanz im Raum. Denn zum Hauptthema einer gestrigen eintägigen internationalen Konferenz zur Unterstützung der Ukraine in Paris wurde offenbar die Entsendung von Nato-Bodentruppen in die Ukraine.

So schließt der französischen Präsidenten Emmanuel Macron laut einer AP-Meldung eine Entsendung von Bodentruppen nicht aus:

Es gibt heute keinen Konsens darüber, in offizieller, bestätigter Weise Truppen vor Ort zu schicken. Aber im Hinblick auf die Dynamik kann nichts ausgeschlossen werden", sagte Macron auf einer Pressekonferenz im Elysee-Präsidentenpalast.

AP

Teilgenommen an der Konferenz haben unter anderem der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der polnische Staatspräsident Andrzej Duda. Die USA wurden durch ihren Spitzendiplomaten für Europa, James O'Brien, vertreten, das Vereinigte Königreich durch Außenminister David Cameron.

Die Aussichten der Ukraine - Folgen für die Nato

Hintergrund ist, dass die Wahrscheinlichkeit eines Sieges der Ukraine gegen Russland immer geringer wird. Das hat auch Konsequenzen für die Nato. Ein "All in" der Nato ist nicht neu in der Diskussion über die Möglichkeiten der Ukraine.

Jetzt wird dieser Schritt, der große, unübersehbare Risiken birgt, offensichtlich neu aufgetischt und verhandelt. Laut Aussagen des slowakischen Premierministers Robert Fico, die Reuters zitiert, würden gleich mehrere Mitglieder der Nato und der Europäischen Union eine Entsendung von Soldaten in die Ukraine auf bilateraler Basis in Erwägung ziehen.

"Ich werde mich darauf beschränken, zu sagen, dass diese Thesen (zur Vorbereitung des Pariser Treffens) darauf hindeuten, dass eine Reihe von NATO- und EU-Mitgliedstaaten in Erwägung ziehen, ihre Truppen auf bilateraler Basis in die Ukraine zu entsenden", sagte Fico in einer Fernsehsendung nach einer Sitzung des slowakischen Sicherheitsrates.

"Ich kann nicht sagen, zu welchem Zweck und was sie dort tun sollen", sagte er und fügte hinzu, dass die Slowakei, die Mitglied der EU und der Nato ist, keine Soldaten in die Ukraine schicken werde.

Reuters

Die Ukraine ist im Krieg gegen den Angreifer Russland derzeit in einer schwachen, aussichtsarmen Position. Nicht auszuschließen ist jedenfalls, dass ein Kaskadeneffekt an der Front einsetzt.

US-Medien: Niederlage der Ukraine wird offen diskutiert

US-Medien diskutieren die drohende militärische Niederlage der Ukraine sehr offen, sie sehen schwarz für die militärischen Möglichkeiten des Landes. So titelt das Online-Magazin The Hill am 22. Februar: "Ukraine can no longer win"

ABC meint, dass nach US-Schätzungen die militärischen Engpässe in der Ukraine bis Ende März katastrophale Ausmaße annehmen könnten.

Politico erklärt seinen Lesern, warum der Westen die Ukraine verliert. Und das Time Magazine stellt fest: "Ukraine Can’t Win the War".

Der Artikel endet mit den Worten:

Denn die verlorenen ukrainischen Gebiete sind verloren, und die Nato-Mitgliedschaft ist sinnlos, wenn das Bündnis nicht bereit ist, seine eigenen Truppen zu entsenden, um für die Ukraine gegen Russland zu kämpfen. Vor allem aber: So schmerzhaft ein Friedensabkommen heute wäre, so unendlich schmerzhafter wird es sein, wenn der Krieg weitergeht und die Ukraine besiegt wird.

Time

Offensichtlich ist, dass die Ukraine im Moment die russischen Truppen nicht aufhalten kann. Spekuliert und diskutiert wird, ob die ukrainischen Verteidiger schwere strategische Fehler bei Vorbereitung von Auffangstellungen begangen haben.

Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass die Nato-Führung nicht mit der wachsenden Stärke der russischen Armee gerechnet hat.

Neue Vorstöße der russischen Armee

Nach der Eroberung von Bachmut machte die russische Armee eine operative Pause. Damals wurde die gesamte Wagner-Einheit, die den strategisch wichtigen Ort in verlustreichen Häuserkämpfen erobern konnte, aus der frisch eingenommenen Stadt abgezogen. Die Front stagnierte bis Oktober vorigen Jahres, als die russischen Streitkräfte ihre bis jetzt andauernde Offensive startete.

Jetzt ist es anders, die russische Armee lässt auch nach der Eroberung von Awdijiwka nicht nach, die Truppen Kiews zu attackieren und zurückzudrängen. Nach der für Beobachter unerwartet schnellen Einnahme der ehemals stärksten Festung der Ukraine durch russische Truppen, pressen russische Einheiten weiter vor nach Westen.

Sie nahmen die westlich von Awdijiwka gelegenen Dörfchen Stepove, Lastochkyne und Sjeverne ein und verschoben damit die Front um weitere zwei bis drei Kilometer nach Westen.

Russische Truppen stehen damit vor Tonenke, Orlivka und Berdychi. Das Problem für die russischen Angreifer ist ein Höhenzug, der bei Berdychi beginnt und sich südwestlich bis nach Yasnobrodivka zieht.

Die Höhen stellen eine natürliche Barriere dar, die von ukrainische Wallmeistern zu befestigten Stellungen ausgebaut wurden.

Heftige Kritik an ukrainischer Verteidigung

Die oben genannten Dörfer, die jetzt noch durch ukrainische Kräfte verteidigt werden, sind dagegen anscheinend nicht oder nur unzureichend befestigt. Die Verteidigung unbefestigter Dörfer macht militärisch wenig Sinn.

Die pro-ukrainische Seite DeepState kritisiert denn auch in zwei aktuellen Posts das Vorgehen der ukrainischen Militärführung

Die Karte ist aktualisiert worden! Der Feind hat Lastochkyne besetzt. (…) Wo wird das Kommando der Tavria-Brigade als nächstes "vorbereitete" Verteidigungslinien deklarieren?

DeepState

Auch der folgende Post bezieht sich auf das Dorf Lastochkyne:

Die Lage in der Gegend von Lastochkyne (…) Es war schwierig, das Dorf unter extrem schwierigen Bedingungen zu halten, da dort keine Verteidigung aufgebaut war, und die Kämpfer mussten von den Kämpfen in Awdijiwka zurückrollen und mitten in den Kämpfen Fuß fassen. (…)

Wir hörten wieder einmal "Rückzug auf vorbereitete Stellungen". Und wir werden es immer wieder hören, denn die Situation in den Nachbardörfern ist genau dieselbe, und der Feind muss vom ukrainischen Militär zurückgehalten werden, das die Hauptlast des Angriffs trägt. Es reicht nicht, über den "Wert des Soldatenlebens" zu reden, er muss umgesetzt werden, denn er ist alles, was wir haben!

DeepState

Das ist für DeepState ungewöhnlich scharfe Kritik an der ukrainischen Militärführung. Und an den eigenen Maßnahmen im Informationsumfeld.

Die Katastrophe von Awdijiwka

Der aus militärischer Sicht starrsinnige Haltebefehl in Awdijiwka hat anscheinend Hunderten Soldaten das Leben gekostet, weitere Truppen konnten durch den wohl chaotischen Rückzug aus der belagerten Stadt durch Russland gefangen genommen werden.

Das berichten übereinstimmend US-Medien. So geht die New York Times von Hunderten gefangenen oder vermissten Soldaten aus, die Washington Post berichtet von einem "ungeordneten Rückzug:

Der Ukraine ist es nicht gelungen, während ihres ungeordneten Rückzugs am vergangenen Wochenende alle ihre Truppen aus der östlichen Stadt Awdijiwka sicher zu evakuieren, obwohl ihr neuer oberster Militärkommandeur behauptet hatte, dass damit Leben gerettet und eine Einkreisung durch die vorrückenden Russen verhindert werden sollte.

Washington Post

Dabei scheint die Ukraine hinter Awdijiwka fieberhaft weitere Verteidigungspositionen vorzubereiten. Durch den Wegfall von Awdijiwka sieht man jetzt das strategische Problem der ukrainischen Verteidiger: Ihr fehlen nun die in gut einer Dekade ausgebauten Verteidigungsstellungen um Awdijiwka.

Erst am 19. Januar gab Denys Schmyhal, Premierminister der Ukraine, bekannt, dass die Ukraine rund 419 Millionen Euro in den Bau neuer Verteidigungsanlagen investieren möchte. Auf seinem Telegram-Kanal erklärte er:

Wir bauen unsere Verteidigungskapazitäten kontinuierlich aus. Heute stellen wir eine Rekordsumme für den Bau von Verteidigungslinien bereit.

Es handelt sich um 17,5 Mrd. UAH, die für den Bau von Ingenieur- und Befestigungsstrukturen, die für entsprechende Ausrüstung und ein System dynamischer Sperren ausgegeben werden. Die Mittel werden den zuständigen Abteilungen und regionalen Staatsverwaltungen zugewiesen.

Denys Schmyhal

Maßnahmen kommen spät

Besonders in dem Teil des Donbass, der bei der Ukraine verblieben ist, begannen die Wallmeister vermutlich noch im vergangenen Jahr damit, Befestigungsanlagen auszubauen. Das berichtete unter anderem der britische Telegraph vor rund einem Monat.

Doch die Maßnahmen kommen spät. Auf den im Artikel präsentierten Fotografien der Ausbauarbeiten sieht man deutlich das Problem der ukrainischen Pioniere beim Bau der Befestigungen: Der Boden ist gefroren, sehr ungünstig für das Graben von Stellungen.

Die ukrainische Führung um den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der sich stark in die militärischen Belange der Ukraine einmischt, hat lange gezögert, sich strukturiert auf eine Verteidigung vorzubereiten. Die Entscheidung war ideologisch motiviert, meint der Telegraph:

Stärkere Befestigungen würden zwar die russischen Truppen verlangsamen, die Zahl der zur Verteidigung benötigten ukrainischen Truppen verringern und weniger Opfer bedeuten, aber auch Kiews Ambitionen, die besetzten Gebiete zurückzuerobern, würden dadurch geschmälert.

"Das Problem für die Ukrainer ist, dass sie nicht einfach nur einen Stillstand herbeiführen wollen", sagte Edward Arnold von der Denkfabrik Royal United Services Institute. "Wenn die Linien statisch bleiben und sich überhaupt nicht bewegen, ist das aus politischer Sicht nicht gut."

Telegraph

Die Aussagen werfen Fragen und Spekulationen auf. Die Prämisse ist nicht selbstverständlich, sondern anzuzweifeln: Der Bau von Verteidigungsanlagen schmälert nicht das Vermögen einer Armee, in die Offensive zu gehen. Will das Nato-nahe Royal United Services Institute etwa schwere strategische Fehler seitens der US-dominierten Ukraine kaschieren?

Eine OSINT-Karte mit den vermuteten ukrainischen Verteidigungsanlagen findet sich auf Google Maps.

In welchem Ausbauzustand sich diese befinden, ist allerdings nicht bekannt.

Verteidigungsstellungen und russische Rückeroberung von Robotyne

Der durch ukrainische Truppen fortifizierte Raum erstreckt sich demnach um die 65 Kilometer Richtung Westen bis zur Linie Slowjanka, Meschowa und Nowopawliwka. Es scheint sich hier nicht um durchgehende Verteidigungsstellungen zu handeln, wie es bei der russischen Surovikin-Linie der Fall ist, sondern um einzelne Bauwerke, die sich in der Tiefe gestaffelt gegenseitig schützen.

Der zweite Schwerpunkt russischer Angriffsbemühungen der letzen Tage war der Raum Robotyne. Das Dorf liegt inmitten einer knapp 10 Kilometer breiten Fronteinbuchtung, die noch etwa 9 Kilometer in russisch kontrolliertes Gebiet hineinreicht und stellt das wichtigste Ergebnis der ukrainischen Offensivbemühungen des vergangenen Jahres dar.

Doch die Rückeroberung der militärisch völlig insignifikanten Fronteinbuchtung kann eine fatale Wirkung auf die ukrainische Moral haben, denn die Eroberung Robotynes wurde mit dem Verlust von Tausenden ukrainischen Soldaten und Hunderten gepanzerten Fahrzeugen erkauft.