Ukraine-Krieg: Nukleare Eskalation unwahrscheinlich – und doch wahrscheinlicher

Russische Atomrakete RS-12M2 auf Schwertransporter MZKT-79221. Bild: Vitaly V. Kuzmin, CC BY-SA 4.0

Nach der Wagner-Revolte muss der Kreml Stärke beweisen. Das steigert das Risiko, meint der russische Politologe Michail Troizki. Er weist auf ein Paradoxon hin .

Nur wenige Tage nach der Meuterei von Jewgeni Prigoschin haben russische Offizielle dem Westen erneut mit einem Atomkrieg gedroht. Diesmal war es der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew. Kurioserweise sagte er am Tag des Putsches: "Wenn das größte Atomwaffenarsenal in die Hände von Schurken fällt, wird die Welt an den Rand der Zerstörung gebracht". Wohl auch deswegen löste der Putschversuch in Russland keineswegs Schadenfreude, sondern Besorgnis aus.

Der Moskauer Politikwissenschaftler Michail Troizki weist darauf hin, dass der Wagner-Aufstand die russischen Atomdrohungen in einem neuen Kontext erscheinen lässt. Ein unverantwortlicher Umgang mit den "Waffen des Jüngsten Gerichts" aber könne enorme Folgen für die Welt haben – er werde aber nicht zu einem für Russland günstigen Ende des Krieges führen. (Meduza/Telepolis)


Vor etwa einem Monat begannen Experten, die dem Kreml nahestehen, von einem "begrenzten" Einsatz von Atomwaffen zu sprechen, wohl wissend, dass die Fortsetzung des Krieges gegen die Ukraine der russischen Armee weitere Niederlagen bescheren könnte. Deshalb schlugen sie ein schnelles Ende der Feindseligkeiten zugunsten Russlands vor.

Jetzt fühlen sie sich sogar noch stärker bedroht: Der Aufstand des Militärunternehmens PMC Wagner hat, wenn auch nur kurz, die Einheit des Machtapparats in Frage gestellt. Es ist jederzeit damit zu rechnen, dass Russland "nach den Ergebnissen der Untersuchung" die Ukraine und ihre westlichen Partner der Unterstützung des bewaffneten Aufstands beschuldigen wird, gefolgt von einer weiteren, noch verzweifelteren Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Solche Warnungen wurden bereits ausgesprochen. Eine Woche nach der ersten Wortmeldung haben die führenden russische Experten ihre Überlegungen ergänzt und weiterentwickelt. Sie raten der russischen Führung nun, nicht vor "massiven Nuklearschlägen" zurückzuschrecken, die "Europa als geopolitische Einheit beenden" würden.

Vor den Schlägen, so die Empfehlung, könnte man versuchen, eine große Migrationskrise zu provozieren, indem man die Länder bedroht, die "die aktivste russophobe Rolle spielen".

Die Extremsituation, in die die Meuterei des Militärunternehmens PMC Wagner Russland für einen Tag gestürzt hat, wirft damit ein neues Licht auf die mögliche Entwicklung der Ereignisse unter den Bedingungen eines russischen Nuklearschlags.

Gefahr der Panik

Für diejenigen, die mit Atomwaffen drohen, es aber vermeiden, über die Folgen für Russland selbst zu sprechen, hat der Aufstand Anlass geboten, über die Reaktion der russischen Gesellschaft auf extreme Ereignisse zu beobachten. Sobald die Menschen merken, dass das Geschehen nicht nur ihr Wohl im Allgemeinen, sondern auch ihre physische Sicherheit im Konkreten bedroht, beginnen sie schnell, unkontrolliert und massenhaft zu handeln.

Als die Nachricht vom Wagner-Aufstand die Runde machte, kauften Zehntausende Moskauer Flugtickets für die nächsten Tage, und einige wichtige Beamte und Geschäftsleute verließen die Stadt eilig mit Privatflugzeugen oder bereiteten sich auf andere Fluchtwege vor.

Eine nukleare Eskalation – selbst auf der Ebene der Rhetorik – würde bei denjenigen, die sich theoretisch ein Flug- oder Bahnticket leisten könnten, noch heftigere Reaktionen provozieren.

Schon der Versuch, sich an den Rand eines Atomkrieges zu manövrieren, würde in Russland eine gesellschaftliche Dynamik auslösen, die um ein Vielfaches stärker wäre als die, die während des Prigoschin-Aufstandes zu beobachten war.

Wenn Russland eines der europäischen Nato-Mitglieder angreift – wie der Vorsitzende des Thinktanks Rat für Außen- und Verteidigungspolitik, Sergej Karaganow, vorschlägt–, könnten Gegenangriffen auf die dichtbesiedelten Gebiete Russlands die Antwort sein.

Auch nur Gerüchten über einen wahrscheinlichen nuklearen Angriff durch Moskau würde im Land selbst Panik auslösen. Die Folgen für die russischen Großstädte wären verheerend.

Die russische Militärdoktrin sieht den Einsatz von Nuklearwaffen nur in Ausnahmefällen vor, wenn Russland bereits mit Nuklearwaffen angegriffen worden ist, etwa, oder wenn sein Überleben als Staat auf dem Spiel steht.

In einem Krieg gegen eine atomwaffenfreie Ukraine würde die Unterstützung der russischen Öffentlichkeit für einen nuklearen Erstschlag vom Konsens über den Grad der Bedrohung abhängen.

Nach Angaben des Umfrageinstituts Русское поле (Russisches Feld) halten drei Viertel der Befragten (74 Prozent) den Einsatz von Nuklearwaffen zur Beendigung einer militärischen Aktion für inakzeptabel. 16 Prozent der Befragten halten den Einsatz solcher Waffen im Krieg grundsätzlich für akzeptabel, während fünf Prozent der Meinung sind, dass ein solcher Schritt nur bei einer drohenden Niederlage legitim sei.

Daraus lassen sich wichtige Schlüsse ziehen. Es ist unwahrscheinlich, dass weite Teile der russischen Gesellschaft das "Überleben des Staates" (wie es im Kreml verstanden wird) für wichtiger halten als ihr eigenes physisches Überleben. Und es ist unwahrscheinlich, dass sie in den Aktionen der ukrainischen Streitkräfte und in der Existenz der Ukraine als solcher eine direkte Bedrohung ihres Lebens sehen.

Die Bürger Russlands, selbst diejenigen, die die sogenannte Spezialoperation unterstützen, sind nicht auf das hohe Risiko vorbereitet, sofort oder später durch einen Atomkrieg oder eine von Menschen verursachte nukleare Katastrophe zu sterben.

In ihrer Unterstützung oder Neutralität gegenüber den Handlungen der russischen Behörden gehen sie davon aus, dass eine "begrenzte Militäroperation" für sie selbst relativ sicher ist.

Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte die Februar-Linie 2022 erreichen sollten, würde dies für die große Mehrheit der Russen keine offensichtliche Bedrohung des persönlichen Überlebens darstellen und die Russen nicht davon überzeugen, dass eine von Menschen verursachte nukleare Katastrophe notwendig ist.

Die Drohung, in einer solchen Situation Nuklearwaffen einzusetzen, würde von der russischen Öffentlichkeit und Bürokratie wahrscheinlich als Zeichen einer unfähigen russischen Führung interpretiert werden.

Und selbst wenn die Propaganda bis zu einem gewissen Grad funktioniert, ist eine Massenflucht aus den Großstädten fast unvermeidlich, und die Eliten sowie führende Akteure der Bürokratie könnten dem Kreml die Unterstützung verweigern.

Die Macht des Unglaubens

Der Versuch Moskaus, die Ukraine durch die Drohung mit Atomwaffen zur Aufgabe eines Teils ihres Territoriums zu zwingen, schafft ein weiteres Problem: Nuklearstrategen sind zu dem Schluss gekommen, dass solche Waffen nur zur Abschreckung geeignet sind, also zur Verhinderung feindlicher Pläne, die zu katastrophalen Schäden führen könnten.

Mit anderen Worten: Es ist möglich, etwas NICHT geschehen zu lassen, aber es war noch nie möglich, etwas mit der Androhung einer Atombombeneinsatzes zu erzwingen. Staatschefs fürchten nukleare Vergeltung nur, wenn sie selbst angreifen und sich bewusst sind, dass sie die vitalen Interessen des Feindes gefährden.

Hier stellt sich die Frage: Kann eine ukrainische Gegenoffensive als etwas wahrgenommen werden, das Russland das Recht auf "Eindämmung" gibt? In diesem Fall kommt es nicht auf die russische oder gar ukrainische Einschätzung an, sondern auf die Position der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der Staaten, die sich gegenüber dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine "neutral" verhalten.

Niemand in der Welt hat bisher den Anschluss der von russischen Truppen in einem anderthalbjährigen Krieg besetzten Gebiete in Russland anerkannt. Man kann daher davon ausgehen, dass kaum einer der Hauptakteure der Meinung ist, dass Russland mit dem Versuch, diese Gebiete zu halten, sein "legitimes Recht" ausübt, "die Ukraine einzudämmen".

Es ist also keineswegs klar, welches Ereignis in den Augen eines Großteils der Weltgemeinschaft einen legitimen Grund für Russland darstellen könnte, Atomwaffen einzusetzen.

Die russische Führung selbst scheint sich dessen bewusst zu sein. Während des laufenden Krieges hat sie ihre Rhetorik manchmal nach Misserfolgen an der Front verschärft – wie Wladimir Putin am 21. September, kurz nach dem Rückzug der russischen Truppen aus der Region Charkow –, um sie dann wieder zu mäßigen, als sich die Lage für die russischen Streitkräfte nicht wesentlich verbessert hatte. (Derselbe Putin tat genau das einen Monat später auf dem Treffen des Valdai-Clubs, kurz vor der Kapitulation von Cherson).

Die meisten Beobachter glauben nicht einmal, dass die massiven Bombardierungen ukrainischer Städte und Energieinfrastrukturen, die im Oktober 2022 begannen, wirklich eine "Reaktion" auf die Bombardierung der Krim-Brücke waren, wie die russische Propaganda glauben zu machen versuchte, und nicht von vornherein geplant waren, um die ukrainische Luftabwehr auszuschalten.

Und diese Angriffe werden mit konventionellen Waffen geführt. Mit anderen Worten: Es ist schwer vorstellbar, welche Aktionen der Ukraine zu radikalen, nicht im Voraus geplanten Schritten führen könnten.

Schließlich liegt es auf der Hand, dass der Einsatz von Massenvernichtungswaffen auf dem Kriegsschauplatz auch dem Angreifer irreparablen Schaden zufügen kann. Es genügt, an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern, in dem die Konfliktparteien aufgrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs selbst unter den schlimmsten Umständen keine chemischen Waffen einsetzten.

Deshalb wird es Moskau schwerfallen, Kiew und seine Partner davon zu überzeugen, dass seine neuen nuklearen Drohungen realistisch sind. Die Ukraine und die Nato-Staaten haben bis vor kurzem die Position des "Unglaubens" eingenommen und betont, sie sähen einfach keine Anzeichen dafür, dass Russland eine nukleare Eskalation vorbereite.

Die Verlockung der Provokation

Diskussionen unter einflussreichen Experten und sogar bewusste Vorbereitungen auf den Einsatz von Atomwaffen dürften die Wirkung der nuklearen Abschreckung nicht erhöhen.

Die Ukraine und ihre westlichen Partner berücksichtigen bei der Planung von Militäroperationen bereits das Risiko eines Nuklearkrieges - und die Tatsache, dass dieses Risiko relativ gering ist.

US-Präsident Joe Biden hatte dies klar vor Augen, als er einräumte, dass der Einsatz von Atomwaffen durch Russland nicht ausgeschlossen werden könne – er sprach jedoch nicht von der Notwendigkeit außerordentlicher Maßnahmen oder einer Änderung der US-Politik in Bezug auf den Krieg in der Ukraine.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Bedrohungen für das Überleben Russlands so schwer fassbar und die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes so unmittelbar und schwerwiegend sind, dass sie zusammengenommen gute Gründe dafür liefern, sich zu fragen, ob ein solcher Schlag überhaupt angeordnet werden würde.

Im Zuge des Prigoschin-Aufstandes ist deutlich geworden, dass sich einige russische Sicherheitskräfte und möglicherweise auch zivile Beamte in Krisensituationen nicht immer an die wortgenauen Vorgaben ihrer Aufgabenbeschreibung gehalten haben.

Ferner zeigt die Wirksamkeit der ukrainischen Luftabwehr zum Schutz von Städten und wichtigen Einrichtungen, dass selbst das Erreichen von Zielen in der Ukraine (geschweige denn in Nato-Staaten) mit einer Hyperschallrakete zumindest nicht garantiert ist.

Doch dies bringt auch eine unangenehme Wahrheit mit sich. Unter solchen Bedingungen kann man nur mit wirklich riskanten Aktionen versuchen, "die Angst zurückzubringen". Zum Beispiel durch die Provokation einer vermeintlich zufälligen nuklearen Explosion in der Nähe eines Kriegsschauplatzes etwa oder durch die Durchführung eines gewaltigen atmosphärischen Nukleartests in einem abgelegenen Gebiet.

In einer Zeit, in der sich Experten fast einig sind, dass Putins Reaktion auf den gescheiterten Putsch eine deutliche Schwäche gezeigt hat, mag die Versuchung zur Eskalation besonders groß sein.

Eine solche Politik des äußersten Risikos – im Englischen als Brinkmanship bezeichnet –, führt in einer Spannungssituation aber grundsätzlich zu einer erheblichen, also mindestens 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit eines atomaren Schlagabtauschs.

Die Ereignisse könnten sehr wohl außer Kontrolle geraten. Das hätte mindestens die zuvor beschriebenen sozialen Folgen. Im schlechtesten Fall würden sie zu einer echten Katastrophe führen, die von eben jenen russischen Experten prognostiziert wird, die sich gegen eine Rückkehr zur Politik der nuklearen Abschreckung aussprechen.

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