Ukraine-Krieg: "Nun sind die Europäer gefordert, eine größere Rolle zu spielen"

Seite 2: Die Power des Westens und die Lehren der Osteuropäer

Der US-dominierte Westen hat einen spürbaren Teil seiner militärischen Fähigkeiten in der Ukraine verloren. Sollte die Ukraine im neuen Jahr zusammenbrechen: Hätte die Nato gegen Russland und seine Verbündeten Möglichkeiten, ein weiteres Vorrücken der russischen Armee zu verhindern?

Markus Reisner: Ja, und hier rede ich nicht lange um den heißen Brei. Bei einem Vorrücken auf das Gebiet von Nato-Staaten wäre dies der Einsatz von Atomwaffen. Genau dafür wurden sie geschaffen und ich hoffe aus innerster Seele, dass es dazu nicht kommt. Das wäre unser aller Untergang.

Ich sehe die NATO-Osterweiterung als die Ursünde des US-dominierten Westens hinsichtlich des Ukraine-Krieges an. Nicht Russland ist immer weiter an die Grenzen der USA herangerückt, Russland hat nicht versucht, Kanada oder Mexiko politisch zu beeinflussen oder in eines der beiden Länder Truppen und militärisches Gerät zu stationieren. Wenn sich die Nato von Russlands Grenzen zurückziehen, zumindest in Teilen die Nato-Osterweiterung zurücknehmen und eine Abrüstungsbereitschaft signalisieren würde, wie denken Sie, würde Russland reagieren?

Markus Reisner: Hier widerspreche ich mit Vehemenz. Auch als Offizier eines Landes ohne Nato-Mitgliedschaft. Es gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es ist uns im Westen historisch nicht bewusst, welchen Anziehungseffekt wir nach dem Ende der Sowjetunion in den zentral- und osteuropäischen Ländern ausgelöst haben.

Nicht die USA und Europa haben diese Länder in die EU und in die Nato "gezwungen", sondern diese Länder und ihre Bevölkerungen wollten Teil dieser Gemeinschaft sein.

Die Zentraleuropäer wollten z.B. keine Osteuropäer mehr sein. Konsum und Wohlstand, also "Soft Power", waren einfach zu verlockend. Denken Sie selbst einmal darüber nach, welchen verführerischen Ruf die USA in den 1980ern und 1990ern hatten.

Russland konnte und kann dies nicht bieten. Sie haben es auch gar nicht versucht, sondern beschlossen, nachdem sie sich vom Schock der zerfallenden Sowjetunion erholt hatten, sich zu holen, was ihnen aus ihrer Sicht "gehört".

Wir haben diese Gefahr nicht ernst genommen, dachten, wie Francis Fukuyama schrieb, das Ende der Geschichte ist angebrochen. Das hat uns eingeholt!

Was sagen sie einem Ukrainer, der aus tiefstem Herzen sagt: "Ich möchte zu Europa gehören! Von eurem Wohlstand profitieren!". Tut uns leid, das geht nicht, denn dann würden wir die Russen verärgern?

Zudem ist das eine spekulative Frage, und ich fürchte, dazu ist es zu spät, denn Russland bzw. derzeit Putin sieht seine ihm "historischen zustehenden" Grenzen tief im Osten der Nato.

Zudem haben viele neue Nato-Mitglieder, nehmen wir z. B. die Polen, im letzten Jahrhundert traumatische Erlebnisse mit den Russen gemacht. Sie würden hier nie nachgeben. Sie haben aus ihrer Geschichte gelernt.

Wir selbst wünschen uns, dass alles so rasch wie möglich wieder beim Alten ist. Und dies vor allem aus Bequemlichkeit. Damit wir weiter den "uns zustehenden" Wohlstand genießen können. Da ist so ein Krieg am Rande der EU äußerst unangenehm.

Und das ist das Dilemma, denn ich fürchte, diese Zeit ist vorbei. Die globale Welt ordnet sich gerade neu. Wie an einem Tisch, an dem alle vor dem Essen, also der Ressourcenverteilung, wieder neu Platz nehmen.

Bis jetzt saßen wir sehr gut platziert, aber wenn wir nicht aufpassen, dann wird dies zukünftig nicht mehr so sein. Und darauf sind wir nicht vorbereitet.