Ukraine-Krieg: Russland beginnt Großoffensive im Raum Donezk

Awdiiwka, 17. März 2023. Archiv-Bild: Artemco/ CC BY-SA 4.0 Deed

Kleinstadt Awdijiwka im Fokus. Russische Militärführung ändert Taktik. Wie die Aussichten vor der nassen Jahreszeit stehen. Eine Einschätzung.

Hat sich schon über Wochen eine größere russische Offensive angedeutet, so überrascht jetzt doch der gewaltige Umfang der Operationen: Mit Hunderten gepanzerten Fahrzeugen greifen die russischen Streitkräfte die Kleinstadt Awdijiwka an.


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Awdijiwka ist die stärkste ukrainische Festung und wurde seit dem Beginn des Ukraine-Konfliktes 2014 kontinuierlich ausgebaut. Zwar stoßen russische Truppen nahezu an der ganzen Länge der Front vor, doch es hat sich herauskristallisiert, dass der Hauptstoß in Awdijiwka stattfindet.

Das russische Militär hat sich seit Monaten rund um die Bergarbeiterstadt herangekämpft und sich für die jetzt gestartete Großoffensive günstige Bereitstellungsräume geschaffen. Hier ist vor allem das Dorf Krasnohorivka im Norden in der Nähe der Kokerei und Chemiewerks Avdiivka (AKHZ) zu nennen und im Süden Vodyane. Es konnten einige operative Erfolge erzielt werden, die sich zu einer Katastrophe für die ukrainischen Verteidiger ausweiten könnten.

Der Ort und der Zeitpunkt der Offensive sind lehrbuchmäßig gewählt: Die ukrainische Armee ist durch die militärisch fragwürdige sogenannte Frühlingsoffensive stark ausgeblutet und abgekämpft. Ein signifikanter Teil der von der Nato gelieferten Kampffahrzeuge sind bereits in den ersten Wochen der gescheiterten Offensive aufgebraucht worden.

Ukraine ohne strategische Reserven

Die durch die Nato für die Erfordernisse eines hochintensiven modernen Großkrieges schlecht ausgebildeten und ausgerüsteten Kampfbrigaden sind ohne Ausnahme in die gescheiterte Offensive geworfen worden – die ukrainische Militärführung steht ohne strategische Reserven da.

Man plant zwar, neue Brigaden aufzustellen, doch dürfte es schwer werden, das benötigte Personal aufzubringen. Zudem ist nahezu keine eigene Rüstungsindustrie mehr vorhanden. Das ukrainische Militär ist fast vollständig auf Nato-Waffen angewiesen.

Doch die Arsenale der Koalition der Unterstützer der Ukraine, angeführt von den USA, sind leer, wenn man den offiziellen Verlautbarungen glauben mag. Die neuesten Waffenhilfsgesuche des wichtigsten ukrainischen Geldgebers in Washington sind blockiert.

Fraglich ist außerdem, ob die bereits jetzt leeren Arsenale für zwei größere Konflikte reichen – hier muss man abwarten, ob sich die Lage in Israel zu einem großen, regionalen Konflikt ausweitet. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Lage im Nahen Osten schon jetzt Entscheidungen der Nato über Waffenlieferungen negativ für die Ukraine beeinflussen dürfte, ist als hoch einzuschätzen.

Geografisch lag Awdijiwka bereits vor dem Beginn der Großoffensive in einem Halbkessel. Durch die jetzt einsetzende Schlammperiode sind beinahe jegliche Fahrzeuge auf befestigte Straßen angewiesen – und davon gibt es nur eine einzige, die noch aus dem Halbkessel herausführt und nicht unter physisch russischer Kontrolle ist: die Straße 00542.

Die beginnende Schlammperiode

Russland greift die Stadt über vier Achsen an:

1) Im Süden, von Vodyane Richtung Sjeverne

Auffällig ist hier, dass die Ukrainer sehr wenig Mienen ausgelegt haben. Die russischen Verluste rühren scheinbar alle von Artillerie und Panzerabwehrlenkraketen her. Von Sjeverne sind es nur noch unter drei Kilometer bis zur Nabelschnur der Festung Awdijiwka: der genannten Straße 00542.

Die Einnahme des Dorfes wäre ein großer russischer Erfolg, der den Nachschub in die Festung existenziell bedrohen kann.

2) Südlich von Awdijiwka

Hier konnten russische Streitkräfte die südliche Tangente der Autobahn überschreiten und sich an die Eisenbahnlinie über die Straße Vulytsia Soborna vorarbeiten. Bis zum südlichsten Zipfel der Stadt sind es von dort aus nur ein Kilometer. Hier befinden sich gut ausgebaute Verteidigungsstellungen der Ukrainer mit ausgedehnten Grabensystemen und Bunkern.

3) Schlackenhalde der AKHZ

Von hier aus kontrollieren die Russen die Bahnlinie und haben durch die rund 20 Meter hohe Elevation eine strategisch wichtige Beobachtungsstellung. Von dort ausgehend könnte eine mögliche Angriffsachse das ebenfalls schwer befestigte AKHZ-Werk sein.

4) Stepove und Berdychi

Vom Bereitstellungsraum Krasnohorivka stoßen die russischen Verbände in Richtung Stepove und Berdychi vor. Bis zur Straße 00542 sind es dann nur noch 4,1 Kilometer.

Es gibt Meldungen, dass russische Truppen schon in diese beiden Dörfer eindringen konnten. Die Berichte sind allerdings unbestätigt. Wahrscheinlich konnten russische Streitkräfte aber hier die Bahnlinie durchtrennen und bereits überschreiten.

Russisches Militär hat Taktik geändert

Anders als in den ersten Kriegswochen im vorigen Jahr sieht man in Videofeeds, dass die vorstürmenden Panzer nun unmittelbar durch Infanterie begleitet werden, sodass die Angreifer den gewonnenen Boden theoretisch auch halten können.

Die initiale Taktik Russlands basierte auf hochmechanisierten Bataillons-Taktischen Gruppen (BTG), die aber aufgrund eines gravierenden Mangels an Infanterie ein hochintensives Kampfgeschehen nicht für sich entscheiden konnten. Die Armeeführung hat nun seine Taktik geändert und setzt Kampfverbände, die aus kleineren Gruppen bestehen, jetzt je nach Aufgabe modular zusammen.

Laut – unbestätigten – Informationen sind bereits über 5.000 ehemalige Wagner-Soldaten an den Angriffen um Awdijiwka aktiv und über das PMC Redut mit dem russische Militär verbunden.