Ukraine-Krieg: "Russland versucht, die Kräfte der Ukraine weiter abzunützen"
Strategien auf dem Prüfstand. Eine Analyse der militärischen Strategien und der geopolitischen Lage im Krieg. Interview mit Oberst Markus Reisner.
Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Der Oberst des Generalstabsdienstes des Österreichischen Bundesheers blickt auf eine lange militärische Karriere zurück: Er war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Zugleich arbeitet er als Militärhistoriker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.
Telepolis-Autor Lars Lange fragte den Experten zum aktuellen Stand des Kriegsgeschehens in der Ukraine.
"Wir befinden uns in der Phase 6 des Krieges um die Ukraine"
Welche Strategie sehen Sie hinter dem russischen Vorgehen der letzten drei Monate?
Markus Reisner: Wir befinden uns in der Phase 6 des Krieges um die Ukraine. Russland versucht im Moment in seiner zweiten Winteroffensive, die Kräfte der ukrainischen Streitkräfte auf taktischer und operativer Ebene weiter abzunützen.
Ziel ist das Gewinnen von günstigen Räumen mit dem Zweck eines Durchbruchs in die Tiefe, aus russischer Sicht optimalerweise bis zu Dnepr. Hinzu kommt die zweite russische Luftkampagne auf strategischer Ebene.
Diese zielt auf die kritische Infrastruktur der Ukraine ab, und von deren Zerstörung erhofft man sich, dass v.a. der militärisch-industrielle Komplex der Ukraine nicht mehr produzieren kann.
Über die Chancen der ukrainischen Waffenproduktion
Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten der Ukraine, mittel- und langfristig eine eigene Waffenproduktion aufzubauen?
Markus Reisner: Dies hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab. Gelingt es der Ukraine einerseits die Tiefe des Raumes vorwiegend westlich des Dnepr mit Fliegerabwehr zu schützen und bleibt andererseits die Unterstützung des Westens weiter aufrecht?
Nur durch einen steten Fluss an Ressourcen in die Ukraine und durch einen Schutz der (optimalerweise dezentral organisierten) militärischen Fertigungsstätten der Ukraine ist es möglich in eine umfangreiche, nachhaltige und wirkungsvolle Produktion aufrechtzuerhalten.
Derzeit versucht die Ukraine vor allem weitreichende Drohnen zu produzieren, um in die strategische Tiefe Russland zu wirken. Hier kommen alle verfügbaren Werkstoffe sowie technischen Bauteile, Improvisationskunst und eine dezentrale Produktion zur Anwendung.
Ukrainische Offensivfähigkeit im Fokus
Glauben Sie, dass die Streitkräfte der Ukraine noch Chancen haben, einen russischen Sieg zu verhindern?
Markus Reisner: Im Moment versucht die Ukraine wieder eine Offensivfähigkeit ihrer Landstreitkräfte herzustellen. Analog zum Jahreswechsel 2022/2023, wo man versucht hat in Vorbereitung der Sommeroffensive 2023 insgesamt zwölf sogenannte "Brigaden der Offensive" zu bilden.
Neun davon wurden mit westlichem Gerät, darunter u. a. moderne Kampfpanzer vom Typ Leopard, Challenger und später Abrams ausgestattet. Derzeit wird von der Ukraine versucht, die mechanisierten Brigaden 150. bis 154. mit ähnlichen Fähigkeiten auszustatten.
Doch es besteht ein eklatanter Mangel an schwerem Gerät und so musste die Ukraine bereits verkünden, dass zwei dieser Brigaden zu Infanterieverbänden umgewandelt werden müssen.
Ohne Offensivfähigkeit, kann die Ukraine aber nicht in den Angriff übergehen, keine Befreiung der besetzten Gebiete und somit keinen ukrainischen Sieg erreichen.
Die Rolle westlicher Waffenlieferungen
Könnten westliche Waffen jetzt noch den Kriegsverlauf ändern? Sind überhaupt noch genug Waffen in den Ländern der Nato-Staaten vorhanden? Wenn ja, welche wären das zum Beispiel?
Markus Reisner: Der Westen hat von den zugesagten Waffensystemen bis jetzt immer nur einen Teil der versprochenen Systeme geliefert und deren Betrieb oft nicht logistisch durchhaltefähig konzipiert.
Hinzu kommt, dass der sogenannte Kampf der verbundenen Waffen unbedingt das Zusammenwirken aller Teilfähigkeiten von Streitkräften verlangt.
So kann eine Bodenoffensive nur Stellungen durchbrechen und Raum gewinnen, wenn sie von Luftstreitkräften flankiert wird. Wenn Teilstreitkräfte kaum oder mangelhaft ausgebildet sind, kommt es zu einem Scheitern von Offensivhandlungen.
Die verzögerten und quantitativ begrenzten Lieferungen von Waffensystemen an die Ukraine hat zudem dazu geführt, dass Russland sicher immer wieder anpassen konnte und Taktiken entwickelt hat, um die Fähigkeit dieser Systeme auszumanövrieren.
So wurden Himars-Boden-Boden-Raketen durch russische elektronische Kampfführung bekämpft oder westliche Fliegerabwehrsysteme durch Saturationseinsätze überwältigt.
Der Westen müsste nun weiter massiv nachschieben, tätigt aber im Moment, trotz wiederholter Absichtserklärungen, keine wirklich raschen Lieferungen. So lieferten z.B. die USA bis jetzt offiziell ein Patriot-System von insgesamt sechzig im eigenen Inventar verfügbaren.
Rekrutierung und Ausbildung neuer ukrainischer Soldaten
Hat die Ukraine überhaupt noch die Möglichkeit, weitere Truppen auszuheben? Wie lange braucht es, frisch eingezogene Menschen zu Soldaten auszubilden?
Markus Reisner: Dieses Thema wird vor allem in der Ukraine selbst intensiv diskutiert. Vor allem betreffend die Frage, ob eine Mobilisierung von 500.000 weiteren Soldaten möglich und umsetzbar sei.
Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, General Syrskyi hat diese Forderung an die politische Führung, welche noch seinem Vorgänger General Saluschnyj zugeschrieben wird, kürzlich abgeschwächt und verlautbart, dass zuerst vor allem aus in den in der Tiefe eingesetzte Territorialeinheiten Soldaten für einen Fronteinsatz ausgewählt werden sollte.
Das Herabsetzen des Rekrutierungsalters von 27 auf 25 Jahren, zeigt aber, dass weitere Maßnahmen notwendig sein werden. Eine Freiwilligenmeldung darunter war bereits vorher möglich.
Quantitativ begrenzend wirken das verfügbare Humanpotential an Soldaten sowie die Bereitschaft der Bevölkerung und somit der potenziell rekrutierbaren Soldaten, die Verluste weiter mitzutragen. Dies gilt sinngemäß auch für Russland.
Mögliche Konsequenzen einer französischen Truppenentsendung
Wenn Frankreich oder andere Nato-Länder tatsächlich Truppen schicken würden, wie würde das den Kriegsverlauf verändern können? Frankreich würde dann zum legitimen Ziel russischer Angriffe. Auf welche Weise könnte Russland Frankreich treffen?
Markus Reisner: Hier muss man zuerst klar den völkerrechtlichen Rahmen bewerten. Die Nato, bzw. der Nordatlantikvertrag, ist ein Defensivbündnis.
Im Fall des bewaffneten Angriffs eines Aggressors, also z.B. von Russland, auf ein Nato-Mitglied, verpflichtet der Nordatlantikvertrag alle übrigen Mitglieder zur sogenannten kollektiven Selbstverteidigung, welche wiederum im Artikel 5 des Vertrages geregelt wird.
Hier können alle Mitglieder freiwillig und selbstbestimmt über eine Beteiligung entscheiden. Eine Anwendung dieser Rahmenbedingungen auf Länder außerhalb des Bündnisses ist nicht vorgesehen. Es wäre hier der Artikel 51 der UN-Charta zu berücksichtigen.
Individuelle Staaten dürfen einem angegriffenen Staat z. B. auf dessen Bitte Hilfe zur Selbstverteidigung leisten. Dies inkludiert einerseits Waffenexporte, aber auch im Extremfall eine aktive Beteiligung an Kampfhandlungen. Frankreich würde sich also in diesem Rechtsrahmen bewegen, inkl. des dabei entstehenden Risikos.
Der Umfang des französischen Waffen- und Truppeneinsatzes bestimmt auch den möglichen Einfluss auf den Kriegsverlauf. Aus militärischer Sicht steht Frankreich für etwaige Maßnahmen sein gesamtes militärisches Potenzial im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Extremfall defensiver Atomwaffeneinsatz) zur Verfügung.
Aus jetziger Sicht sollen die derzeitigen Ankündigungen Frankreichs aber vor allem den Zweck der Dominanz des Informationsraums erfüllen. So möchte man Russland und seinen Drohgebärden aktiv in der Kommunikation etwas entgegensetzen.