Ukraine-Krieg: Russland zerstört systematisch Energieinfrastruktur

Installation eines Patriot-Flugabwehrsystems (in der Türkei).

Installation eines Patriot-Flugabwehrsystems (in der Türkei). Bild (2013): Niederländisches Verteidigungsministerium.

Deutschland liefert eine Batterie des US-Flugabwehrsystems Patriot. Nato-Hilfe reicht nicht: Die Verteidigung der Ukraine gerät weiter unter Druck. Eine Einschätzung zur Lage.

Noch vor wenigen Tagen verkündete Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, dass Deutschland keine weiteren Patriot-Batterien an die ukrainischen Streitkräfte liefern könne. Am Samstag, dem Tag des iranischen Angriffs auf Israel – dem "Vergeltungsschlag" auf den israelischen Angriff auf die iranische Botschaft in Syrien –, kündigte die Bundesregierung die Lieferung einer weiteren Batterie des modernen US-Flugabwehrsystems an die Ukraine an.

Grund für den Meinungsumschwung ist wahrscheinlich die strategische Luftkampagne der russischen Luftwaffe, die zunehmende militärische Erfolge verzeichnet. Ausschlaggebend für die aktuell zugesagte Patriot-Lieferung dürfte die vollständige Zerstörung des Kraftwerks Trypillja bei Kiew gewesen sein. Sechs Blöcke mit einer Gesamtleistung von 1.800 Megawatt machten es zu einem der größten Stromproduzenten der Ukraine.

Die russische Strategie

Hatte die russische Führung in den vergangenen strategischen Luftkampagnen noch gezögert, die Energieerzeuger der Ukraine anzugreifen, so ist seit dem 22. März dieses Jahres eine neue Strategie erkennbar: Die russischen Streitkräfte greifen nun Kraftwerke an, und zwar mit mehreren Drohnen und Raketen gleichzeitig.

Es sieht danach aus, als ob die Kraftwerke vollständig zerstört und die Energieerzeuger dauerhaft vom ukrainischen Stromnetz getrennt werden. Die Auswirkungen des Angriffs auf das Kraftwerk Trypillja sind in einem Video zu sehen. Dort sind zahlreiche Raketen- und Drohneneinschläge bzw. die dadurch verursachten Brände zu sehen.

Bis zu 80 Prozent aller Wärmekraftwerke und mehr als die Hälfte aller Wasserkraftwerke sollen zerstört worden sein.

Hohe Frequenz der Luftangriffe

Allein am vergangenen Donnerstag sollen 42 Raketen auf Ziele in der Ukraine abgefeuert worden sein. Fast täglich greifen russische Streitkräfte Ziele in der Ukraine mit Shahed-136-Drohnen an, mindestens einmal pro Woche werden Raketen und Marschflugkörper abgeschossen.

Einiges deutet darauf hin, dass Russland diese Frequenz aufrechterhalten kann. Möglich ist, dass Russland in diesem Jahr mindestens 6.000 dieser Drohnen produzieren kann. Die russische Monatsproduktion an Raketen wird von Beobachtern auf etwa 250 Stück geschätzt.

Allerdings: Noch im Januar schätzte das Wall Street Journal die Produktionsrate auf nur etwa 110 Stück pro Monat.

Ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung zur Patriot-Lieferung war die Zerstörung des Kraftwerks Trypillja bei Kiew. Sie markiert das Fehlen einer wirksamen Luftverteidigung über dem Luftraum der Ukraine.

Schon jetzt ist zu beobachten, dass russische Flugzeuge in Frontnähe Luftnahunterstützung für die eigenen Bodentruppen in Chassiw Jar leisten, ohne von der ukrainischen Flugabwehr behelligt zu werden.

Die Verteidigung des ukrainischen Luftraums

Die russische Luftwaffe zerstört einen Großteil der Energieversorgungsinfrastruktur im Hinterland, zudem gelingt es der Ukraine nicht mehr, die eigenen Bodentruppen an der Front vor den russischen Bodenkampfflugzeugen zu schützen.

Zu befürchten ist aus Sicht der ukrainischen Verteidiger, dass sie an dem Kipppunkt angelangt ist, an dem sie nicht mehr über eine ausreichende Luftverteidigung verfügt.

Daher wohl auch die Zusage Deutschlands, eine weitere Patriot-Batterie in die Ukraine zu schicken: Die Lage sieht sehr ernst aus.

Der US-Analyst Stephan Bryen kommt zu dem Schluss, dass die Ukraine keine Luftabwehr mehr hat. Jetzt versucht die Nato mit dem Hawk-System, Flugabwehrraketen aus den 1950er-Jahren zu liefern?

Denn selbst wenn die USA sich entschließen sollten, der Ukraine mehr Geld zur Verfügung zu stellen – Patriots könnte sie damit nicht kaufen, denn die Produktionsrate der Raketen ist mit monatlich nur 65 Stück aller Versionen sehr niedrig.

Der Mangel an Raketen

Auch wenn die zusätzliche deutsche Patriot-Batterie der Ukraine helfen könnte, einen kleinen Teil ihres Territoriums besser vor einfliegenden Raketen oder wahlweise einen Frontabschnitt vor russischen Luftangriffen zu schützen – für das große Land bleibt die Übergabe einer einzigen zusätzlichen Patriot-Batterie ein eher symbolischer Akt.

Vermutlich wird damit die Flugabwehr im Raum Kiew verstärkt, um die Hauptstadt vor weiteren Luftangriffen zu schützen.

Die Art und Weise, wie die Nato-Staaten den ukrainischen Streitkräften Flugabwehr zur Verfügung stellen, erscheint dem Autor so, als würde man einem Erfrierenden ein Badetuch geben, mit dem er nur einen kleinen Teil seines Körpers bedecken und schützen kann – aber er wird unweigerlich erfrieren.

Das Problem ist nicht nur der Mangel an Flugabwehrbatterien, also Startsystemen, Radaranlagen, Kommandoeinheiten, sondern der Mangel an Raketen. Die russische Produktion von 250 Raketen pro Monat kann bislang nicht aufgefangen werden, hier verliert der US-amerikanisch dominierte Westen vor allem die Produktionsschlacht.

Die Ukraine hat also die Wahl, entweder strategisch wichtige Ziele und Infrastruktur im Hinterland durch russische Schläge zu verlieren oder die Front fast vollständig von der Luftabwehr zu entblößen.

Beide Alternativen würden die ukrainische Verteidigungsfähigkeit substanziell schwächen.

Technische Weiterentwicklungen beim Angreifer

Insbesondere die von Flugzeugen abgeworfenen russischen Gleitbomben vom Typ FAB/KAB, über die an dieser Stelle bereits mehrfach ausführlich berichtet wurde, machen den ukrainischen Bodentruppen schwer zu schaffen. Russische Ingenieure entwickeln diese ständig weiter, so wurde jetzt von der Produktion eines neuen Modells mit einem Gesamtgewicht von drei Tonnen berichtet.

Nun sollen die UMPK-Gleitrüstsätze mit einem neuen Navigationsmodul ausgestattet worden sein, das acht statt vier Kometa-Satellitenantennen enthält und die Navigation gegen Mittel der elektronischen Kampfführung härtet. Die Gleitbomben werden dadurch zielgenauer und resistenter gegen Störversuche.

Diese technische Entwicklung soll mitverantwortlich dafür sein, dass die Bomben an der Front die ukrainischen Verteidigungsstellungen so schwer getroffen haben.

Die Gleitbomben sind ein zentrales Element der aktuellen russischen Angriffsstrategie: Die massiven Sprengsätze werden metergenau gegen ukrainische Verteidigungsbollwerke eingesetzt. Nachdem diese durch die schweren Explosionen zerstört wurden, rückt die russische Infanterie meist in kleineren Kolonnen von maximal zehn gepanzerten Fahrzeugen vor, um die zerbombten ukrainischen Stellungen zu stürmen.

Dieses Vorgehen scheint für die russischen Streitkräfte nicht nur territorial erfolgreich zu sein, sondern auch das Leben der eigenen Soldaten zu schonen. Auch das der Ukraine nahe stehende Portal Mediazona verzeichnet anhaltend geringe Verluste unter den Angehörigen der russischen Armee - und das trotz des scheinbar unaufhaltsamen russischen Vormarsches.

Die Unterstützung der Nato-Staaten

Die Luftüberlegenheit der russischen Streitkräfte in der Ukraine stellt ein massives Problem dar, das die ukrainische Gesamtverteidigung gefährdet. So zitiert die Fachzeitschrift The War Zone den Nato-Kommandeur Christopher Cavoli:

Mit Blick auf einen möglichen Zusammenbruch der ukrainischen Front, wenn nicht mehr westliche Waffen geliefert würden, "sprechen wir nicht von Monaten. Wir sprechen nicht über eine hypothetische Situation", warnte Cavoli.

The War Zone

Cavoli führt weiter aus, dass es "keine nennenswerten Verluste im Bereich der Luftstreitkräfte, insbesondere der Langstreckenflotte und der strategischen Luftflotte" gegeben habe.

Einiges spricht dafür, dass die russischen Luftstreitkräfte anscheinend weniger als zehn Prozent ihrer Flugzeuge verloren haben. Da die russische Rüstungsindustrie ihre Produktion zugleich hochgefahren hatte, konnten die Verluste wahrscheinlich kompensiert werden.

Die Nato hat in der Ukraine einen erheblichen Teil ihrer Vorräte an modernen Flugabwehrraketen erschöpft, ohne dass sich die Zahl der verfügbaren Einheiten der russischen Luftstreitkräfte verringert hätte.

Zudem sind die Nato-Staaten anscheinend nicht in der Lage, genügend Abwehrraketen zu produzieren, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, die verstärkten russischen Raketenangriffe auf Einrichtungen der kritischen Infrastruktur abzufangen.

Alles in allem bedeutet diese Situation wahrscheinlich den baldigen Verlust der Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte gegen die konzentrierten Angriffsbemühungen der russischen Armee.

Der iranische Vergeltungsschlag gegen Israel könnte die Lage für die Ukraine noch erheblich verschärfen. Auch hier kommen Patriot-Raketen zum Einsatz. Der massive iranische Beschuss hat aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer spürbaren Reduzierung des israelischen Arsenals an modernen Flugabwehrraketen geführt.

Bei begrenzter westlicher Produktion bedeutet dies eine Konkurrenzsituation zwischen dem Bedarf der ukrainischen Streitkräfte, der israelischen Armee und der Notwendigkeit der Nato-Armeen, ihre Arsenale wieder aufzufüllen.