Ukraine-Krieg: "Schon nach deutscher Einigung waren die Weichen auf Konfrontation gestellt"
Petra Erler und Günter Verheugen über deutsche Einheit und Ukraine-Krieg. Über Sicherheitsordnungen. Und über Moskaus Verantwortung. Ein Telepolis-Podcast.
Wer heute von Verständigung und Entspannung im Verhältnis zu Russland spricht, sieht sich schnell als Putin-Unterstützer oder bestenfalls als nützlicher Idiot hingestellt. Politiker, die einst auf ein gutes Verhältnis zu Russland setzten, gehen heute in Sack und Asche.
Petra Erler und Günther Verheugen haben eine andere Sicht auf die Dinge. Sie sagen, gescheitert sei eine Politik, die glaubt, auf Entspannung verzichten zu können und es notfalls auf einen Krieg ankommen zu lassen. Genau das werfen sie in ihrem Buch "Der lange Weg zum Krieg", das vor Kurzem bei Heyne erschienen ist, maßgeblichen Entscheidern im Westen vor und geben ihnen damit eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine.
Petra Erler hat am DDR-Institut für internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg promoviert, war Staatssekretärin in der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière, später im engsten Mitarbeiterkreis von EU-Kommissar Günther Verheugen. Jetzt leitet sie ein Beratungsunternehmen, schreibt außerdem Bücher und Artikel.
Günther Verheugen war vor seiner Zeit in Brüssel in verschiedenen Führungspositionen in der FDP bzw. SPD. Er war Staatsminister im Auswärtigen Amt, später Co-Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates. Auch er ist Autor und Publizist.
Dietmar Ringel hat im Telepolis-Podcast mit beiden gesprochen.
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▶ Was hat Sie angetrieben, dieses Buch zu schreiben?
Petra Erler: Ein wesentliches Motiv war, dass wir wieder in eine Diskussion kommen müssen in diesem Land, wie wir in Europa zusammenleben wollen. Mit Blick auf eine 30-jährige Eiszeit, einen permanenten kalten Krieg, der jederzeit in einen heißen umschlagen kann, oder doch mit einer Politik der Verständigung, die ihre erfolgreichen Wurzeln in der Vergangenheit hat.
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Günter Verheugen: Mein Hauptmotiv war, nicht hinzunehmen, dass in unserem Land eine Mauer des Schweigens errichtet wird. Ich habe es in meinem langen politischen Leben noch nicht erlebt, dass öffentliche Meinung so einseitig gesteuert wird, wie das im Fall des Ukrainekrieges geschieht. Hier wird eine Erzählung verbreitet, die einfach nicht stimmt.
Ich halte es für absolut notwendig, ein Stück Gegenöffentlichkeit herzustellen und unserer Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, einen anderen, objektiveren Blick auf das zu werfen, was geschehen ist. Denn kein Krieg fällt vom Himmel, kein Krieg ist voraussetzungslos. Nur bei diesem Krieg wird so getan, als hätte es keine Vorgeschichte gegeben.
▶ Stichwort Vorgeschichte. Sie schlagen einen weiten Bogen. Wo muss man ansetzen, um zu verstehen, wie es zu dieser Konfrontation kommen konnte?
Petra Erler: Wir haben uns entschieden, nicht 1917 anzufangen, aber schon mit dem Zweiten Weltkrieg und der daraus entstehenden Nachkriegsordnung. Denn die Wurzeln von allem liegen in der europäischen Teilung und ihrer Überwindung.
Die zwei Optionen mit Russland nach 1989/90
Wenn man sich den deutschen Einigungsprozess anguckt, stellt man fest, dass es damals zwei Optionen gab: Eine transatlantische Sicherheitsstruktur von Wladiwostok bis Vancouver. Das war der Geist dessen, was die Europäer und auch die Amerikaner 1990 noch unterschrieben.
Die zweite Option war, die Russen auszugrenzen und die Nato zu erweitern und damit eine westeuropäisch-transatlantisch dominierte Sicherheitsstruktur zu schaffen. 1994 war die Entscheidung klar.
Die Nato wollte bestimmen, wie Sicherheit sich in Europa definiert und umgesetzt wird. Russland wurde nach außen gedrängt, und alle Versuche, Russland wieder auf einer gleichberechtigten Grundlage ins Gespräch zu bringen, sind gescheitert.
Und wenn die Nato heute sagt, wir haben ein Bündnis, das offen für alle ist, mag das gut und schön sein. Für ein Land galt es nicht, und das war Russland.
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Günter Verheugen: Seit 1989, also seit die Möglichkeit der deutschen Einigung sichtbar wurde, stand nicht das deutsche oder europäische Interesse im Vordergrund, sondern eindeutig das amerikanische. Es sagt vieles, dass die erste Reaktion der Amerikaner nach Kohls Rede im Bundestag damals, wo er eine deutsche Konföderation anvisiert hatte, war: Unter keinen Umständen darf die Nato infrage gestellt werden. Was im Klartext heißt: Unter keinen Umständen darf die amerikanische Führungsrolle in Europa infrage gestellt werden.
Antworten in Washington suchen
▶ Es gab viele Chancen für eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und später mit Russland: Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Ost-West-Verträge, es gab Rüstungskontrollvereinbarungen, sogar reale Abrüstungsschritte. Warum gab es nicht das Momentum, dass daraus etwas Dauerhaftes wird?
Petra Erler: Die Antwort ist in Washington zu suchen. Als es 1990 die Option gab, eine gemeinsame Sicherheitsstruktur zu schaffen, war das noch die Politik des alten Präsidenten Bush Senior.
Aber schon in den Spätzügen seiner Präsidentschaft gab es Leute, die Russland am liebsten zerstören wollten, die den Zerfall der Sowjetunion gerne zum Ausgangspunkt genommen hätten, auch Russland zu erledigen. Dahinter versteckt sich jahrzehntelanger, ideologisch bedingter Russenhass. 1992 hat sich diese Politik noch nicht durchgesetzt, aber 1994 war es vollständig klar, dass die Amerikaner in Europa bleiben wollten und Russland intern als neuen Hauptgegner definiert hatten.
Nicht überall Freude über deutsche Einheit
Nicht alle haben die deutsche Einigung mit großer Freude betrachtet, manche hatten Angst vor uns. Was passiert mit diesem großen Land? Die Idee, die damals noch von Busch und Gorbatschow vertreten wurde, war: Man kann das auch gemeinsam gestalten. Die ist später vollständig verschwunden. Und man muss unserem Land schon den Vorwurf machen, dass es dabei willig mitgemacht hat.
Günter Verheugen: Ich war ja in den 90er-Jahren dabei, zwar in der Opposition, aber als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Und da konnte ich einigermaßen verfolgen, was passierte.
Mein Eindruck war, dass es im Westen, nicht überall, aber vor allem in weiten Teilen der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit, eine Siegermentalität gab.
Das hat Präsident Bush auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Er hat gesagt, wir haben gewonnen und die haben verloren – Ende der Fahnenstange. Schon kurz nach der deutschen Einigung gab es keine Bereitschaft mehr, kooperative Strukturen zu schaffen, sondern die Weichen waren auf Konfrontation gestellt.
Das muss man einfach wissen, wenn man darüber nachdenkt, wie wir in diese Lage gekommen sind, in der wir uns heute befinden. Mit einem schrecklichen Krieg in Europa, der das Potenzial hat, uns alle mit sich zu reißen.
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▶ Sie richten schwere Vorwürfe an den Westen. Hat Russland eine Mitverantwortung dafür, dass es so weit gekommen ist?
Petra Erler: Selbstverständlich hat Russland eine Mitverantwortung. Russland hat 2014 die Krim annektiert, und Russland hat 2022 zum kriegerischen Mittel gegriffen und damit einen Grundsatz verletzt, den es bis dahin im UNO-Sicherheitsrat energisch verteidigt hatte, nämlich das Prinzip des Gewaltverzichts gegenüber jedem anderen Staat.
Die Frage ist nur: Warum ist das propagandistisch in unserem Land plötzlich als Spezialverbrechen behandelt worden? Die Geschichte seit 1991 ist eine Geschichte von Regime-Changes und Kriegen, die allesamt vom Westen ausgingen. Warum wurde das Verhalten Russlands dann plötzlich als der Bruch einer angeblichen europäischen Sicherheitsordnung bezeichnet? Als Beispiel für eine imperiale russische Aggression? Dafür gibt es keine Belege.
Die Illusion im Umgang mit Russland
Hier zeigt sich, dass diejenigen, die schon 1991 davon träumten, Russland ein für alle Mal kleinzumachen, längst die geistige Oberhoheit gewonnen hatten.
Russland ist ein Land mit elf Zeitzonen. Es ist nicht nur groß, es ist auch unendlich reich. In der internationalen Politik geht es bei der Betrachtung der russischen eurasischen Landmasse immer auch um die Frage, wer die Welt beherrschen kann.
Günter Verheugen: Wenn man betrachtet, wann, wie und wo die Krise, in der wir uns heute befinden, wirklich heiß und explosiv wurde, dann kommen wir in die Jahre 2013 und 2014. Dann sind wir beim sogenannten Maidan, der von vielen jubelnd begrüßt wurde, aber in Wahrheit nichts anderes war als eine Regime-Change-Operation. Man kann auch sagen, ein von außen gelenkter Staatsstreich.
Und dieser Staatsstreich, dieser Putsch in der Ukraine, war der Ausgangspunkt eines Bürgerkrieges in diesem Land. Wir haben Krieg in der Ukraine, nicht erst seit 2022. Wir haben diesen Krieg seit Frühjahr 2014, seit der sogenannten Anti-Terror-Operation gegen die russischen Separatisten im Donbass. 2022 gab es eine Eskalation dieses Krieges, der bereits andauerte.
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▶ Von russischer Seite heißt es, diese Eskalation sei zwangsläufig gewesen, weil russische Sicherheitsinteressen massiv verletzt worden seien. Die Ukraine müsse entnazifiziert und demilitarisiert werden, um Russland zu schützen. Was sagen Sie dazu?
Petra Erler: Gehen wir noch mal ins Jahr 2008 zurück. Wir wissen dank Wikileaks, dass die Amerikaner - und damit wohl alle anderen auch – gewusst haben, dass die dickste aller roten Linien Russlands darin bestand, die Ukraine in die Nato einzuladen. Zumal die ukrainische Bevölkerung auch mehrheitlich dagegen war. Es war die Idee des damaligen ukrainischen Präsidenten Juschtschenko, der den Amerikanern damit einen großen Traum erfüllte.
Wir reißen die Ukraine aus dem russischen Orbit, können ganz nah mit unseren militärischen Strukturen an Russland heranrücken und werden auf diese Art und Weise Russland ins Herz treffen. Das war die Überlegung. Und wir wissen auch, dass der russische Präsident Putin damals ganz deutlich gesagt hat, er wolle sich keine Situation vorstellen, in der Russland gezwungen sein könnte, seine Waffen gegen die Ukraine zu richten.
Die Lage 2014 – und ihre Deutungen
Aus dem Jahr 2014 wiederum wissen wir, dass Russland den Separatismus im Donbass keineswegs zum Anlass genommen hat, diese Gebiete zu annektieren. Er hat das sogar ausdrücklich abgelehnt und war bereit, auf dem Weg des Minsker Abkommens eine friedliche Lösung mit dem Westen zu finden.
Das Minsk-II-Abkommen ist ja unter maßgeblicher Beteiligung von Deutschland und Frankreich zustande gekommen und auch vom UN-Sicherheitsrat gebilligt worden. Es hieß damals, das sei der Weg zur politischen Lösung des Konflikts in der Ukraine und zur Bewahrung ihrer Staatlichkeit. Die Krim wurde dabei übrigens nicht erwähnt.
Im Jahr 2022 erfuhren wir dann, dass der ukrainische Präsident Poroschenko betrogen hatte, denn er wollte dieses Abkommen nie umsetzen. Und wir erfuhren auch, dass Hollande als französischer Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin nur auf Zeit spielen wollten, weil sie von einem angeblich unvermeidlichen Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgingen.
Kein Interesse an Verständigung
Hinzu kommt, dass der ukrainische Nationalismus auf Krieg mit Russland setzte, anstatt in irgendeiner Art und Weise eine Verständigung zu suchen. Übrigens hat die EU beim Minsker Abkommen eine ganz unrühmliche Rolle gespielt.
Sie hat die Aufhebung ihrer Wirtschaftssanktionen gegen Russland an die Erfüllung des Minsker Abkommens gebunden, was wiederum auch vom Wohlverhalten der Ukraine abhängig war.
Es ging also nicht nur darum, was die Separatisten im Donbass machen, sondern auch darum, ob in der Ukraine die vereinbarte Verfassungsreform umgesetzt wird, dass die Kiewer Zentralregierung sich wieder um die Separatistengebiete kümmert– siehe Rentenzahlung, Gesundheitsleistungen oder den Umgang mit auf beiden Seiten begangenem Unrecht. All das ist nicht passiert, und der Westen hat es geschehen lassen.
Das Minsker Abkommen
▶ Die Minsker Abkommen waren ein diplomatischer Versuch, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu entschärfen. Auch nach Beginn des heißen Krieges im Frühjahr 2022 gab es Ansätze einer Verständigung. Die russische und die ukrainische Seite sollen sich bereits sehr nahe gewesen sein, heißt es, zum Beispiel bei der Frage einer militärischen Neutralität der Ukraine. Gerade gibt es ganz sanfte Versuche, die Diplomatie wieder ins Spiel zu bringen. Welche Chancen sehen Sie dafür?
Günter Verheugen: Im Augenblick ist nicht die Stunde der Diplomatie. Es ist ganz eindeutig, dass sich die Reihen des Westens immer fester schließen. Die jüngsten Entscheidungen lassen für mich nur den Schluss zu, dass die Eskalationsbereitschaft ungebrochen ist. Der jüngste Schritt, der Ukraine zu erlauben, mit vom Westen gelieferten Waffen das russische Staatsgebiet zu treffen, ist in meinen Augen der bisher gefährlichste Schritt in Richtung auf den Abgrund. Deshalb sieht es im Augenblick nicht so aus, als wollte der Westen der Diplomatie eine Chance geben.
Trotzdem muss jede auch noch so geringe Möglichkeit genutzt werden. Notwendig wäre es im Augenblick, eine einheitliche, klare europäische Position zu schaffen, die sagt: Wir wollen mit Russland wieder ins Gespräch kommen, wir müssen feststellen, ob es die Möglichkeit eines Kompromisses gibt.
Wie Sie gesagt haben, gab es ja bereits unmittelbar nach Beginn des Krieges Verhandlungen über seine Beendigung. Und ich will darauf hinweisen, dass sich damals auch unser Bundeskanzler sehr dezidiert dazu geäußert und immer wieder erklärt hat, wir brauchen eine friedliche, eine diplomatische Lösung. Das hörte alles auf, nachdem der amerikanische Präsident in Warschau praktisch erklärt hatte, wir befinden uns mit Russland in einem Wirtschaftskrieg.
Ich glaube, dass im Westen seit Jahrzehnten das russische Sicherheitsbedürfnis massiv unterschätzt wird. Der Westen hat bei Russland immer Aggressionsabsichten vermutet, umgekehrt natürlich auch. Ich glaube nicht, dass das berechtigt war. Was die sowjetische und später die russische Außenpolitik bestimmt hat, ist die historische Erfahrung dieses Landes. Und die besteht darin, dass es überfallen werden kann und dass man deshalb für seine Sicherheit sorgen muss.
▶ Welche Rolle könnte oder sollte Deutschland spielen, wenn es darum geht, die Diplomatie wieder ins Spiel zu bringen?
Petra Erler: Zunächst würde ich mir wünschen, dass die deutsche Politik wieder zurückkehrt zu einem Realitätsverständnis und nicht länger in einer Fantasiewelt lebt. Wer überzeugt ist, Russland habe es sich auf die Agenda gesetzt, die Nato zu überfallen, gibt eigenen Ängsten und eigenen Fantasien nach oder versucht, ein Programm der Kriegstüchtigkeit durchzuziehen.
Wichtig wäre es, wieder auf den Boden der Realität zurückzukehren und sich anzuschauen, wie die Lage heute ist. Wir haben damals einen frühen Friedensschluss mit verhindert, damit hat sich der Charakter des Krieges geändert. Russland hat zu Recht das Gefühl entwickelt, dass wir es ruinieren, zerschlagen, klein machen, in den Staub der Geschichte treten wollen. Das ist keine angemessene Politik.
Der sogenannte Rest der Welt, also die Mehrheit der Bevölkerung und der Staaten auf dieser Welt, erkennen das. Deswegen ist Russland nicht isoliert, und deswegen haben China, aber auch Südafrika und Brasilien Vorschläge für Verhandlungen vorgelegt.
Deswegen hat auch der russische Präsident in letzter Zeit wieder ganz deutlich gesagt, er sei bereit zu verhandeln. Und es gibt auch ein völkerrechtliches Gebot, Konflikte und Kriege auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Wir stehen auf der Seite der Verweigerer.
Es wäre gut, wenn die deutsche und europäische Politik sich mal angucken würde, was der Rest der Welt denkt und was das für die Sicherheit Europas bedeutet. Zu meinen, dass wir mit Hochrüstung Sicherheit schaffen, ist in Anbetracht der gesamten Geschichte der Menschheit, auch der letzten 70 Jahre, ein Trugschluss.
▶ Frau Erler hat gerade gesagt, Russland sei bereit zu verhandeln. Aber ist das wirklich so? Es gibt zwar entsprechende Bemerkungen des russischen Präsidenten. Er sagt aber auch, die entstandenen Realitäten müssten anerkannt werden. Und das heißt, die Gebiete, die Russland angegliedert wurden, bleiben russisch. Für die Ukraine ist das ja offensichtlich keine Option. Sehen Sie also wirklich Verhandlungsbereitschaft bei den Russen?
Günter Verheugen: Verhandlungen mit Vorbedingungen sind sinnlos. Wenn jemand sagt, wir wollen jetzt verhandeln, aber genau das und das muss dabei auf jeden Fall herauskommen, dann kann man das vergessen.
Man muss zu den guten alten Mitteln der vertraulichen Diplomatie greifen, Gesprächskanäle benutzen, die es ja offenbar immer noch gibt, und feststellen, ob man einen Rahmen herstellen kann. Wer in der Öffentlichkeit unverzichtbare Bedingungen stellt für diesen Prozess, der sabotiert ihn in Wirklichkeit.
Ich glaube schon, dass Russland ein Interesse an einer Verhandlungslösung hat. Es kann ja nicht langfristig im russischen Interesse liegen, mit dem Westen in einem Dauerkonflikt zu leben. Die Welt verändert sich ja nicht nur für uns, sie verändert sich auch für Russland. Und Russland ist genauso wie wir auf internationale Kooperation angewiesen. Also ich glaube schon, dass da ein Interesse besteht.
Petra Erler und ich plädieren ganz entschieden für eine Rückkehr zur Entspannungspolitik. Ich war 1975 bei der Schlussakte von Helsinki schon Mitglied der deutschen Delegation.
Ich habe diesen Prozess wirklich von Anfang an verfolgt. Wenn wir damals in der Lage waren, mit dem Breschnew-Regime eine vertragliche Vereinbarung zu treffen, die uns für viele Jahre von der unmittelbaren Sorge eines Atomkrieges befreit hat, dann frage ich mich, warum sollen wir nicht in der Lage sein, mit Putin eine langfristige Vereinbarung zu treffen, die darauf abzielt, unsere Kräfte zusammenzufassen und nicht gegeneinander ins Feld zu führen.
Petra Erler: Der Kern des Konfliktes ist ja nicht die Ukraine, sondern es geht darum, ob Russland in Europa eine gleichberechtigte Stimme hat, ob wir bereit sind, elementare russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
Und deswegen war das Verhandlungsergebnis vom Frühling 2022 auch so interessant – was bei möglichen diplomatischen Kontakten niemand vergessen sollte. Russland hätte sich aus dem Donbass zurückgezogen, es hätte über die Krim und ihre Zukunft Gespräche geführt.
Im Gegenzug dazu war festgelegt, wie viel Militär es in der Ukraine noch geben sollte, und dass die Ukraine neutral bleibt. Das war das, was Russland wollte. Das bestätigen auch alle ukrainischen Verhandlungsteilnehmer.
Und das war uns nicht gut genug. Wir wollten es ausgekämpft haben, und das verändert natürlich die Natur des Kampfes. Das bedeutet, wir haben die Strategie "Siegfrieden" und haben uns der ukrainischen Gesetzeslage angeschlossen, wonach mit Putin nicht verhandelt wird. Solange wir diese Gesetzeslage unterstützen, kann auch niemand im Westen mit Putin verhandeln.
Auf der anderen Seite möchte ich zu bedenken geben, dass wir vor einem Scherbenhaufen des Vertrauens sitzen. Putin und Russland waren ja im Dezember 2021 mit Verhandlungsvorschlägen gekommen, die die Nato ganz kühl abgebürstet hat. Sie mussten feststellen, dass wir beim Minsker Abkommen betrogen haben. Und heute, angesichts der vielen feindseligen politischen Äußerungen, kann der Westen aus russischer Sicht gar nicht als Freund oder als akzeptabler Verhandlungspartner erscheinen.
Wenn wir Verhandlungen wollen und nicht in den nächsten 30 Jahren vor Angst zittern und uns, unsere Kinder und Enkel einmauern, dann müssen wir uns in unserer Tonart mäßigen.
Aus der Geschichte gibt es ein Beispiel, wie auch hochideologisch verfeindete Länder zusammengearbeitet haben. Das war die Anti-Hitler-Koalition. Die hatte einen gemeinsamen Feind, Hitlerdeutschland. Stalin, Roosevelt und Churchill konnten zu diesem Zweck miteinander kooperieren. Wenn ich überlege, was die heutigen gemeinsamen Feinde der Menschheit sind, dann denke ich an die großen globalen Probleme.
Gast im Telepolis-Podcast waren Petra Erler und Günther Verheugen. Ihr Buch "Der lange Weg zum Krieg" ist im Heyne-Verlag München erschienen.