Ukraine-Krieg: Warum geht dem Pentagon eigentlich die Munition aus?
Ukrainische Soldaten haben kaum noch was zum Schießen. Wie kann das sein, wo doch USA und Nato-Staaten der Ukraine fast jeden Wunsch erfüllen? Über Lieferengpässe im militärisch-industriellen Komplex und was dahintersteckt.
Die Lage wirkt bizarr. So berichten westliche Journalisten seit Monaten, dass die Ukraine nicht genügend Munition habe. Militärs klagen dort immer wieder über das Fehlen von Geschossen.
Schon vor zehn Monaten warnte der Vize-Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Vadym Skibitsky, dass man den Artillerie-Krieg verliere, weil man nichts zum Schießen habe. Laut Skibitsky verbrauche die Ukraine 5.000 bis 6.000 Artilleriegeschosse pro Tag.
Wir haben fast unsere gesamte [Artillerie-]Munition verbraucht und verwenden jetzt Nato-Standardgranaten vom Kaliber 155.
Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Washington Post berichtete vor gut einem Monat von der Front, dass die Soldaten in der Ukraine über kaum noch Munition verfügten. Es mangele ihnen an Artilleriegeschossen.
Der ukrainische Oberstleutnant Kupol beschrieb die Lage gegenüber der Post als ernst. Es fehlten einfache Mörserbomben und Granaten für in den USA hergestellte MK-19-Granatwerfer.
Wie kann das sein? Die Ukraine wird doch seit über einem Jahr von der militärischen Supermacht USA und hochgerüsteten Nato-Staaten mit Waffen im Wert von Dutzenden Milliarden Dollar beliefert. Wie kann es dann an Munition fehlen?
Die erstaunliche Antwort darauf ist, dass vor allem die USA, aber auch andere Nato-Staaten, offensichtlich nicht fähig sind, die benötigte Munition bereitzustellen. Das sagt Mike Lofgren, der lange als Abgeordneten-Assistent für die Republikaner im US-Kongress tätig war und in Büchern seit einiger Zeit den politischen Kurs beider Parteien scharf kritisiert.
So würden sich in den USA die Lagervorräte schnell leeren. Denn sie seien nicht gut bestückt, und es gebe keinen Nachschub.
Seit Kriegsbeginn haben die USA 1,5 Millionen Artilleriegranaten (155-mm) an die Ukraine geliefert. Das ist eigentlich ein sehr einfaches Geschoss – eine Granate, die es schon seit dem Ersten Weltkrieg gibt.
Trotzdem sorgt man sich im US-Militär seit Monaten, dass die Munitionsvorräte zur Neige gehen. Denn die jährliche US-Produktion von 155-mm-Munition beträgt weniger als ein Zehntel der an die Ukraine gelieferten Menge.
Selbst bei einer Produktionssteigerung würde es fünf Jahre dauern, bis die Vorräte wieder aufgefüllt wären, da die Vorlaufzeit für den Aufbau neuer Produktionskapazitäten in einem Land mit einer zerstörten industriellen Basis – die Geschosse werden in einer hundert Jahre alten Fabrik hergestellt – zu lang sei.
Das Gleiche gilt für andere Munitionstypen. Für die Panzerabwehrrakete Javelin dauert es 5,5 bis acht Jahre zur Auffüllung der Bestände, bei der Lenkrakete Himars 2,5 bis drei Jahre und hinsichtlich der Flugabwehrrakete Stinger werden sogar 6,5 bis unglaubliche 18 Jahre benötigt. Lofgrens Fazit:
Trotz des vielen Gelds, das dem Pentagon zur Verfügung gestellt wird, ist das Verteidigungsministerium nicht in der Lage, einer dritten Partei Waffen für einen konventionellen Landkrieg mittlerer Größe und Intensität länger als ein Jahr zu liefern, ohne seine Munitionsvorräte zu erschöpfen.
Man bedenke: Die USA haben ein jährliches, ständig wachsendes Militärbudget von aktuell rund 850 Milliarden Dollar. Während aber Russland durchschnittlich pro Tag 20.000 Geschosse gegen die Ukraine abfeuere, könne die ukrainische Armee mit nur einem Drittel dieser Menge antworten. Das liege, so Lofgren, daran, dass die Lieferung vonseiten der USA rationiert werden müsse, da man nicht in der Lage sei, mehr Munition zu produzieren.
Lieferengpässe überall, mit System
Insgesamt erscheint das Pentagon in den Vereinigten Staaten, immer ineffektiver zu wirtschaften. So nimmt die Zahl der großen Militärgüter trotz wachsenden Pentagonbudgets stetig ab. Für immer weniger Kriegsschiffe und Kampfjets müssen also die US-Büger:innen immer mehr bezahlen.
Die Ineffizienz ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Teil eines größeren Problems, das insbesondere die US-Ökonomie seit Jahrzehnten aufzehrt. Es lautet auf den Namen Finanzialisierung. Diese eroberte Schritt für Schritt alle Bereiche der Gesellschaft. Und schließlich erreichte sie auch den heiligen Gral des militärisch-industriellen Komplexes.
Mit der Finanzialisierung kamen dann auch die neoliberalen Marktdoktrinen von Kapazitätsreduktion, Personalabbau, "schlanken Beständen" und Kosteneinsparungen, wo es nur geht. Sie sind die eigentlichen Treiber der heute überall grassierenden Lieferengpässe. Mike Lofgren bringt es derart auf den Punkt:
Es ist eine allgemein verbreitete Ansicht, dass Wall Street und Pentagon eine Art symbiotische Beziehung – wenn nicht sogar eine verschwörerische Verbindung – unterhalten, von der beide profitieren. Indem die Militärbürokratie die Moden der klassischen Ökonomie nachahmt – null Bestände, Just-in-Time-Lieferungen, Auslöschung kleiner Produzenten zum Abbau angeblicher Überkapazitäten, Behandlung von Arbeitskräften als Belastung und nicht als Wert – betreibt sie eine Art unilaterale Abrüstung, während die Aktien der Rüstungskonzerne in die Höhe schießen.
Sicherlich ist Abrüstung an sich wünschenswert und notwendig, hauptsächlich in den USA. Denn militärische Interventionen und Kriege sollten keine Antwort mehr sein auf Konflikte im 21. Jahrhundert. Auch der Ukraine-Krieg wird am Ende diplomatisch gelöst. Besser früher als später.
Doch Abrüstung im Geist des Marktradikalismus führt nicht zu einer Verkleinerung des militärisch-industriellen Komplexes, sondern macht ihn vielmehr zu einem ökonomischen Subsystem der neoliberalen Gesellschaft, in der auch Militärgüter als finanzielle Investmentvehikel funktionieren.
So ist das Pentagon zu einer wuchernden, hoch ineffizienten Steuergeld-Verschwendungsmaschine mutiert – abgesehen von den an sich unsinnigen und astronomischen Summen fürs US-Militär, die den amerikanischen Wohlfahrtstaat und die öffentliche Infrastruktur aushöhlen, weil dafür dann kein Geld mehr vorhanden ist.
Jenseits des Pentagon, einem eher späten Opfer, hat die neoliberale Logik längst seine Desaster-Spuren überall in den USA hinterlassen. Sie zeigen sich in kaputten und dysfunktionalen Infrastruktur wie dem öffentlichen Verkehr, der Stromversorgung, Krankenhäusern und Schulen.
Von den ständigen Zugentgleisungen mit zum Teil verheerenden Folgen, von denen ich an anderer Stelle berichtet habe, bis zu den fehlenden Krankenhausbetten, die zu Gesundheitskatastrophen in der Covid-Pandemie führten, überall sind die künstlich erzeugten Lieferengpässe zu spüren.
Sie wurden durch die Pandemie-Maßnahmen und die Russland-Sanktionen, die eine fossile Energiekrise erzeugten, verstärkt, aber die Wurzeln der stotternden Versorgungslagen in Überflussgesellschaften wie den USA liegen tiefer. Sie reichen in eine neoliberale Politik, die die materielle Befriedigung elementarer Bedürfnisse zum nachrangigen Anhängsel transformiert hat.
Die Munitions-Lieferschwierigkeiten des Pentagon sind also kein Einzel- oder Zufall, sondern haben System und verweisen auf ein System. So wird Unterversorgung und partieller Versorgungskollaps zum neuen gesellschaftlichen Normalen. Lofgren sieht darin die Ideologie eines kapitalistischen Realismus am Werk. Er habe sich …
auf so unterschiedliche Formen menschlicher Aktivitäten gestürzt wie den Betrieb der Eisenbahn, die Lagerung von Speiseöl im Regal von Safeway [dem größten Einzelhändler der USA], die Versorgung der ukrainischen Front oder die Rettung von Menschenleben in einer Notaufnahme. Ist es da verwunderlich, dass Themen wie der Klimawandel so schlecht behandelt werden?