Ukraine-Krieg: Wird Mariupol eine russische Stadt?

Eine der Hauptstraßen Mariupols im März 2023. Seither hat sich einiges getan. Doch wie vorher wird die Stadt wohl nie wieder. Foto: Innenministerium der Ukraine / CC-BY-4.0

Die weitgehend zerstörte Hafenstadt wird über verschlungene Kanäle wieder aufgebaut – aber auch von Russen neu besiedelt. Was das mit der einstigen Kulturhauptstadt macht.

Die ukrainische Küstenstadt Mariupol im Donbass ist in den internationalen Schlagzeilen seit ihrer Eroberung nur noch selten präsent. Das änderte sich wieder im letzten Monat. Zuerst entstand ein Glaubenskrieg zwischen russischer und westlicher Presse, ob denn nun die Stadt noch immer eine Trümmerwüste oder in einem von Russland organisierten Wiederaufbau sei.

In den letzten Tagen gab es auch erstmals deutsche Presseberichte über russische Neusiedler, die sich in günstige Immobilien vor Ort einkaufen, um ihren Traum vom "Leben am Meer" in gemäßigten Breiten zu realisieren.

Zurück gehen die meisten dieser Meldungen auf einen Artikel der britischen BBC. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland spricht in diesem Zusammenhang von einer "Russifizierung und Vernichtung ukrainischer Identität", die aktuell in der Hafenstadt stattfinde. Zur speziellen Situation und Stimmung in der Stadt vor der Eroberung äußern sich deutsche Berichte meist nicht.

Noch 80.000 Einwohner übrig

Nach den Daten der BBC, die auch in anderen Quellen zu finden sind, wurden bei den Kämpfen um Mariupol 90 Prozent der Stadt zerstört. Zehn Prozent seien inzwischen von den Russen wiederaufgebaut, sodass insgesamt 20 Prozent des Wohnraums der vor dem Krieg 430.000 Einwohner zählenden Stadt wieder genutzt werden kann. Davon sind - ohne die Neubürger - noch 80.000 übrig. Der Rest hat Mariupol, das erst 2021 den Titel "Kulturhauptstadt der Ukraine" gewonnen hatte, im Zuge der Kämpfe im Jahr darauf verlassen.

Allerdings nicht nur in Richtung Westen und Regierungsgebiet, wie häufig suggeriert wird. Viele verließen die Trümmerwüste ihrer Heimat auch in Richtung Donezk oder Russland, etwa die durch den Angriff auf eine Geburtsklinik bekannt gewordene örtliche Influencerin Marianna Wischemirskaja. Nicht aus irgendwelchen Überzeugungen - nach der russischen Eroberung blieb kein anderer Fluchtweg mehr übrig. Evakuierungen der ukrainischen Regierung seien teilweise auch gescheitert und abgesagt worden, meint Wischemirskaja gegenüber der Münchner Abendzeitung.

Nach dem Ende der Kämpfe wurde auf Veranlassung des Kreml im Frühsommer 2022 eine Partnerschaft von Mariupol mit der Newa-Metropole Sankt Petersburg geschlossen. Auch dort leben Flüchtlinge aus der Stadt, wie die oppositionelle Petersburger Onlinezeitung Bumaga bestätigt.

Die russische Partnerstadt soll den Wiederaufbau finanzieren und organisieren. Welche Gebäude wann repariert oder wiederaufgebaut werden, wird laut Bumaga geheim gehalten. Ein Grund, warum der Glaubenskrieg zwischen den Anhängern von Kreml und Kiew um die Fortschritte beim Wiederaufbau toben kann und so schnell wohl kein Ende findet.

Die Finanzierung des Wiederaufbaus ist dabei sehr undurchsichtig. Gegründet wurde eine Stiftung, die keinerlei Öffentlichkeitsarbeit betreibt, nicht einmal eine Webseite hat, aber laut Bumaga öffentliche russische Gelder erhält.

Damit werde umgangen, dass die kommunalen Petersburger Mittel nicht direkt für Infrastrukturmaßnahmen ganz woanders verwendet werden dürfen. Und man kann behaupten, dass Nichtregierungseinrichtungen den Wiederaufbau finanzieren, obwohl doch russische Steuergelder dafür verwendet werden, das wiederaufzurichten, was die eigenen Invasionstruppen mit zerstört haben.

Wer offen kollaboriert, macht sich unbeliebt

Vor Ort in der Stadt gibt es eine mit den Russen kollaborierende Verwaltung und neue, prorussische Presselandschaft. Mariupol war schon im Jahr 2014 ein Zentrum des Antimaidan. Gegen den Euromaiden-Umsturz in Kiew gingen hier viele Leute auf die Straße, das ukrainische Militär rückte damals unter feindseligen Umständen in die Stadt ein. Die Stadt war, sehr weit im Osten der Ukraine gelegen, immer weit mehrheitlich russischsprachig.

Als Russland sein Nachbarland überfiel, verloren die meisten Mariupoler jedoch ihre Sympathien für das Nachbarland, das ihre Heimat zerstörte und verließen die Stadt. Einige der da gebliebenen arrangierten sich jedoch mit den neuen Herren. Ein prominentes Beispiel ist die 19-jährige TV-Moderatorin Xenia Misjurewitsch, die vor der russischen Eroberung noch für das ukrainischsprache und regierungstreue Mariupol TV gearbeitet hatte, als jüngstes Gesicht des Senders.

Der Sender hörte nach der russischen Eroberung im März 2022 auf zu existieren – und im August des gleichen Jahres tauchte auf Russisch Mariupol 24 auf, mit komplett umgekehrten Programm wie der Vorgänger und positiven Berichten über ein Wiederaufblühen Mariupol unter russischer Führung - aber exakt der gleichen Moderatorin.

Diese Kehrtwende nahmen der jungen Frau viele Mariupoler übel. Auf ihrem Telegram-Kanal berichtet sie über Drohungen und sogar Todeswünsche, die sie von Bekannten und früheren Mitschülern erhielt. Diese Episode spricht eine deutliche Sprache darüber, was die wirklichen Einheimischen von der russischen Wende ihrer Stadt halten, trotz zuvor mehrheitlicher Anti-Maidan-Haltung.

Auch russische Kriegsgegner engagieren sich vor Ort

Während die russischen Behörden die in der Tat wenigen verbliebenen noch proukrainisch eingestellten Bewohner drangsalieren, sind andere Russen in der Stadt auch karitativ tätig. Hierbei handelt es sich um eine bunte Mischung von orthodoxen und regierungsnahen Gruppen, die auch die Verbundenheit zur inzwischen von Russland annektierten Stadt stärken wollen bis hin zu russischen Kriegsgegnern, die ihre private Form der Wiedergutmachung betreiben.

Sie berichten recht offen von der humanitären Katastrophe, die in der Stadt weiter besteht. Eine Freiwillige erzählt Bumaga, dass die Stadt noch immer entvölkert wirke, obwohl viele Bauarbeiter vor Ort seien. Babynahrung sei kaum zu bekommen, die meisten verbliebenen Einheimischen seien alt oder krank.

Aufgrund ihrer Antikriegshaltung sei sie vor Ort jedoch bisher "weder Druck noch Drohungen" ausgesetzt gewesen. Die russischen Behörden hätten ihre Arbeit jedoch durch eine Kontensperre der freiwilligen Helfer sabotiert. Über diese Sperrungen berichtet auch die Petersburger Stadtzeitung Fontanka. Örtliche Offizielle hätten deswegen jetzt eine Beschwerde in Moskau eingelegt.

Eine Petersburger Ärztin, die noch zum Ende der Kämpfe freiwillig nach Mariupol ging, erzählt der Stadtzeitung Fontanka von gleichzeitiger Dankbarkeit älterer Leute, denen sie helfen konnte, aber auch von "Fällen von Übergriffen und verschiedenen Ausschreitungen" gegenüber den russischen Helfern, was ebenfalls einiges über die versteckte Stimmung in der Stadt verrät.

Kein Weg zurück zur Vorkriegsstadt

Der Handel mit Immobilien in der Stadt an zuziehende Russen ist kein Gerücht, sondern findet seinen Niederschlag in der Petersburger Presse. Der Chef der separatistischen "Volksrepublik Donezk" (DVR) erteilt etwa in Fontanka Informationen für Interessierte zur Abwicklung und rechtlichen Begleitumstände einen Erwerbs. Legal ist dieser in jedem Fall nach russischem Recht durch die Annexion der DVR durch Russland - nach ukrainischem Recht dürfte das anders aussehen.

Je länger die Herrschaft der russischen Besatzer andauert, umso stärker wird in der Tat die Russifizierung von Mariupol werden. Wer dort noch von der angestammten Bevölkerung lebt, arrangiert sich entweder mit den neuen Herren oder verlässt die Stadt. Aus dem Mutterland zuziehende Russen, wobei es sich kaum um Gegner des Überfalls auf die Ukraine handeln dürfte, werden zusätzlich die Stimmung in Mariupol verschieben.

Ob die Ukraine im Zuge ihrer Offensiven je die Stadt wiedererobern kann, ist Spekulation. Sollte das geschehen, würden viele ihrer ehemaligen Bürger sie bei einer noch länger andauernden Besatzung nach einer Rückkehr kaum wieder erkennen. Denn die Mehrzahl der nun stehenden Gebäude stammt ab sofort aus der russischen Zeit und ihre Zahl wird weiter zunehmen.

In der Stadt dauerhaft verbliebene Bürger müssten sich dann auf umfassende Prüfungen der Kiewer Behörden einstellen, ob sie sich mit dem "Feind" zu tief eingelassen haben, um zu überleben. Offene Kollaborateure müssten in diesem Fall mit den Russen flüchten, um nun nicht in der Ukraine als "Verräter" inhaftiert zu werden.

Doch es kann auch sein, dass die russische Zeit von Mariupol so schnell nicht endet, ein Durchbruch der Ukrainer in die Region ist nicht in Sicht. Sicher ist nur eine Sache: Dass diese Stadt nie mehr das sein wird, was sie bis zur russischen Ukraine-Invasion war.