Ukraine: Krieg im Namen des Antikolonialismus – Siegfrieden ohne Verhandlungen?

Knapp acht Jahre vor der russischen Invasion: Schwedische Freiwillige 2014 im ukrainischen Asow-Bataillon. Foto: Carl Ridderstråle / CC-BY-SA-4.0

Kolonialistisch ist nur die Konkurrenz. Eigene Großmachtpolitik dient der guten Sache. Wie diese alte westliche Wahrnehmung neu verpackt wird.

Wenn gefordert wird, dass die EU ihre koloniale Mentalität überdenken soll, hört sich das zunächst sehr postmodern und irgendwie links an. Heute wollen viele nicht mehr vom Kapitalismus reden und dafür umso mehr vom Kolonialismus, natürlich nicht vom eigenen, sondern von dem der Mächte, die als Konkurrenten ausgemacht werden. Das beste Beispiel ist der Aufsatz "Europa und die koloniale Mentalität" von Veronica Anghel, der kürzlich in der taz nachgedruckt wurde.

Die Autorin lehrt ausweislich ihrer Biographie an der John Hopkins Universität in den USA, forscht über die Herausforderungen des "democratic state building" und ist ein Beispiel dafür, wie Interessen des eigenen imperialistischen Blocks mit modernen Begriffen wie Antikolonialismus und "Kampf gegen Einflusssphären" gut bemäntelt werden können. In der jungen Welt spricht der Autor Norbert Wohlfahrt von "Denkfabriken als patriotische Instanz westlicher Kriegführungsstrategien".

Das wäre für Veronica Anghel natürlich eine "Fehlinformationen". So ist in der taz ein eigenes Kapitel überschrieben, das sich der Frage widmet, warum viele Länder des globalen Südens nicht auf Seiten der Ukraine stehen.

Dies ist jedoch nicht nur das Ergebnis eines historischen Misstrauens gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Es ist auch auf europäische und amerikanische Fehlinformationen und proimperialistische Apologetik zurückzuführen.

Das Narrativ, die EU und die Nato hätten sich zu weit in die russische "Einflusssphäre" ausgedehnt, wurde von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Entscheidungsträgern im Westen verbreitet, die an der kolonialen Weltsicht festhalten, wonach die Rechte und nationalen Interessen der "Großmächte" über denen der "kleinen Staaten" stehen.


Veronica Anghel

Die Autorin hat auch keine Zweifel, wie die EU dem entgegenwirken soll:

Um dem Einfluss solcher Narrative entgegenzuwirken, sollte Europa umfassende wirtschaftliche und diplomatische Ressourcen in die Information und Einbeziehung der führenden Politiker:innen und der Öffentlichkeit des Globalen Südens in seine Entscheidungsfindung investieren. Auf diese Weise würde Europa zeigen, dass es die Handlungsfähigkeit von Staaten, die es zuvor als subalterne "kleine Nation" behandelt hatte, nicht länger ignoriert.


Veronica Anghel

Das ist dann nicht etwa eine besondere Form von Neokolonialsimus, sondern gute Regierungsführung, weil ja die eigene, also die gute Seite dafür verantwortlich ist. Wenn Russland oder andere Konkurrenten ähnliche Methoden anwenden, ist das natürlich altes kolonialistisches Denken.

Besonders gut kommt die Doppelmoral zum Ausdruck, wenn es in dem Aufsatz weiter heißt:

Indem Europa den Kampf der Ukraine um Souveränität und Unabhängigkeit nicht länger ignoriert, hat es seine Bereitschaft gezeigt, das Prinzip der "Einflusssphären" aufzugeben, das es dazu gebracht hatte, vor den "Sicherheitsbedenken" Russlands zu kapitulieren.


Veronica Anghel

Die Ukraine ist demnach kein Land mehr, deren Bewohner geteilt sind in Pro-EU und Pro Russland. Der Konsens, dass es deshalb möglichst neutral bleiben sollte, wurde schon 2014 mit dem Machtantritt der nationalistischen Bewegung aufgegeben. Hier wird der Grundsatz noch einmal in seltener Deutlichkeit zur Sprache gebracht: Kolonialistisch ist, was unsere Gegner machen.

Für einen ukrainischen Siegfrieden ohne Verhandlungen

Anghel macht auch keinen Hehl daraus, was das Kriegsziel der EU zu sein hat, auch wenn diese offiziell keine Kriegspartei ist – Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern solle hier klar sein, dass sich die Ukraine auf einen militärischen Sieg vorbereite und "die Ukrainer:innen" alles tun würden, was sie für richtig hielten, "solange sie können, nach bestem militärischen und politischen Vermögen". Dass die homogene Masse, von der sie da spricht, so nicht ganz existiert, zeigt die Flucht von hunderttausenden Männern im wehrpflichtigen Alter. Dennoch schreibt sie der EU ins Stammbuch:

Dies bedeutet eine entschlossene Ablehnung jeglicher Verhandlungen. Jede Sichtweise, die die Forderung der Ukraine nicht als gerecht anerkennt und nicht versteht, welche Schuld der Westen gegenüber den Nationen auf sich geladen hat, die er seit Langem als klein und entbehrlich ansieht, bleibt der kolonialen Agenda verhaftet.


Veronika Anghel

Hier wird die Position, der am meisten rechten und nationalistischen Kräfte der Ukraine, zu der auch Gruppen wie Asow und der Rechte Sektor gehören, vertreten und das als verbindliche Linie für die EU empfohlen.

Es ist kein Zufall, dass solche Positionen in einer Zeit veröffentlicht werden, in der auch in manchen Staaten der EU und im Vorfeld des nächsten Präsidentenwahlkampfs auch in den USA Zweifel an der bedingungslosen militärischen Unterstützung der Ukraine wachsen. Hier wird eine Position der EU empfohlen, die dann auch gegen eine nicht mehr so pro-ukrainische USA ins Feld geführt werden kann.

Neu aufbereitete deutsche Ideologie

Schließllich handelt es sich um eine modernisierte Ideologie des deutschen Imperialismus, der bereits vor dem ersten Weltkrieg mit pseudo-antikolonialistischer Rhetorik ins Feld gezogen ist. Der richtete sich damals schon gegen Russland, mehr noch gegen Frankreich und Großbritannien. Um in den arabischen Ländern den Furore gegen die Kolonialmacht Großbritannien zu schüren, wurden sogar deutsche Kolonialbeamte in die Länder geschickt, um den Islam im deutschen Interesse zu nutzen. Für moslemische Kriegsgefangene wurde sogar in Brandenburg eine Moschee gebaut.

Auch da Naziregime schürte diesen Pseudo-Antikolonialismus in Indien aber auch in den arabischen Ländern gegen Großbritannien. Hier spielte auch der Kampf gegen die Juden eine wichtige Rolle. Auch gegen die Sowjetunion zogen die Nazi-Ideologen mit einer pseudo-antikolonialen Rhetorik zu Felde. Daher ist es nicht neu, wenn jetzt mit einer solchen Rhetorik erneut Kriege befeuert werden.

Bei den ukrainischen Nationalisten kam sie schon damals gut an und ihre ersten Opfer waren neben Russen, Polen und die Juden, die als angebliche Handlanger der Sowjetunion ausgemacht und liquidiert wurden. Von diesen trüben ideologischen Quellen schweigt natürlich Anghel ebenso wie andere, die vielleicht nicht so prononciert ähnliche Thesen vertreten. Das begann schon nach der Niederlage des deutschen Faschismus, als die ehemaligen Nazi-Ideologen ihren Kampf gegen die Sowjetunion als Verteidigung des christlichen Abendlandes ausgaben.

Auch damals ging es schon gegen Russland. Aber erst nach dem Ende der Sowjetunion, der auch mit einer Renaissance des russischen Nationalismus verbunden war, konnten die ukrainischen Nationalisten im Wartestand Morgenluft wittern. Dass sie mit ihren Zielen so schnell vorankamen, zeigt den enormen Rechtsruck in Europa sowie die Renationalisierung der Politik. Der Text von Anghel ist da nur ein besonders prägnantes Beispiel.

Sie macht auch kein Hehl darauf, dass sie nicht nur an die Ukraine denkt, wenn sie schreibt: "Die jahrelange (unzureichende) Hilfe für die Republik Moldau, die Ukraine und die westlichen Balkanländer hat gezeigt, dass finanzielle Unterstützung kein Katalysator für Veränderungen ist."

Hier zeichnen schon neue Kampffelder für eine prodeutsche Ideologie ab, in Gegenden wo auch schon bis 1945 prodeutsche Hilfswillige zu allen Verbrechen bereit waren.

Wie auch in der Kultur die Bevölkerung für den Krieg vorbereitet wird

Dass eine solch militaristischer Text in der taz ohne wahrnehmbaren Protest abgedruckt wird, zeigt auch schon, wie stark militaristische und nationalistische Positionen in allen Teilen der Gesellschaft sich normalisiert haben. Das drückt sich auch in der Kulturindustrie aus. So kam kürzlich der Film "The Inspection" in die deutschen Kinos. Er zeigt, wie in den USA ein armer schwarzer Mann in die Armee eintritt, weil er überzeugt ist, dass er dort mehr Überlebenschancen hat als auf der Straße. Er bekommt die Schikanen, den Drill und die Misshandlungen am eigenen Leib zu spüren und wird schließlich Teil der Armee.

Es ist ein Film, der zeigt, wie arme Menschen aus den Unterklassen so zugerichtet werden, dass sie im Sinne des Staates funktionieren. Aber selbst in der linken Wochenzeitung Jungle World schreibt der Rezensent Tobias Obermeier, dass es keineswegs darum gehe, das Militär insgesamt zu verurteilen. Schließlich habe sich der Held des Films trotz allen Terror behauptet.

So beschreibt Obermaier über die Geschichte der Hauptfigur: "Die handelt von Ausgrenzung, Drill und Schikane in der Grundausbildung der Ledernacken, aber auch davon, wie er sich als homosexueller Mann in der heroischen Gemeinschaft der Eliteeinheit zu behaupten lernt." Da wird der Konditionierung unter die Interessen von Staat und Kapital Verständnis entgegengebracht. Das ist nur konsequent. Wer Kriege im Namen des Antikolonialismus befürwortet, braucht dazu auch Soldaten. Und Filme wie "The Inspection" zeigt, wie sie dazu gemacht werden.