Ukraine-Krieg und der Einsatz von Atomwaffen: Wenn beide Seiten mit dem Feuer spielen
Die Eskalationsspirale und das gefährliche Pokerspiel der Atommächte. Interview mit dem Oberst a. D. Wolfgang Richter: Über die Lage im Konflikt und wovor Europa gewarnt werden muss.
Wolfgang Richter ist ein renommierter Sicherheitsexperte mit enormer Erfahrung. Im Gespräch mit Telepolis analysiert er die jüngsten Entwicklungen im Ukraine-Krieg, darunter die strategische Bedeutung des Personalmangels in der Ukraine, die Eskalation durch westliche und russische Waffen sowie die neuen nuklearen Drohgebärden.
Besonders brisant: die geopolitischen Risiken für Europa und die Frage, ob ein begrenzter Nuklearkrieg für die USA akzeptabel wäre. Es folgt eine nüchterne, strategische Perspektive auf einen Konflikt, der sich weiter verschärft und die Sicherheit Europas massiv bedroht.
▶ Seitdem US-Präsident Joe Biden überraschenderweise am 17. November der Ukraine erlaubt hat, Raketen gegen Ziele in Russland einzusetzen, überschlagen sich die Ereignisse im Ukraine-Krieg. Wie schätzen Sie die Entwicklung der letzten Wochen ein?
Wolfgang Richter: Die Lage in der Ukraine wird für Kiew militärisch prekär. Die Russen sind seit Wochen im Vormarsch. Sehr langsam, mit hohen Verlusten, aber stetig, während die ukrainische Front bröckelt. Trotz der hohen Verluste können die Russen ihre militärische Stärke nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar noch erhöhen, während sich bei den Ukrainern der Personalmangel immer nachteiliger auswirkt.
Deswegen ist auch die Diskussion nur um Waffensysteme fehlgeleitet. Denn was nützt das, wenn man nicht mehr genügend Personal hat, um sie einzusetzen? Ganz abgesehen davon, dass es auch bei den Waffenlieferungen Probleme gibt. Darauf können wir vielleicht noch zu sprechen kommen.
Aber was wir jetzt sehen, ist, dass die Russen in den letzten Wochen in einer Geschwindigkeit Geländegewinne gemacht haben, die nur vergleichbar ist mit der zu Beginn des Krieges.
Die Kursk-Offensive der ukrainischen Armee
Parallel dazu hat die Ukraine versucht, im Oblast Kursk einen Gegenangriff auf russisches Gebiet zu führen, um damit vier Dinge zu gewährleisten:
Zum einen wollte Kiew operative Reserven der Russen aus dem Donbass ablenken, um die ukrainische Donbass-Front zu entlasten. Das hat nicht geklappt. Die Russen haben nur sehr wenige Truppen nach Kursk abgezogen, aber nicht aus dem Donbass, sondern eher von der Südfront. Im Übrigen haben sie in Kursk nationale Reserven eingesetzt. Mittlerweile sollen auch 10.000 Nordkoreaner unter den 50.000 Mann sein, die dort für die Gegenoffensive versammelt wurden.
Zweitens wollte Kiew dem Westen beweisen, dass es noch zur Gegenoffensive fähig ist, dass Waffenlieferungen also nicht umsonst sind, sondern dass man damit militärische Erfolge erzielen kann. So sollte der Westen ermutigt werden, weitere Waffen zu liefern.
Drittens scheint Kiew zu hoffen, mit der Kursk-Offensive ein territoriales Faustpfand in die Hand zu bekommen, um bei künftigen Verhandlungen einen Austausch mit besetzten ukrainischen Gebieten zu erzwingen.
Ob das gelingt, ist allerdings fraglich. Denn die russische Gegenoffensive bei Kursk scheint Fahrt aufzunehmen. Es steht daher in Zweifel, ob die Faustpfand-Idee bis zum Januar, Februar des nächsten Jahres durchgehalten werden kann.
Letztlich ging es auch darum, durch überraschende Erfolge den eigenen Kampfgeist zu stärken und der Truppe Mut zu machen. Denn die Rekrutierung hat bisher nicht den erwarteten Erfolg gebracht. Sie ist zu spät eingeleitet worden.
Anders als der frühere Generalstabschef Saluschnyj das wollte, hat man ja erst lange im Parlament diskutiert, welche Ausnahmen man machen will und bis zu welcher Schwelle man das Einberufungsalter senken will. So ist das Gesetz erst zu Pfingsten in Kraft getreten.
Bisher sehen wir noch keine großen Entlastungen und wenn neue Bataillone an die Front kommen, gibt es sogar eine hohe Desertionsrate. Die Rekrutierung bleibt also ein ganz schwieriges Kapitel in der Ukraine und deswegen neigt sich die Waagschale, was das Personal betrifft, immer mehr zugunsten der Russen.
Die Eskalationsschraube wird weitergedreht
Gleichzeitig setzt Russland Luftangriffe auf die Energieinfrastruktur, Rüstungsbetriebe und Flugplätze fort. Sie haben in den letzten Tagen noch zugenommen. Und vor diesem Hintergrund wird jetzt wieder an der Eskalationsschraube gedreht.
Zunächst haben die USA und Großbritannien auf die Gegenoffensive der Russen in Kursk und die Beteiligung nordkoreanischer Truppen reagiert und die Einschränkungen für Angriffe mit US-amerikanischen ATACMS Kurzstreckenraketen und britischen Storm Shadow Marschflugkörper gegen Ziele in Russland aufgehoben.
Ihre Reichweite beträgt 250 bis 300 Kilometer. Russland ist der Auffassung, der Westen setze eigene Waffensysteme mit ukrainischem Personal gegen russisches Territorium ein. Putin hat darauf mit dem Angriff einer neuen experimentellen Mittelstreckenwaffe, Oreschnik, gegen Rüstungsbetriebe in Dnipro reagiert.
Oreschnik: Der Einsatz einer landgestützten Mittelstreckenwaffe
Bei diesem erstmaligen Einsatz einer landgestützten Mittelstreckenwaffe handelt es sich aber nicht um die, die man nach der Kündigung des INF-Vertrags durch den damaligen Präsidenten Trump im Jahr 2019 erwartet hätte.
Denn damals hatte er den Russen vorgeworfen, den Vertrag mit einem ganz anderen System zu verletzen, nämlich mit der Iskander-Variante 9M729, die angeblich eine Reichweite von über 2.000 Kilometer hat.
Sie ist aber bisher im Ukraine-Krieg gar nicht in Erscheinung getreten und ist auch nicht die Mittelstreckenwaffe, die Russland jetzt eingesetzt hat, nämlich die Oreschnik. Sie ist eine reichweitenverkürzte Variante der Interkontinentalrakete RS-26 Rubezh. Von dieser Experimentalwaffe gibt es laut US-Angaben aber bisher nur eine Handvoll. Es war also ein Test.
Stationierungswettlauf bei landgestützten Mittelstreckenraketen
Das bedeutet aber auch, dass wir jetzt in einen Stationierungswettlauf bei landgestützten Mittelstreckenraketen eintreten. Denn Putin hat den Oreschnik-Angriff zum einen mit der Freigabe westlicher Waffensysteme für Angriffe auf Russland begründet.
Zum anderen hat er aber auch auf die deutsch-amerikanische Erklärung vom 10. Juli dieses Jahres hingewiesen, ab 2026 Langstreckensysteme in Deutschland zu stationieren, die den ganzen europäischen Teil Russlands abdecken können.
All das sind eindeutig eskalatorische Schritte. Offensichtlich gibt es jetzt die Bereitschaft, mehr Risiken in Kauf zu nehmen, sowohl auf der westlichen als auch auf der russischen Seite. Ein anderes Erklärungsmuster ist, dass Präsident Biden in der Sorge um eine Kursänderung des künftigen Präsidenten Trump versucht, in seinen letzten Amtstagen noch alles zu tun, was möglich ist, um die Ukraine zu unterstützen.
Er hat noch einmal ein großes Milliardenpaket geschnürt, das bis zum 20. Januar 2025 ausgegeben werden soll. Und er hat eben auch die Freigabe von US-Systemen für Angriffe in Russland angeordnet, weil er Sorge hat, dass unter Präsident Trump die Ukrainehilfe vielleicht ganz eingestellt oder doch erheblich reduziert wird.
Verhandlungsposition war im März 2022 für die Ukraine weitaus besser
Die Folge könnte dann für Kiew möglicherweise ein aufgezwungener Friede sein, also eine Art "Diktatfrieden" aus der Sicht der Biden-Administration.
Sie ist über den angekündigten "Trump-Deal" besorgt. Noch immer gilt das Credo, man wolle die Verhandlungsposition der Ukraine stärken. Das sehe ich allerdings kritisch. Denn die Verhandlungsposition war im März 2022 weitaus besser, als sie heute ist.
Und dass man sie militärisch noch erheblich verändern kann, glaube ich nicht. Was man allerdings tun kann, ist, die ukrainische Front so gut wie es geht zu stabilisieren, damit sie nicht ganz aufbricht.
Wie klug sind die Ankündigungen Macrons zu Nato-Soldaten in der Ukraine?
▶ Der französische Präsident Emmanuel Macron spielt wieder explizit mit dem Gedanken der Entsendung von Nato-Soldaten in die Ukraine. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wird wiederholt zur Lieferung von Taurus-Raketen aufgefordert, die eine Reichweite von 500 Kilometern haben.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat eine neue Nukleardoktrin unterzeichnet und droht, auf anhaltende Angriffe in Russland mit dem Einsatz mehrerer Oreschnik-Raketen auf Kiew zu reagieren. Und die USA erklären, sie wollten auch im Falle eines Atomkriegs Weltmacht bleiben.
Sehen Sie eine klassische Eskalationsspirale, in der jede Seite die eigene Handlung einzig als Reaktion des eskalierenden Gegners auffasst? Und wie groß schätzten sie die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation ein?
Wolfgang Richter: Also zunächst einmal, man muss die Fragen etwas aufteilen. Lassen Sie mich mit Macrons Aussagen beginnen, Nato-Soldaten zu entsenden.
Tatsächlich hat er zuerst gesagt, er würde nicht ausschließen, Bodentruppen zu entsenden. Damit ist er auf großen Widerspruch fast aller Nato-Staaten gestoßen. Denn jedem ist klar, wenn Nato-Bodentruppen in den Krieg eingreifen würden, um die Ukraine zu stützen, sind wir im Krieg mit Russland.
Und das ist genau das, was alle vermeiden wollen: nämlich eine Ausweitung des Krieges auf ganz Europa und damit möglicherweise die Eskalation in einen Nuklearkrieg, also einen Krieg, an dem vier Atommächte beteiligt wären.
Dann ist Macron allerdings zurückgerudert und hat gesagt, er meine eher eine Ausbildungsmission und zwar im Rahmen einer "Koalition der Willigen". Und letztlich müsse diese Koalition entscheiden, wo diese Ausbildungsmission stattfindet.
Damit sind wir eigentlich wieder dort, wo wir uns ohnehin schon befinden: Denn es gibt ja schon Ausbildungsmissionen und die finden zum Teil in Deutschland oder in alliierten Ländern wie Großbritannien statt, auch in Frankreich.
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Das heißt, Macrons Aussage ist gar kein großer Schritt vorwärts. Sie wurde aber auch damit erklärt, dass man die Unkalkulierbarkeit der Risiken aufrechterhalten müsse und dass es klug sei, keine denkbare Option vom Tisch zu nehmen, bevor sie nicht ihre politische Wirkung erzielt hat.
Bei unrealistischen Optionen ist es allerdings sehr fraglich, ob dieses Vorgehen wirklich klug ist. Denn solche Aussagen heizen eher die Eskalation an, als dass sie wirklich umgesetzt werden können. Und die Gegenseite wird darauf ebenfalls mit eskalatorischen Schritten drohen.
Die neue russische Nukleardoktrin
Nun zur russischen Nukleardoktrin. Sie ist an die Lage angepasst und detaillierter gefasst worden, hat sich aber nicht grundsätzlich verändert. Es gibt ein oder zwei Paragrafen, die als Klarstellungen dazugekommen sind. Bisher war es so, dass die russischen Nuklearwaffen dann eingesetzt werden konnten, wenn Russland selbst mit Massenvernichtungswaffen angegriffen wird oder wenn es sich um einen konventionellen Angriff handelt, der eine existenzielle Bedrohung für Russland bedeuten würde.
Der Begriff der "existenziellen Bedrohung" ist nun etwas erweitert worden. Jetzt versteht man darunter auch eine signifikante Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit, die die nationale Sicherheit bedrohen würde. Das geht ein bisschen weiter als der Begriff "existenzielle Bedrohung".
Und damit könnten auch konventionelle Angriffe auf russisches Gebiet gemeint sein. Das war, glaube ich, das Signal, das man jetzt auch aussenden wollte.
Eine weitere Änderung betrifft die Erweiterung des nuklearen Schutzes auf die Verbündeten, insbesondere ausdrücklich auf Weißrussland. Mit Belarus hat Russland ja im letzten Jahr bereits ein vertieftes Sicherheitsabkommen geschlossen, das auch die nukleare Teilhabe und die Stationierung russischer Nuklearwaffen auf weißrussischem Boden umfasst.
Insofern ist die russische Nukleardoktrin also in der Tat erweitert worden, aber nicht in der Substanz, sondern eher in Fragen der Detailumsetzung. Doch sollte man keine Illusionen über den Entscheidungsprozess in einer Krise haben.
Wenn es zu einer Eskalation kommt, wird niemand, weder der amerikanische noch der russische noch der französische Präsident, als erstes in das Buch schauen, um sich zu vergewissern, was man früher gesagt oder geschrieben hat.
Lagebeurteilung: Auf den Generalstab kommt es an
Vielmehr wird dann auf eine konkrete Lage reagiert und, worauf Putin ja auch immer hinweist, kommt dann der Lagebeurteilung durch das Militär, also den Generalstab, eine entscheidende Bedeutung zu. Wenn der Generalstab zur Auffassung kommt, dass man die Lage im Griff habe, dann gibt es auch keine Notwendigkeit zu eskalieren.
Wenn er aber zur Auffassung kommt, die Lage ist jetzt so gefährlich, dass ein nukleares Zeichen gesetzt werden müsse, dann kann es eine selektive Eskalation geben, auch einen selektiven Nuklearschlag.
Das ist nicht ganz neu. Auch die Nato-Strategie der "Flexible Response" aus den Zeiten des Kalten Krieges fasste eine selektive nukleare Eskalation ins Auge, da die Nato damals konventionell unterlegen war.
Wenn man mit solchen Szenarien konfrontiert ist, sollte Deutschland als Nichtnuklearmacht im Herzen Europas sehr zurückhaltend sein und nicht selbst an der Eskalationsspirale drehen.
Konsequenzen der Taurus-Lieferung
Solche Risiken mag man ja aus der Sicht einer Nuklearmacht, die an der Peripherie Europas gelegen ist oder sich jenseits des Atlantiks befindet, anders beurteilen. Eine konventionelle Macht wie Deutschland im Herzen Europas, die hoch verwundbar ist, sollte sich an einer potenziellen Eskalation jedenfalls nicht beteiligen und nicht noch weitergehen, als die Nuklearmächte es bereit sind zu tun.
Eine Lieferung der deutschen Taurus-Marschflugkörper könnte die eskalatorische Entwicklung weiter beschleunigen. Denn sie würde weit über das hinausgehen, was Storm Shadow und ATACMS leisten können, und zwar sowohl bezüglich ihrer Reichweite von 500 km, die ja Moskau einschließen würde, als auch im Hinblick auf ihre Wirkungsweise.
Sie ist hochpräzise, sie hat ein vierfach redundantes Steuerungssystem, zumindest wenn man alle Steuerungsmodule einsetzt, was nur mit aktiver deutscher Mithilfe möglich wäre.
Und zum Dritten hat sie eine gewaltige Durchschlagskraft, die auch in der Lage ist, Bunker aufzubrechen oder Brückenpfeiler zum Einsturz zu bringen, wenn sie konzentriert angegriffen werden. Es gilt also, die Risiken einer Taurus-Lieferung abzuwägen gegen den Nutzen, den die Ukrainer daraus ziehen könnten.
Wir wissen aus der Vergangenheit, dass die Ukrainer auch schon nukleare Warnsysteme mit eigenen Drohnen angegriffen haben, nämlich ein Armavir. Das hat auch den Amerikanern nicht gefallen, weil damit an einer Eskalationsspirale gedreht wird, die für die USA nicht akzeptabel ist. Denn nukleare Frühwarnsysteme gehören mit zum Paket der nuklearen Stabilität und des Gleichgewichts zwischen den USA und Russland.
Diesen Hintergrund sollten wir im Blick behalten, wenn wir über die Lieferung von Taurus reden. In unserer nationalen Debatte wird dieser Aspekt häufig ignoriert. Statt der hitzigen Detaildebatten sollten wir einen kühlen Kopf bewahren. Ich unterstütze deswegen die Position des Bundeskanzlers, dass er keine Taurus-Systeme liefern wird.
US-amerikanische Nukleardoktrin
Zu Ihrer Frage nach der amerikanischen Nukleardoktrin. Es gibt in den Vereinigten Staaten, und auch in Russland, Diskussionen zwischen verschiedenen Doktrinschulen unter den strategischen Eliten, die ganz unterschiedliche Auffassungen haben.
In den USA gibt es eine Gruppe, die ausdrücklich vor den Gefahren jeder Eskalation und vor einem Nuklearkrieg warnt, weil er nicht gewonnen werden kann und nie geführt werden darf, wie schon die berühmte Erklärung von Präsident Gorbatschow und Präsident Reagan festgestellt hat.
Diese Aussage wurde übrigens im Januar 2022 von allen fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats wiederholt. Gleichwohl gibt es aber in den USA eine andere strategische Denkschule, die das Gegenteil behauptet und sagt: Doch, wir müssen in der Lage sein, einen Nuklearkrieg zu führen, auch einen strategischen, also wenn das Territorium der USA mit betroffen wäre.
Dann würde es einen Unterschied machen, ob man einen verstärkten Erstschlag führen kann, zum Beispiel auch mit konventionellen Präzisionswaffen, und durch Raketenabwehr einen Zweitschlag reduzieren kann. Es gibt Nuklearexperten, die es für wichtig erachten, dass in einem solchen Szenario auf US-Territorium weniger Tote und weniger Zerstörung eintreten würden als auf dem russischen.
Zum Glück ist diese Denkschule bisher nur eine Minderheitsposition, wenn auch im republikanischen Lager durchaus einflussreich. Ich halte solche Gedankenspiele für völlige Illusion und unverantwortlich.
Die dritte, etwas realistischere Gruppe, sagt, wir müssen verhindern, dass ein Nuklearkrieg sich auf das amerikanische Territorium ausweitet. Dies schließt gegenseitige strategische Atomschläge aus.
Gleichwohl sei ein regionaler Atomkrieg durchaus denkbar; er müsse geführt werden können und auch gewonnen werden können. Auch diese Schule hat prominente Vertreter, die übrigens jetzt in der Trump-Administration einflussreiche Positionen bekommen sollen.
Wovor in Europa zu warnen ist
Das ist für Europa eine schlechte Nachricht. Denn diese Auffassung würde ja bedeuten, dass man einen Nuklearkrieg auch zulasten von Verbündeten führen könne. "Begrenzt" wäre ein regionaler Nuklearkrieg ja nur aus Sicht von Washington und möglicherweise auch von Moskau. Jedenfalls nicht aus der Sicht Deutschlands und anderer konventionellen Mächte in der Mitte Europas.
Und man möchte vor solchen Diskussionen in Europa warnen. Es müsste eigentlich in unserem Interesse sein, deutlich zu machen, dass ein "begrenzter Nuklearkrieg" nicht kontrolliert werden kann und dass wir als Europäer ihn auf jeden Fall verhindern müssen, weil er immer zu unseren Lasten ginge.
Diese Zusammenhänge auf die leichte Schulter zu nehmen, wie das in deutschen Talkshows immer wieder zu hören ist, so nach dem Motto, die roten Linien Russlands hätten sich ja schon immer als unhaltbar erwiesen, ist unverantwortlich. Denn solange es für Russland gar keine militärisch kritische Lage gibt, stellt sich die Frage nach den roten Linien einer nuklearen Eskalation nicht.
Wenn man aber die strategische Ruinierung Russlands anstrebt, wie das am Anfang des Krieges von Lloyd Austin und anderen vollmundig postuliert wurde, dann kommt man solchen roten Linien natürlich näher, sollte diese Zielsetzung realisierbar werden. Das ist aber im Moment nicht so.
Die Ziele Russlands
Russland muss eine solche Lage derzeit nicht befürchten. Militärisch hat es im Moment leicht die Oberhand. Dafür nimmt Moskau allerdings hohe Verluste in Kauf, während sich seine Finanzlage verschlechtert. Insofern dürfte es auch im Interesse Moskaus sein, diesen Krieg zu beenden.
Aber vom Kriegsziel, das es erreichen will, macht es keine Abstriche. Es will verhindern, dass die Ukraine der Nato beitritt und dass damit Nato-Stationierungsräume, also US-amerikanische Stationierungsräume, näher an Russland heranrücken.
Zudem will Moskau die Krim unter Kontrolle behalten, die sehr lange der Hauptstützpunkt der Schwarzmeerflotte war, sowie den Donbass, mit dem es sich auch ethnisch-kulturell verbunden sieht. Und dann geht es um die Frage einer Verbindungszone zwischen dem Donbass und der Krim. Hier könnte sich eine gewisse Verhandlungsmasse abzeichnen.
Wie künftige Lösungen durch Sicherheitsgarantien für beide Seiten abgesichert werden könnten, wird im Verlauf von Verhandlungen die entscheidende Frage sein. Solche Verhandlungsziele sind aber etwas völlig anderes als die vorherrschende Perzeption, Moskau wolle die ganze Ukraine erobern und anschließend sogar noch die Nato angreifen. Dies wäre völlig unrealistisch, wie schon ein Vergleich der militärischen Fähigkeiten nahelegt.
▶ Wie groß schätzen Sie die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation?
Wolfgang Richter: Eine solche Gefahr besteht immer, wenn die Staaten nicht alles tun, um unbeabsichtigte militärische Zwischenfälle zu verhindern oder die Instrumente schaffen, um sie sofort zu deeskalieren, sollten sie unbeabsichtigt passieren. Wir haben gerade in jüngster Zeit wieder Zwischenfälle erlebt.
Beide Seiten versuchen derzeit, mit vielen Aufklärungs- und Beobachtungsmissionen zu sehen, was die andere Seite tut. Vor allem in und über den engen internationalen Gewässern im Ostseeraum gibt es ein umfangreiches Aufkommen an Überflügen, an Schiffspatrouillen etc.
Das erstreckt sich auch in die Nordsee hinein und in den Nordatlantik. Hier beschatten sich die Kampf- und Aufklärungsflugzeuge gegenseitig und gleiches gilt für die Schiffspatrouillen.
"Sehr nahe Begegnungen, die aus dem Ruder laufen könnten"
Dann kommt es zu sehr nahen Begegnungen, die natürlich aus dem Ruder laufen können. Hier kommt es darauf an, dass man die Regeln einhält. Beim jüngsten Zwischenfall hat offenbar ein ziviles russisches Schiff Signalmunition zur Warnung verwendet, als ein deutscher Hubschrauber sich angenähert hat.
Das muss jetzt kein direkter Beschuss gewesen sein, aber man sieht schon, dass es da eine sehr nervöse und gespannte Situation gibt und dass es darauf ankommt, klug und zurückhaltend zu handeln und die Regeln einzuhalten, die es dafür gibt.
Und vor allen Dingen brauchen wir ein stabilisierendes Netz von Kommunikation zwischen den zuständigen militärischen Hauptquartieren, um sofort deeskalieren zu können, wenn mal etwas passiert, wenn eine Besatzung überzogen reagiert oder es zu einem Unfall kommt.
Ich glaube also nicht, dass eine Seite absichtlich eine Eskalation herbeiführen will; aber die vielen militärischen Aktivitäten unterscheiden sich doch ganz deutlich von der Vorkriegssituation. Sie zeigen auch, in welchem Spannungszustand wir leben, und das fast ohne Leitplanken, weil die Rüstungskontrolle längst zusammengebrochen ist.
Wenn in dieser Lage die Risikobereitschaft wächst, ist das besorgniserregend. Dem muss entgegengesteuert werden.
Demnächst erscheint der zweite Teil des Interviews.
Oberst a. D. Wolfgang Richter ist seit 2009 bei der Stiftung Wissenschaft und Politik wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Forschungsfelder: europäische Rüstungskontrolle; OSZE-Sicherheitskooperation und ungelöste Konflikte im OSZE-Raum.
Von 2005 bis 2009 war er bei der OSZE Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland.