Ukraine bombardiert Krim, während USA ATACMS-Raketen liefern wollen

David Goeßmann

Einschlag ins Hauptquartier der Schwarzmeerflotte auf der Krim, Sewastopol. Bild: Screenshot Videoreport

Einschlag im Hauptquartier der Schwarzmeerflotte. Zugleich kündigt Washington an, doch die Langstreckenraketen zu liefern. Warum das kein "Game-Changer" ist, aber eine riskante Eskalation.

Am Samstagmorgen wurden erneut Explosionen auf der annektierten Halbinsel Krim gemeldet. Von russischer Seite wurde von Einsätzen der Luftverteidigung gesprochen, die Raketen abgeschossen hätten. Ob es zu einem Einschlag gekommen ist, lässt sich nicht unabhängig bestätigen.

Fest steht jedoch, dass am Freitag mindestens eine ukrainische Rakete im Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in der Krim-Hafenstadt Sewastopol einschlug. Zugleich soll ein größerer Cyberangriff die Internetdienste auf der Halbinsel unterbrochen haben.

Die Ukraine bestätigte den Angriff. Auf Telegram hieß es:

Am 22. September kurz vor 12:00 Uhr (0900 GMT) haben die ukrainischen Verteidigungskräfte erfolgreich das Hauptquartier des russischen Schwarzmeerflottenkommandos im vorübergehend besetzten Sewastopol angegriffen.

Ein Soldat wird nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums noch vermisst. Man habe mit der Luftabwehr insgesamt fünf Raketen abfangen können, hieß es weiter. Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, spricht von mehreren Toten und Verletzten.

Das Feuer im Gebäude habe man unter Kontrolle bringen können, erklärte Michail Raswoschajew. Er sprach zugleich davon, dass Einwohner von Sewastopol sich auf den Straßen versammelt und die russische Nationalhymne gesungen hätten.

Die Ukraine hat im Zuge der Gegenoffensive, mit der von Russland besetzte Gebiete zurückerobert werden sollen, Angriffe im Schwarzen Meer und auf der Krim intensiviert. Bombardierungen von russischen Militärzielen bezeichnet die ukrainische Regierung als legitim.

Oleksij Danilow, der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, erklärte, es gebe zwei Optionen für die Zukunft der russischen Schwarzmeerflotte. Entweder freiwillige oder erzwungene "Selbstneutralisierung". Moskau sagt, es werde die Halbinsel niemals aufgeben.

Andrej Kortunow, Berater des russischen Außenministeriums und Direktor des russischen Rates für internationale Angelegenheiten, betonte nach dem Einschlag am Freitag gegenüber der BBC die "psychologische" Bedeutung des Einsatzes von Langstreckenraketen bei diesem Angriff.

Ich denke, dass es psychologisch wichtig ist, weil es sich um eine Langstreckenrakete handelt – ihre Zerstörungskraft ist ziemlich groß. Aber militärisch glaube ich nicht, dass sie wirklich großen Schaden anrichtet – schließlich hat sie keine wirklich kritischen militärischen Ziele getroffen, und der Schaden ist zumindest nach den Berichten, die wir erhalten haben, recht begrenzt.

Kortunow betonte zudem, dass "beide Seiten Zugeständnisse machen müssen", dass es aber schwierig sei, dafür zu plädieren, da sie sich "diametral gegenüberstehen". "Sobald man anfängt, darüber zu sprechen, wird man als Verräter abgestempelt", sagte er.

Spiel mit roten Linien: Raketen mit Streumunition ausgestattet

Währenddessen hat US-Präsident Joe Biden dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mitgeteilt, dass Washington Kiew ATACMS-Langstreckenraketen zur Verfügung stellen wird. Das berichtete NBC News.

Kiew hat die Biden-Regierung wiederholt um taktische Raketensysteme wie die ATACMS (Army Tactical Missile Systems) gebeten, weil diese eine Reichweite von über 300 Kilometern haben. Es ermöglicht dem ukrainischen Militär, russische Einrichtungen innerhalb des russischen Hoheitsgebiets, einschließlich der von Russland besetzten Krim, anzugreifen.

Derzeit verfügt die Ukraine über amerikanische Himars (High Mobility Artillery Rocket Systems), die eine Reichweite von rund 80 Kilometern haben.

Wie Connor Echols vom Quincy Institute in den USA in einem Bericht herausstellt, waren die Himars-Rakten einst eine "rote Linie" für die Biden-Regierung, da sie als zu eskalierend angesehen wurden. Dennoch wurden die Waffen ab Juni 2022 an Kiew geliefert.

Im Juli 2022 erklärte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan noch in Hinsicht auf ATACMS, dass ein solcher Transfer die USA und Russland auf "den Weg zu einem dritten Weltkrieg" bringen würde.

Nach den Abrams-Panzern und der Genehmigung von F-16-Kampfjets – zwei weiteren roten Linien –, die von den USA und ihren Nato-Partnern an die Ukraine geliefert werden sollen, schien die Bereitstellung von ATACMS der erwartbare nächste Schritt. Das Weiße Haus will den Ukrainern die bestmögliche Chance geben, die Ziele ihrer mühsamen Gegenoffensive zu erreichen.

Die Biden-Administration wartete mit der ATACMS-Entscheidung jedoch, bis Selenskyj die USA wieder verlassen hatte – in den Händen ein weiteres Militärhilfspaket über 325 Millionen Dollar. Erst dann ließ man die Bombe platzen, um der kontroversen Nachricht offenbar zum Wochenende hin die mediale Beachtung zu entziehen.

Die ATACM-Variante, die die USA scheinbar in Erwägung ziehen, verwendet nach Angaben der Washington Post anstelle eines einzelnen Sprengkopfes die umstrittene Streumunition, eine weitere einstmals "rote Linie" für die US-Regierung im Ukraine-Krieg.

Das ist nicht gerade das, was sich die Ukrainer erhofft hatten. "Mit Streumunition schaltet man keine großen, militärisch wichtigen Ziele aus", betont George Beebe, Direktor für "Grand Strategy" am Quincy Institute.

(Diese ATACMs) könnten die Dinge weit hinter den russischen Frontlinien verkomplizieren, sodass die Russen einige Nachschubdepots verlegen und sich etwas mehr Sorgen um die Nachschublinien machen müssten. Aber selbst dann wird sich die Lage nicht grundlegend ändern. Russland kann und wird sich darauf einstellen.

Ein "Game-Changer" scheinen sie also in dieser Form für den Krieg nicht zu sein. Aber die Gefahr besteht, so wird vielfach befürchtet, dass sie die USA und ihre Nato-Verbündeten näher an einen direkten Konflikt mit Russland bringen.