Ukraine produziert neue Radhaubitze
Radhaubitze 2S22 Bohdana vorne im Bild. Foto (August 2018): Ukrainisches Verteidigungsministerium / CC BY-SA 2.0 Deed
Ukraine-Krieg: 30 Fahrzeuge angeblich bereits im Fronteinsatz. Munitionsversorgung ist ein großes Problem. Nato-Produktionslücke gegenüber Russland verschärft sich.
Die ukrainische Armee hat große Probleme mit dem Nachschub gepanzerter Fahrzeuge. Die letzte Lieferung von Panzerfahrzeugen ist über sechs Monate her, sieht man mal von der Lieferung von Leopard 1A5 ab, die nur noch einen sehr begrenzten Gefechtswert haben.
Kürzlich berichtete die in Kiew ansässige Publikation Defense Express, dass es die heimische Rüstungsindustrie geschafft hat, 30 neue ukrainische Radhaubitzen des Typs 2S22 Bohdana an die ukrainischen Verbände auszuliefern.
Rad- und Panzerhaubitzen im Ukraine-Krieg: Effektivität und Einsatz
Radhaubitzen und Panzerhaubitzen haben sich im Ukraine-Krieg als performant erwiesen. Es handelt sich um große Geschütze, die fest auf einem Fahrzeug verbaut sind und selber fahren können. Dadurch sind sie, anders als die von Fahrzeugen gezogene Haubitzen, also sozusagen klassischer Artillerie, nur schwer durch Gegenbatteriefeuer zu bekämpfen.
In der Regel feuert eine Rad- oder Panzerhaubitze nur kurze Feuerstöße, um danach unmittelbar wieder in eine geschützte Stellung zu fahren. Das dauert gewöhnlich unter fünf Minuten. Die Triangulierung, also Aufklärung eines Geschützes durch die russische Armee, kann schon ab drei Minuten erfolgen. Oberst Markus Reisner erklärt gegenüber Telepolis.
In der derzeitigen vor allem stationären Kampfführung kommt auf beiden Seiten dem laufenden Einsatz von Artillerie, FPV-Drohnen und Mitteln der elektronischen Kampfführung besondere Bedeutung zu.
Der Einsatz von Artillerie aus Stellungen erfolgt unter hohem Zeitdruck, denn nach wenigen abgefeuerten Schüssen droht bereits eine Aufklärung des eigenen Standorts. In der Regel wird daher nur kurz gefeuert und sofort die Stellung gewechselt.
Daher ist es notwendig, hochbewegliche Artilleriesysteme auf Rädern oder Ketten zu verwenden.
Oberst Markus Reisner
Bei einem nur leicht oder gar nicht geschützten System spricht man von Radhaubitze, bei einem stark gepanzertem System von Panzerhaubitze.
Selbstfahrhaubitzen: Technische Merkmale und hohe Schussfolge
Beide Seiten setzen diese Selbstfahrhaubitzen ein. Das westliche Standardkaliber beträgt 155 Millimeter, das russische 152 Millimeter. Es handelt sich bei den Geschützen mit dem Kaliber 155, respektive 152 Millimeter um die größten Geschütze, die in der Ukraine im Einsatz sind.
Die russischen Streitkräfte haben mit dem selbstfahrenden Tulpan-Mörser eine noch größere Kanone im Einsatz. Entsprechend groß sind die Reichweiten der Geschütze, was diese Waffengattung unter anderem so effektiv macht: Mit reichweitengesteigerter Munition sind bis zu 70 Kilometer möglich, Standardgeschosse schaffen um die 40 Kilometer.
Moderne Selbstfahrhaubitzen erreichen eine hohe Schussfolge von um die zehn Schuss pro Minute, allerdings nur für ganz geringe Zeit (nachträgl. Ergänzung d. Autors). Und im sogenannten MRSI-Verfahren schaffen sie es, mehrere Geschosse nahezu sekundengleich ins Ziel zu bringen, bei der deutschen Panzerhaubitze 2000 sind das sechs. Selbstfahrhaubitzen sind eine mächtige Waffe.
Deshalb ist es bemerkenswert, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich Anfang des Monats bekannt gab, die ukrainische Rüstungsindustrie könne sechs 2S22 Bohdana-Haubitzen pro Monat herstellen. Das wäre in etwa die Rate, mit der Hersteller Nexter die französische Caesar-Haubitze produzieren kann.
Die S22 Bohdana
Die ukrainische Haubitze wurde am 24. August 2018 anlässlich der Unabhängigkeits-Parade in Kiew das erste Mal der Öffentlichkeit vorgestellt.
Sie kann Geschosse des Nato-Kalibers 155 Millimeter rund 40 Kilometer weit verschießen – und das mit einer Kadenz von sechs Schuss pro Minute, also alle zehn Sekunden ein Schuss.
Spätestens seit Anfang November verfügt die Bohdana-Haubitze über ein modernes, automatisches Ladesystem, was sie technisch endgültig in die Riege moderner Selbstfahrhaubitzen einreiht.
Bereits seit Januar soll sich die Radhaubitze in der Massenproduktion befinden, jetzt in einer verbesserten Version, die den Austausch des KrAZ-6322-Fahrgestells gegen beispielsweise ein KrAZ- oder MAN-6x6-Fahrgestell oder ein Tatra-817-8x8-Fahrgestell umfasst – verschiedene Fahrgestelle werden verwendet, was die Verfügbarkeit des grundlegenden Trägerfahrzeuges verbessert, um den Ausstoß der Bohdana zu beschleunigen.
Die Produktion ist nach Angaben von Defense Express an 25 Unternehmen delegiert, kritische Komponenten werden zudem im Ausland hergestellt, weitere Produktionsschritte sind über das Gebiet der ganzen Ukraine verteilt – die ukrainische Rüstungsindustrie sucht ihr Heil vor russischen Luftangriffen in radikaler Dezentralisierung.
Bedeutung bei der Rückeroberung der Schlangeninsel
Eine frühe Bekanntheit erlangte die Bohdana-Haubitze durch den Einsatz im Kampf um die Schlangeninsel. Das unwirtliche Eiland wurde zu Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine von russischen Truppen eingenommen.
Durch konsequenten Beschuss der russischen Besatzungstruppen durch die ukrainischen Verteidiger auch mit der neuen Bohdana-Haubitze – die Schlangeninsel liegt immerhin 35 Kilometer vom Festland entfernt – wurde die Insel für die Besatzungstruppen unhaltbar und musste am 30. Juni 2022 aufgegeben werden.
Probleme mit westlichen Haubitzen
Bisher mussten sich die ukrainischen Artillerie-Streitkräfte hauptsächlich auf westliche Waffenlieferungen verlassen, da der Bestand an noch aus der Sowjet-Zeit stammenden Selbstfahrhaubitzen durch Verluste kontinuierlich abnimmt.
"Die stete Abnützung der ukrainischen Bestände an 122 und 152 mm Artillerieselbstfahrlafetten (z.B. vom Typ 2S1 "Gwosdika" oder 2S3 "Akatsiya") wird laufend durch Lieferungen aus dem Westen ausgeglichen", erklärt Oberst Reisner.
Diese westlichen Selbstfahrhaubitzen scheinen aber Probleme zu bereiten, besonders die hochmodernen, europäischen Erzeugnisse. Während die noch aus den 1960er-Jahren aus den USA stammende M109 Panzerhaubitze zuverlässig zu funktionieren scheint, sind die modernen Selbstfahrhaubitzen anscheinend nicht für den Hochintensiv-Kampf vorbereitet.
Es zeigt sich jedoch, dass westliche 155 mm Systeme (z.B. M109, AHS Krab, PzH2000, AS90) zwar besonders präzise und weit feuern können, jedoch eine eingeschränkte Belastungsfähigkeit aufweisen. So werden oft pro Tag weit über hundert Granaten von einem Geschütz abgefeuert. Dies bedeute eine Belastung für das Geschützrohr oder die Lademechanik.
Oberst Markus Reisner
Erst vor einigen Tagen äußerte Bild-Redakteur Julian Röpcke auf X:
Auch meine Kontakte innerhalb der ukrainischen Armee sagen mir: es fehlt nicht nur an 155 und 152 mm Artillerie-Granaten – es funktioniert einfach nichts mehr. Die westlichen Panzerhaubitzen sind nicht für einen echten, langen Krieg gemacht, sondern nur für kurze Einsätze.
Julian Röpcke
Das X-Posting nahm die brasilianische Militäranalystin Patricia Marins, die gerne von westliche "Boutique-Waffen" spricht, zum Anlass, sich die europäischen Haubitzen-Lieferungen einmal genauer anzuschauen.
"Probleme traten bei den italienischen Haubitzen FH70, Krabs, Caesar und der deutschen PzH 2000 auf", schreibt sie, um dann auf die Probleme kurz im Einzelnen einzugehen.
Für Reisner folgt daraus:
"Die ukrainischen Streitkräfte versuchen daher mit Nachdruck neben den Lieferungen aus dem Westen auch neue Eigenproduktionen (z.B. der 2S22 "Bohdana") voranzutreiben."
Russland: Munitionsproduktion höher als Produktion aller Nato-Länder
Doch was nutzen Haubitzen, wenn es keine Munition gibt?
Ein neues Strategie-Papier des estländischen Verteidigungsministeriums liefert brisante Zahlen:
Russlands Gesamtproduktion und Wiederaufbereitung von Artilleriemunition wird bis zum Jahr 2023 3,5 Millionen Einheiten im Jahr 2023 erreichen, was eine mehr als dreifache Steigerung gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Im Jahr 2024 werden Produktion und Wiederaufbereitung weiter ansteigen und voraussichtlich bis zu 4,5 Millionen Einheiten erreichen. Diese Menge übersteigt deutlich die Menge an Artilleriemunition, die der Ukraine zur Verfügung steht.
Estländisches Verteidigungsministerium
Das Papier schätzt die jährliche Produktion an 155 Millimeter Geschossen der Nato-Staaten bestenfalls auf leicht über eine Million Granaten. Russland würde demnach eine mindestens dreifache Überlegenheit in der Munitionsproduktion haben – und das im Vergleich mit allen Nato-Staaten zusammen. Zusätzlich hat sich Russland mehrere Millionen Granaten aus Nordkorea und dem Iran gesichert.
Die Webseite Bulgarianmilitary berichtet von einer deutlichen Munitionsknappheit in der Ukraine:
Im Vergleich zur Verteidigung von Bakhmut und dem anschließenden Vorstoß nach Süden verfügen die ukrainischen Streitkräfte derzeit nur über ein Zehntel der Munition. Dem Kommandeur der 47. Brigade der amerikanischen Haubitze M109A6 Paladin zufolge haben ihre Soldaten bei der Verteidigung von Bakhmut im Frühjahr und bei Orekhovo im Sommer täglich zwischen 100 und 150 Granaten verschossen. In Avdiivka können sie jedoch nur 15 verschießen.
Bulgarianmilitary
Der Ausbau der ukrainischen Produktion
Die neue Radhaubitze ist sicherlich eine moderne und wirkmächtige Waffe. Die Ukraine versucht konsequent, mithilfe des Westens eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Das scheint ihr auch in Teilen zu gelingen.
Interessant ist hier der Ansatz, die Produktion konsequent aufzusplittern und zu dezentralisieren. So wird eine Bekämpfung der Produktionsstätten durch russische Luftschläge deutlich erschwert.
Die westlichen Unterstützer der Ukraine unter Führung der USA haben die Waffenlieferungen signifikant reduziert, wohl auch, um nicht mehr wertvolle und schwer zu ersetzende Rüstungsgüter fortlaufend an eine unterlegene Kriegs-Partei zu verlieren. Zudem scheinen manche westliche Waffen nicht so leistungsfähig zu sein, wie angenommen.
Die oben zitierten Zahlen des estländischen Verteidigungsministeriums zum Thema Munitionsproduktion lassen aufhorchen. Sie geben Anlass zur Befürchtung, dass die russische Rüstungsindustrie den Westen in Schlüsselbereichen deutlich abgehängt hat.
Was für die Nato und die USA auf dem Spiel steht
Das sind auch schlechte Aussichten für die Nato, wenn man den Ukraine-Krieg als "Stellvertreter-Krieg" begreift, wie dies unlängst auch CDU-Politiker Roderich Kiesewetter tat. Derzeit sieht es so aus, als ob die Nato auf dem Weg ist, ihn nicht nur auf dem Schlachtfeld zu verlieren, sondern auch im Bereich der Rüstungsproduktion.
Das vereinigte Bruttosozialprodukt aller Nato-Staaten übertrifft das von Russland zwar bei Weitem. Aber: Man kann zwar Geld drucken, aber keine Munition.
Durch das Leeren ihrer Arsenale über Lieferungen an die Ukraine hat sich das westliche Verteidigungsbündnis in eine verwundbare Lage hineinmanövriert. Eine immer größer und stärker werdende russische Armee trainiert jeden Tag großskaliert modernste Kriegsführung.
Dieser Armee haben die vereinigten Nato-Armeen nicht mehr das konventionelle Abschreckungspotential entgegenzusetzen, wie dies noch vor dem Ukraine-Krieg der Fall war. Daraus kann sich für die "einzige Weltmacht" USA und den von ihr abhängigen Verbündeten eine gefährliche Position der Schwäche ergeben, die von rivalisierenden Macht-Entitäten ausgenutzt werden kann.
Für die USA steht nichts Geringeres als die globale Vormachtstellung auf dem Spiel. Es ist nicht anzunehmen, dass die USA diese kampflos aufgeben wird. Deshalb ist die Gefahr nach Einschätzung des Autors groß, dass es zu einem weiteren, immer gefährlicherem Engagement der zurzeit militärisch unterlegenen westlichen Bündnis unter Führung der USA kommen kann.