Umgang mit Pflegebedürftigen in Madrider Altenheimen: An der Grenze zur Euthanasie

Viele Bewohner von Altenheimen sind an Covid 19 gestorben. Nun gibt es schwere Vorwürfe gegen die rechte Regierung der Region Madrid, sogar aus den eigenen Reihen: Sie habe "illegal" und "unmoralisch" gehandelt

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Die rechte Regierungschefin Isabel Díaz Ayuso der spanischen Hauptstadtregion Madrid kommt immer stärker unter Druck. Als "Katastrophe" hatte ein Krankenpfleger Region den Umgang mit dem Coronavirus in der Autonomen Gemeinschaft im Telepolis-Gespräch ("Das ist keine Krise, sondern eine Katastrophe") bezeichnet, denn für das Gesundheitsweisen ist die jeweilige Regionalregierung verantwortlich.

Die stellt in Madrid eine Rechtskoalition aus Volkspartei (PP) und Ciudadanos (Cs), die von der ultrarechten Vox-Partei gestützt wird. Dass besonders in der Region die ausgebrannten Beschäftigten im Gesundheitswesen auf die Straße gehen müssen, um weiterhin Schutzkleidung, vernünftige Arbeitsbedingungen, Personalausstattung und Bezahlung zu fordern, zeigt den fatalen Umgang, an dem sich in den vergangenen Monaten wenig geändert hat.

Dass es in Madrider Alten- und Pflegeheimen zu dantesken Szenen kam und alte Menschen einfach zum Sterben zurückgelassen wurden, wurde Ende März bekannt, wir berichteten darüber. Damals war allerdings vieles noch unklar. Jetzt kommt mehr ans Licht.

Warnungen

Drei Tage vor dem Telepolis-Artikel hatte der zuständige Sozialminister um Hilfe beim zuständigen Gesundheitsministerium der Region nachgesucht, da viele Heime völlig überlastet und überfordert waren. Wenn keine Hilfe komme, würden "viele Bewohner sterben", schrieb Alberto Reyero (Cs) am 22. März und warnte vor "gravierenden rechtlichen Konsequenzen".

Seine Emails an den Gesundheitsminister Enrique Ruiz Escudero (PP) blieben unbeantwortet.

... und Anweisungen mit Ausschlusskriterien

Zwischenzeitlich waren sogar Handlungsanweisungen schriftlich per E-Mail an Altenheime und Krankenhäuser verschickt worden, die nahelegen, dass es ein geplantes Vorgehen der Regierung unter der Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso (PP) gab. Sie werden darin angewiesen, dass bestimmte alte und erkrankte Menschen nicht mehr in Krankenhäuser überstellt werden dürfen.

Zunächst veröffentlichte Infolibre entsprechende Dokumente, aus denen hervorging, wie "ausgesiebt" werden sollte. Darin wurden nämlich eindeutig "Ausschlusskriterien" für diejenigen Patienten definiert, die "nicht ins Krankenhaus" gebracht werden dürfen.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass das nicht die einzige Anweisung war. Auch die große Zeitung El País hat derweil entsprechende Dokumente veröffentlicht.

Diese nähren den fatalen Eindruck, dass man es fast schon programmatisch darauf anlegte, Menschen sterben zu lassen, die einen großen Pflegeaufwand mit sich bringen. Denn zu denen, die nicht mehr in ein Hospital überstellt wurden, gehörten auch die, die abhängig von Pflege waren.

In den Dokumenten wird ausdrücklich erklärt, dass dabei die Ursache unwichtig ist und dass bei diesen Menschen "keine Lebensgefahr in den folgenden sechs Monaten" bestand. Es handelte sich nicht um Menschen, die sich im Endstadium einer schweren Erkrankung befanden.

Gemeint waren "fragile", aber zugleich "stabile" Menschen. So wurde laut Dokument der El Pais "eine Fragilitätsskala von 1 bis 9" erstellt. Patienten der Klasse 7 bis 9 wurden vom Krankenhausaufenthalt ausgeschlossen. Patienten des Grades 7 seien stark gebrechlich, wird erklärt. Sie sind diejenigen, die aus physischen oder kognitiven Gründen völlig auf persönliche Betreuung angewiesen sind. "Sie sind stabil und nicht todgefährdet."

Damit kamen böse Gedanken auf - ob man es also sogar schon mit einer Art Euthanasie über den Coronavirus zu tun habe?

Inzwischen liegen der Zeitung vier verschiedene Emails vor, mit denen die Regionalregierung veranlasste, die Anweisungen an die 475 Altenheime der Region zu verschicken.

Widersprüche in der Regierung - Klagen von Angehörigen

Der Gesundheitsminister der Region und die Regionalpräsidentin Ayuso weisen die Vorwürfe von sich. Sie behaupten, man habe "kein Protokoll" in Kraft gesetzt. Es habe sich vielmehr nur um Entwürfe gehandelt, die versehentlich verschickt worden seien. Diese Version wird auch von rechten und ultrarechten Zeitungen verbreitet. Doch verschweigen diese geflissentlich, dass mit Sozialminister Alberto Reyero ein Mitglied der Regierung selbst bestätigt hat, dass es sich weder um einen Fehler noch um Entwürfe handelte.

Reyero erklärt, er habe "ein Protokoll und keinen Entwurf" erhalten. Und nicht nur das: Er hatte auch in Telefongesprächen und in Emails auf die fatalen Zustände hingewiesen. Er erklärte zudem, dass es sich um ein "illegales" Vorgehen gehandelt hat, dass er zudem als unmoralisch betrachtet habe.

Der Minister unterstützt damit letztlich eine Klage von diversen Angehörigen gegen die Regionalregierung, die diese beim Obersten Gerichtshof eingereicht haben.

Fragen

Es ist ehrenwert, dass der Minister der Ciudadanos die Vorgänge nun öffentlich einräumt. Doch fragt man sich, warum er sie nicht schon im März öffentlich gemacht und die illegalen Vorgänge zur Anzeige gebracht hat?

Auf eine entsprechende Frage in der Radiokette Ser antwortet der Sozialminister nur ausweichend, dass man wegen der Überlastung der Krankenhäuser auf die medizinische Aufrüstung von Altersheimen gedrängt habe.

Man wundert sich an dieser Stelle allerdings auch, dass im Interview nicht nachgefragt wurde, warum die Regionalregierung nicht auf private Gesundheitseinrichtungen zurückgegriffen hat? Denn die wurden im Rahmen des Alarmzustands ab dem 14. März ausdrücklich unter die Kontrolle der zuständigen Behörden gestellt, sie blieben aber weitgehend ungenutzt. Und davon gibt es in Madrid nach 25 Jahren unter Rechtsregierungen reichlich, da im Gesundheitswesen massiv privatisiert worden ist.

Fragen kann man sich auch, warum Reyero nicht längst aus Protest zurückgetreten ist und warum seine Ciudadanos, die in Deutschland gerne als "liberal" bezeichnet werden, weil es die Schwesterpartei der FDP ist, weiter in einer Regierung bleiben, die von der ultrarechten Vox gestützt wird. Reicht es auch noch nicht, dass der Koalitionspartner "illegal" und "unmoralisch" vorgeht und damit den Tod vieler Menschen mitzuverantworten hat?

6.000 Menschen sind in Altersheimen verstorben

Mehr als 6.000 alte Menschen sind in Altersheimen verstorben. Die tauchen allerdings auch in der offiziellen, absurden Statistik der Zentralregierung nicht auf. Obwohl sogar die rechte Regionalregierung zugegeben hat, dass es in Madrid bereits Anfang Mai 15.200 Coronavirus-Tote gab, werden offiziell im zentralen spanischen Infektionsherd bis heute nur 8.691 verzeichnet.

Insgesamt hat Spanien angeblich nun 27.136 Tote im Zusammenhang mit Covid 19. Diese Zahl glaubt der Regierung allerdings praktisch niemand mehr, da das Statistikamt schon bis zum 10. Mai eine Übersterblichkeit von 48.000 Menschen im Vergleich zu den Vorjahren ermittelt hat. Insgesamt sind zwischen dem 9. März und dem 10. Mai 120.000 Menschen verstorben, während es üblicherweise nur 71.500 sind.

Um von ihrer Verantwortung abzulenken, zumal am 12 Juli im Baskenland und Galicien gewählt wird, macht die rechte PP nun den Sozialminister der Zentralregierung, Pablo Iglesias, für das Desaster in den Altenheimen der Region verantwortlich, in der seine PP regiert.

Der PP-Sprecher im Senat Javier Maroto nennt den Vize-Ministerpräsidenten "unverantwortlich", weil er "nicht eine einzige Maßnahme" ergriffen habe, schließlich habe die Zentralregierung in einer "einzigen Führung" (mando único) alle Zügel an sich gezogen.

In seiner Antwort bleibt der Chef der linken Podemos-Partei allerdings schwach. Er behauptet, er habe in der Frage kein "mando único" gehabt, weshalb ihm auch keine Kompetenzen zukommen würden. Die Kompetenzen seien in den Händen der Autonomieregionen verblieben.

Das ist allerdings ziemlich absurd, denn die Zentralregierung hat im Alarmzustand faktisch die Autonomierechte ausgehebelt, was zu massiven Konflikten geführt hatte, weil sogar ein "mando único" für die Lockerung der Krisenmaßnahmen besteht.

Warum ausgerechnet die Gesundheitsversorgung ausgenommen gewesen sein soll, erschließt sich nicht. Genau hier wäre sie angesichts der tödlichen Vorgänge in Madrid sinnvoll gewesen. Stattdessen werden bis heute noch Regionen am Gängelband geführt und dürfen nicht einmal darüber entscheiden, ob die Bewohner in dem Autonomiegebiet von einer Provinz in die benachbarte fahren dürfen, um Angehörige zu besuchen.

Warum hat die spanische Zentralregierung, der die tödlichen Vorgänge in Madrid nicht verborgen geblieben sind, nicht eingegriffen? Sie zögerte und zitterte - wie in anderen Fragen auch, wo sie Kritik selbst von Sympathisanten bekommt. Die Zentralregierung traute sich nicht, in der Region durchzugreifen, um viele Leben zu retten, denn dafür hätte sie sich mit der Rechten anlegen müssen.