Verdienstkreuz für Angela Merkel: Was soll diese Auszeichnung?

Angela Merkel (CDU) war 16 Jahre Kanzlerin ohne Skandale, die für einen Rücktritt gereicht hätten. Grund genug für einen Orden? Foto: European People's Party / CC-BY-2.0

Die Altkanzlerin kann sich rühmen, vier Amtszeiten durchgestanden zu haben. Ausgezeichnet wurde sie aber für "hervorragende Leistungen für das Gemeinwesen". Warum das fragwürdig ist.

Bei den Bundesjugendspielen erhalten auch unsportliche Kinder eine Urkunde. Allein für die Teilnahme – quasi als Anerkennung dafür, dass sie das Ereignis nicht einfach geschwänzt haben. Schließlich riskieren sie dort Hohn und Spott. Die meisten werden sich dann wünschen, dass die Teilnahmebestätigung wenigstens auf saugfähiges Papier gedruckt wäre – aber der Grundgedanke, dass bei einer Pflichtveranstaltung die Demütigung nicht zu groß ausfallen sollte, macht Sinn.

Ganz anders verhält es sich mit Auszeichnungen, wenn eine erwachsene Person sich freiwillig um ein politisches Amt beworben hat. Da sollten dann doch konkrete Leistungen zählen und nicht nur das Ausbleiben von Skandalen, die für einen Rücktritt gereicht hätten. Beweist nun schon die dreimalige Wiederwahl von Angela Merkel, dass die CDU-Politikerin eine gute Kanzlerin war? Diese Frage kann sich mit Blick auf ihre Gegenkandidaten von der SPD – ausnahmslos Männer vom rechten Parteiflügel – jede:r selbst beantworten.

Das Gefühl, dass hier keine echte Alternative zu neoliberaler Politik geboten wurde, kann natürlich keiner dieser Gegenkandidaten nachvollziehen – oder zumindest nicht, warum das ein Problem sein sollte. Dieses Gefühl wird allerdings genau dadurch bestätigt, dass ihr einer dieser Gegenkandidaten, der inzwischen Bundespräsident ist, nun selbst eine der höchsten möglichen Auszeichnungen verlieh: Frank-Walter Steinmeier war 2009 erfolglos gegen Merkel angetreten und ist offensichtlich nicht nachtragend.

"Bei aller Kritik muss man doch respektieren und anerkennen, dass 16 Jahre eine enorme Leistung sind - physisch, aber auch intellektuell", betonte die Merkel-Biografin Ursula Weidenfeld am Montag gegenüber dem ZDF. Verdient Merkel dafür nun das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, das für "hervorragende Leistungen für das Gemeinwesen" verliehen wird, allein dafür, dass sie vier Amtszeiten durchgehalten hat?

Gipfel mit und für Lobbyisten

Ob sie "ihren Job gemacht" hat, hängt davon ab, was darunter verstanden wird – das Absitzen der Amtsperioden ohne Skandale, das Einhalten blumiger Wahlversprechen an die Bevölkerung oder die Erfüllung des Auftrags von Lobbyisten, die sie beispielsweise beim "Autogipfel" ganz offiziell traf. Aber vielleicht war das die ehrlichere Variante. Unter ihrem Nachfolger Olaf Scholz (SPD) wurde die Veranstaltung durch einen einseitig besetzten "Mobilitätsgipfel" abgelöst.

Bei einem "Wohnraumgipfel" gegen Ende ihrer letzten Amtszeit lobten sich Merkel, Bauminister Horst Seehofer (CSU) und der damalige Finanzminister Scholz vor allem gründlich selbst, nachdem die "schwarz-rote" Bundesregierung mit der "Mietpreisbremse" einen löcherigen Flickenteppich geschaffen hatten.

Per Bundesgesetz wurde den Ländern überlassen, ob und wo sie Gebiete mit besonders angespannten Wohnungsmärkten ausweisen, in denen das Instrument dann mit Ausnahmen von Neubauten und Neuvermietungen nach umfassender Modernisierung tatsächlich gelten sollte. Der Verein LobbyControl kritisierte in diesem Zusammenhang enge Kontakte zwischen Bundesregierung und Immobilienlobby.

Nein, hier geht es nicht um reines Merkel-Bashing. Diese Kanzlerin eines Tages zu vermissen, rückte für mich ziemlich genau in dem Moment in den Bereich des Möglichen, als die Bewerbungen für ihre Nachfolge feststanden – über einen Orden des kleineren Übels ließe sich inzwischen fast reden.

Klima der Alternativlosigkeit

Ihr Vorgänger Gerhard Schröder, der für einen sozialpolitischen Rechtsruck der SPD verantwortlich war, darf in doppelter Hinsicht als ihr Wegbereiter gelten. Einerseits profitierte sie davon, dass er von einigen Wahlberechtigten abgestraft wurde, andererseits konnte sie in vieler Hinsicht an seinen Kurs anknüpfen – und daraufhin sank die Wahlbeteiligung am Ende ihrer ersten Amtszeit auf einen historischen Tiefstand. Das Gefühl der Alternativlosigkeit legte sich wie eine Käseglocke über die Republik.

Als Merkel 2005 ihr Amt antrat, hatte eine "rot-grüne" Koalition bereits das Verarmungsprogramm der Agenda 2010 durchgesetzt, das sie als Oppositionsführerin zwar gerne noch verschärft hätte – aber wahrscheinlich hätte es unter einer unionsgeführten Bundesregierung mehr Widerstand von den traditionell mit der SPD verwobenen Gewerkschaften gegeben. Letztere hatten unter "Rot-Grün" eine gewisse Beißhemmung – und so war die entscheidende Drecksarbeit in Sachen Sozialabbau schon getan, als Merkel Kanzlerin wurde.

Die Vertragsfreiheit für Arbeitssuchende war durch die Sanktions- und Zumutbarkeitsregeln beim Bezug von Arbeitslosengeld II weitgehend abgeschafft. "Normales" Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung gab es nur noch ein Jahr lang – egal, wie lange die Betroffenen vorher eingezahlt hatten; und durch die Angst vor dem schnellen Abstieg wurden auch Arbeitende in Mobbing-Situationen erpressbarer.

Merkel ließ es laufen, saß die damit einhergehenden Probleme erst einmal aus und regierte zunächst mit einer geschwächten SPD an ihrer Seite vor sich hin. So kam es, dass bei der Bundestagswahl 2009 nur noch rund 70,8 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben – ein Rekordtief in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Unionsparteien hatten somit bei 33,8 Prozent der Stimmen nur rund 23,9 Prozent reale Zustimmung, blieben aber mit Merkel weiterhin die stärkste Kraft und entschieden sich dieses Mal für die marktradikale FDP als Juniorpartner.

Das Klima der Entsolidarisierung, geschaffen durch die Agenda-2010-Propaganda von den "faulen" Erwerbslosen, begünstigte aber auch den Aufstieg der neuen völkischen Rechten – denn durch die strukturelle Benachteiligung im deutschen Schulsystem waren Erwerbslose mit Migrationshintergrund keine Seltenheit und der perfekte Sündenbock. Politiker wie Schröder und Merkel mussten daher nicht selbst rassistisch argumentieren, um Rassismus zu fördern.

Angebliche Grenzöffnung und Geburt einer Legende

Offen rassistische Parteien dankten es ihnen nicht: Sie sahen ihre Stunde gekommen, als Merkel sich großzügig gerierte und in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 die Grenzen nicht schließen wollte, während in Teilen der Gesellschaft die Entsolidarisierung bereits fortgeschritten war. Im Schengen-Raum waren die Grenzen seit Jahren nicht mehr geschlossen, trotzdem hielt sich hartnäckig das Gerücht, Merkel habe die deutsche Grenze geöffnet.

Das nahmen ihr die Rechten mindestens so übel wie den 2011 angesichts der Reaktorkatastrophe von Fukushima verkündeten deutschen Atomausstieg, der sich real noch bis Mitte April dieses Jahres hinzog – nur die letzten dreieinhalb Monate waren das Werk ihrer Nachfolgeregierung.

Von der AfD, der Pegida-Bewegung und klassischen Neonazis wurde Merkel für die Aufnahme der Geflüchteten so scharf angegriffen, dass sie von Teilen der Linken unerwartete Sympathien bekam – trotz baldiger Asylrechtsverschärfungen danach; und trotz ihrer Performance als "eiserne Kanzlerin" im EU-Schuldenstreit mit Griechenland, der wenige Monate zuvor für rassistische Ausfälle in deutschen Medien und an Stammtischen gesorgt hatte.

Linke, die Merkel den fortgesetzten Sozialabbau in Deutschland und die Erpressung Griechenlands nicht verzeihen konnten, wurden in den eigenen Reihen gebeten, sie nicht zu scharf zu kritisieren, während sie bei Pegida-Aufmärschen wegen der vermeintlichen Grenzöffnung an den Galgen gewünscht wurde.

Als das Bundesverfassungsgericht Ende 2019 die Hartz-IV-Sanktionen teilweise für rechtswidrig erklärte, regierte Merkel schon längst wieder mit der SPD als Koalitionspartner – und niemand auf der Regierungsbank empfand Eile, als es darum ging, das Gesetz verfassungskonform neu zu regeln.

Staatstragendes Schwurbeln statt Klimaschutz

Den Kredit bei Teilen der Linken hatte Merkel erst wieder verspielt, als es der Fridays-for-Future-Bewegung gelang, das Agenda-Setting der Ultrarechten zu durchbrechen. In der Klimapolitik hatte sich Merkel – wider besseres Wissen als Naturwissenschaftlerin – auch nicht mit Ruhm bekleckert. Zwar machte sie sich beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm und später als EU-Ratspräsidentin in Brüssel für ambitionierte Klimaziele stark, hatte es aber im eigenen Land nicht eilig mit deren Umsetzung.

Dann waren da plötzlich all diese Kinder und Jugendlichen auf der Straße, die auch noch eine Zukunft wollten – und bevor sich Merkel für die Umarmungstaktik entschied, verbreitete sie erst einmal absurde Gerüchte über den Ursprung dieser jungen Bewegung, die freitags für effektiven Klimaschutz auf die Straße ging.

Anfang 2019 brachte die Kanzlerin das neue Phänomen allen Ernstes mit russischen Manipulationsversuchen in Verbindung: "Diese hybride Kriegsführung im Internet ist sehr schwer zu erkennen, weil Sie plötzlich Bewegungen haben, bei denen Sie gedacht haben, dass die nie auftreten", schwurbelte Merkel seinerzeit. Dies muss sie relativ schnell selbst als Unsinn erkannt haben, zumal russische Medien eher schlecht auf die neue Bewegung zu sprechen waren.

In der Praxis blieb Merkel aber auch weitgehend untätig in Sachen Klimaschutz, als sie sich für ein netteres Auftreten gegenüber der Protestbewegung entschied und den Klimawandel als "Menschheitsherausforderung" bezeichnete. Zum Schluss gab sie das auch selbst zu: Gemessen an dem Ziel, die emissionsbedingte Erderwärmung auf höchsten zwei Grad zu begrenzen, sei während ihrer Kanzlerschaft "nicht ausreichend viel passiert", setzte sie bei ihrer letzten Sommerpressekonferenz 2021 das Versäumnis ins Passiv.

Stramme deutsche Transatlantikerin

Alles in allem keine "hervorragenden Leistungen für das Gemeinwesen", hat sie doch eher den Job der fossilen Konzerne gemacht. Vermutlich wäre Merkel auch der Rüstungssparte nicht weniger gerecht geworden als Olaf Scholz, wenn sie 2022 an seiner Stelle gewesen wäre und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die "Zeitenwende" hätte verkünden dürfen.

Wäre sie 2003 an der Stelle von Gerhard Schröder gewesen, hätte sich Deutschland gemäß ihrer Forderung sogar direkt am Irak-Krieg beteiligt, statt nur Überflugsrechte zu gewähren und die US-Armee bei der Bewachung ihrer Kasernen im Bundesgebiet zu entlasten. Der offizielle Kriegsgrund – die angebliche Hortung von Massenvernichtungswaffen im Irak – hatte sich weniger später als Lüge der damaligen US-Regierung entpuppt. Rein völkerrechtlich waren in diesem Fall die USA der Aggressor, was Merkel nicht weiter störte.

So gesehen hätte Merkel die reale russische Ukraine-Invasion wohl erst recht zum Anlass für massive Aufrüstung Deutschlands, für harte Nato-Rhetorik und Waffenlieferungen genommen. Nicht, weil sie immer auf der Seite der Angegriffenen steht, sondern weil sie eine stramme deutsche Transatlantikerin ist.

In diesem Spektrum wurde ihr im Nachhinein vorgeworfen, zu diplomatisch gewesen zu sein. Sie selbst betonte in diesem Zusammenhang, das Minsker Abkommen 2014 habe der Ukraine nur Zeit verschaffen sollen, stärker zu werden. Als Kreml-Propaganda gilt nun allerdings die Lesart, die Ukraine sei von westliche Staaten auf einen Krieg vorbereitet worden. Merkel jedenfalls dürfte in ihrer Bemerkung keinen problematischen Geheimnisverrat sehen. Einen Orden bekommt sie ja trotzdem.