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Vergewaltigung: Spiel mit den Zahlen

Definition von "sexueller Belästigung" der Prävalenzstudie Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Anhang der Kurzfassung, S. 42.

Warum Deutschland keine "Rape Culture" ist

Im ersten Teil (Wer ist hier eigentlich das typische Opfer? [1]) haben wir gesehen, dass das typische Opfer schwerer Gewaltverbrechen männliche Jugendliche und junge Männer mit deutscher Staatsangehörigkeit im Alter von 14 bis 29 Jahren sind. Ich endete mit Verweis auf die nach wie vor maßgebliche Prävalenzstudie [2] des Bundesfrauenministeriums, der zufolge 6% aller Frauen schon einmal vergewaltigt wurden. Das spricht nicht dafür, dass Deutschland eine "Rape Culture" ist, das heißt eine Kultur, in der sich Frauen permanent vor Vergewaltigungen fürchten müssten. Dennoch wird in der Diskussion um sexualisierte Gewalt regelmäßig so getan.

Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland spricht [3] von jährlich 7.000 bis 8.000 polizeilich angezeigten Vergewaltigungen. Allerdings würden nur ca. 5% der vergewaltigten Frauen diese Taten auch zur Anzeige bringen.

Eine ähnliche Rechnung machte die Aktivistin Kristina Lunz im Zusammenhang mit der "Nein heißt nein"-Kampagne [4] des deutschen Komitees von UN Women auf. In einem Gastbeitrag auf ZEIT Online sprach [5] sie von jährlich Hunderttausenden, die nicht angezeigt würden.

Unwahrscheinlich hohe Dunkelziffer

Diese Schätzung der Dunkelziffer scheint mit Blick auf die Prävalenzstudie des Frauenministeriums aber viel zu hoch gegriffen: Warum geben "nur" 6% der Frauen an, mindestens einmal im Leben vergewaltigt worden zu sein, wenn es Hunderttausende solcher Fälle Jahr für Jahr gibt? Das ist zwar nicht unmöglich, aber statistisch unwahrscheinlich.

Die Implikation wäre dann, dass zwar 19 von 20 Frauen in Deutschland niemals vergewaltigt wurden. Von den Opfern müsste dann auch die Mehrheit nur selten, eine sehr kleine Minderheit - ein Sechzigstel aller Frauen - aber ganz häufig vergewaltigt worden sein. Ansonsten wären die 6% Lebenszeitprävalenz schon nach wenigen Jahren erreicht. Wichtig ist zu betonen, dass diese Zahlen auf den Angaben der Frauen selbst beruhen.

Beispiel sexuelle Belästigung

Neben der vermuteten Dunkelziffer "Hunderttausender Vergewaltigungen" wurden auch Zahlen zur sexuellen Belästigung von Frauen für die Kampagne "Nein heißt nein" [6] verwendet. Dort unterstützten die Schauspielerinnen Maria Furtwängler, Jasmin Tabatabai und Natalia Wörner die Verschärfung des Sexualstrafrechts mit der Aussage, mehr als jede zweite Frau erlebe sexuelle Belästigungen.

Sofern sich auch diese Zahlen auf die Prävalenzstudie stützen, bei der 58% der befragten Frauen sexuelle Belästigungen angaben, ist die genannte Häufigkeit aber fraglich. Obwohl sehr oft über solche Probleme geschrieben wird, werden Leserinnen und Leser leider kaum darüber informiert, um welche Verhaltensweisen es überhaupt geht. Das würde man sich von den Qualitätsmedien häufiger wünschen.

Um welche Verhaltensweisen geht es?

Der Fragenkatalog im Auftrag des Familienministeriums enthielt nämlich nicht nur eindeutige Fälle, wie "dass jemand sich vor mir entblößt hat, um mich zu belästigen oder zu erschrecken" oder "dass jemand mir zu verstehen gegeben hat, dass es nachteilig für meine Zukunft oder mein berufliches Fortkommen sein könnte, wenn ich mich sexuell nicht auf ihn/sie einließe."

Bei anderen Fragen ging es nämlich schlicht um "Kommentare über meinen Körper, mein Privatleben oder sexuelle Anspielungen, [die mir] ein ungutes Gefühl gegeben [haben]", oder "dass mir jemand ein ungutes Gefühl gegeben hat, indem er mich mehrere Male gefragt hat, ob wir uns treffen könnten". Das heißt, dass auch Äußerungen, die gar nicht sexueller Natur sein müssen, unter den Begriff der sexuellen Belästigung gefasst wurden.

So könnte etwa schon die Bemerkung, dass eine Kollegin im Urlaub aber braun geworden sei ("Körper") oder dass sie häufig ins Yogastudio gehe ("Privatleben") in die Statistik zählen, wenn die Äußerungen negativ aufgefasst werden. Dass die Sexismusdiskussion mit dem Begriff der "Mikroaggression" bereits eine alternative Formulierung dafür bereithält, wie Frauen und Minderheiten durch solche Kommentare angeblich unterdrückt werden, habe ich hier erst kürzlich beschrieben (Weg mit den Mikroaggressionen [7]).

Leben in einer "Rape Culture"

Definitionsprobleme sollten nicht davon ablenken, dass erlebte sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigungen sehr schlimm sein können. Die Zahlen zur Häufigkeit stellen bei näherer Betrachtung jedoch die aus feministischer Sicht bisweilen vorgetragene Sichtweise in Frage, dass das Erleben einer Vergewaltigung eine grundlegende Erfahrung vieler Frauen sei, dass wir also in einer "Rape Culture" lebten. Dennoch schrieb etwa die amerikanische Frauenrechtlerin und Feministin Catharine MacKinnon:

Der erste Geschlechtsverkehr ist eine allgemein bestimmende Erfahrung der Definition des Geschlechts. Für viele Frauen ist das eine Vergewaltigung.

MacKinnon

MacKinnon, eine Absolventin der Yale Law School, hat die Gesetzgebung über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz mitgeprägt. Ihr Versuch, die Pornoindustrie für Sexualstraftaten verantwortlich zu machen, ist jedoch gescheitert. Vielleicht sind die Zahlen in den USA aber anders. Analysieren wir daher ein anderes Beispiel für das Spiel mit den Zahlen.

Studie über sexuelle Gewalt in den USA

Ein frappierenderes Beispiel für den leichtfertigen Umgang mit Opferzahlen findet sich nämlich in Übersee. So wird etwa eine repräsentative Befragung [8] erwachsener Frauen und Männer durch die Centers for Disease Control and Prevention in den USA aus dem Jahr 2014 als Beleg dafür zitiert, dass beinahe eine von fünf Frauen (19,3%), aber nur 1,7% der Männer schon einmal vergewaltigt wurden (etwa in der Washington Post [9] oder in Glamour [10]).

Ein Blick auf die Daten führt Überraschendes zutage: So wurden beispielsweise versuchte Vergewaltigungen mitgezählt (6,4% der Frauen; 0,7% der Männer), bei denen es zu keinem Geschlechtsverkehr kam (weder Oral-, Vaginal- noch Analverkehr). Außerdem zählte Sex unter Einfluss von Rauschmitteln, bei dem man nicht mehr einwilligungsfähig war, automatisch als Vergewaltigung (9,3% der Frauen; 1,1% der Männer).

Was zählt als Vergewaltigung?

Was ist aber, wenn man sich selbst bewusst in einen schweren Rauschzustand bringt, um etwa seine Hemmungen zu überwinden und Geschlechtsverkehr zu haben? Oder wenn beide Partner zu berauscht sind? Wer vergewaltigt dann wen? Gemäß den Fragen der Forscher würde dann jeder den anderen vergewaltigen. Da Mehrfachnennungen möglich waren, bewegen sich die korrigierten Zahlen zwischen 11,5 und 19,3% bei den Frauen und 0,7 und 1,7% bei den Männern. Damit wären Vergewaltigungen in den USA doppelt bis dreimal so häufig wie laut der Prävalenzstudie für Deutschland.

Problematischer ist aber die eigentliche Definition von "Vergewaltigung" in der Studie: Es ging nämlich ausschließlich darum, von jemandem sexuell penetriert worden zu sein. Gezwungen zu werden, jemanden zu penetrieren ("made to penetrate"), galt jedoch nicht als solche. Deshalb konnten gemäß der Studie Männer eigentlich nur von anderen Männern vergewaltigt werden. Bei den Antworten auf die Frage, zur Penetration gezwungen zu sein, sind die Geschlechter dann auch gespiegelt: Dies bejahten mit 6,7% zehnmal so viele Männer wie Frauen (0,6%).

Andere Definitionen - andere Ergebnisse

Die Forscherinnen und Forscher verwendeten zwar auch das Konstrukt "sexuelle Gewalt mit Kontakt", das dem deutschen Strafrechtsparagraphen 177 [11] (Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) am nächsten kommt. Dabei ging es darum, ungewollt penetriert zu werden, zur Penetration gezwungen zu werden, um anderen sexuellen Zwang und um ungewollten sexuellen Kontakt. Die Ergebnisse werden aber nur zusammen mit körperlicher Gewalt und Stalking innerhalb von Beziehungen berichtet: Hiervon gaben 27,3% der Frauen und 11,5% der Männer an, schon einmal betroffen gewesen zu sein.

Stellt man der ungewollten Penetration den Zwang zur Penetration gegenüber, dann waren mit 11,5% etwa doppelt so viele Frauen betroffen wie Männer (6,7%). Für den Zeitraum der zwölf Monate vor der Befragung gaben mit 5,5% etwa genauso viele Frauen an, Opfer anderer Formen sexueller Gewalt worden zu sein, wie Männer (5,1%).

Damit sind laut der Studie zwar immer noch Frauen deutlich häufiger von bestimmten sexuellen Straftaten betroffen. In der Diskussion aber nur zu thematisieren, eine von fünf Frauen sei vergewaltigt worden, unterschlägt dutzende Millionen männlicher Opfer sexueller Gewalt und macht Gebrauch von einer fraglichen Definition von "Vergewaltigung".

Sexuelle Gewalt gegen Männer wird oft nicht erhoben

Solche Zahlen wurden von der genannten deutschen Prävalenzstudie erst gar nicht erhoben; vielleicht, weil es kein Männerministerium gibt. Ein größeres Versäumnis muss man dem Gender Equality Index [12] des European Institute for Gender Equality, einer EU-Institution, vorwerfen. Für den Index über Geschlechtergerechtigkeit werden zwar sieben Indikatoren zur (körperlichen, sexuellen und psychischen) Gewalt gegen Frauen erhoben, jedoch kein einziger zur Gewalt gegen Männer.

Da gemäß den US-Zahlen jedoch auch Männer häufig Opfer sexueller Gewalt und gemäß der Deutschen Kriminalstatistik sogar deutlich häufiger Opfer schwerer Gewaltstraftaten werden als Frauen, ist dieses Versäumnis schwer nachvollziehbar. Gerade so ein Gender-Institut aus Steuergeldern muss neutral im Auftrag aller Geschlechter forschen. Dieses Versäumnis legt ein ausgeprägtes Opfer-sind-Frauen-Denken auf politischer Ebene und bei den Opferschutzverbänden nahe. Indem man in Studien noch nicht einmal Gewalt gegen Männer miterhebt, verschwindet das Phänomen freilich vom Radar.

Im dritten und letzten Teil werde ich darüber spekulieren, wie die Gesellschaft sich verändern wird, wenn gegenwärtige Trends fortgesetzt werden.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3221942

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Wer-ist-hier-eigentlich-das-typische-Opfer-3209897.html
[2] http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/publikationen,did=20560.html
[3] https://www.frauen-gegen-gewalt.de/mythentatsachenzahlen-188.html
[4] http://www.unwomen.de/ueber-uns/neinheisstnein.html
[5] http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-03/sexuelle-gewalt-vergewaltigung-reform-sexualstrafrecht-un-women
[6] http://www.unwomen.de/ueber-uns/neinheisstnein.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Weg-mit-den-Mikroaggressionen-3211191.html
[8] http://www.cdc.gov/mmwr/preview/mmwrhtml/ss6308a1.htm
[9] http://www.washingtonpost.com/news/to-your-health/wp/2014/09/05/cdc-nearly-1-in-5-women-have-been-raped/
[10] http://www.cosmopolitan.co.uk/reports/news/a29423/one-in-five-women-raped/
[11] http://dejure.org/gesetze/StGB/177.html
[12] http://eige.europa.eu/gender-statistics/gender-equality-index