Wer ist hier eigentlich das typische Opfer?
Ein überraschender Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik
Sex and Crime sind in den Medien beliebte Themen. Über Kriminalität wird aber nicht nur gesprochen: Sie wird regelmäßig Gegenstand der Politik. Dabei wird die Grenze zwischen Opferschutz, Schutz vor Falschbeschuldigungen und Freiheitsentzug verurteilter Täter immer wieder neu gezogen. Zurzeit verhandelt die Politik über ein neues Sexualstrafrecht. Als Ausdruck eines Opfer-sind-Frauen-Denkens werden diese Maßnahmen als Frauenschutz dargestellt. In dieser dreiteiligen Serie geht es um die Opfer schwerer Verbrechen und sexueller Gewalt. Im ersten Teil beantworte ich die Frage, welche Gruppe am meisten von schweren Gewalttaten betroffen ist. Im zweiten Teil untersuche ich die zentralen Statistiken über Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt. Im dritten Teil spekuliere ich darüber, wie die Gesellschaft in einigen Jahren aussehen könnte, wenn sich gegenwärtige Trends fortsetzen.
Ich will diesen Artikel mit einem Selbstversuch beginnen: Stellen Sie sich das typische Opfer schwerer Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland vor. Das heißt, machen Sie sich zumindest ein Bild davon, welches Geschlecht, welches Alter und welche Staatsangehörigkeit eine Person hat, die aus der Gruppe kommt, die am häufigsten davon betroffen ist. Im Laufe des Artikels werden Sie die Antwort bekommen, die der ausführlichsten Statistik entspricht - nämlich der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA.
Reform des Sexualstrafrechts
Bereits im Oktober 2015 beriet der Bundestag über eine Reform des Sexualstrafrechts. Mit Blick auf die sogenannte Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gehen die Fraktionen des Bundestags davon aus, Schutzlücken der heutigen Paragraphen schließen zu müssen.
Umstritten ist unter anderem, inwiefern ein Opfer seine Ablehnung der sexuellen Handlung ausdrücken muss. Setzt die Strafbarkeit eine körperliche Verteidigung voraus oder reicht auch ein "Nein" aus? Insbesondere Frauenverbände forderten Letzteres mit der Parole: "Nein heißt nein". Kritiker wie der Bundesrichter Thomas Fischer bezweifeln jedoch, dass es überhaupt eine Schutzlücke gibt, und monieren zahlreiche Falschdarstellungen des Sexualstrafrechts in den Medien.
Eine Reform - und eine Silvesternacht
Seit den Geschehnissen der Silvesternacht in Köln ist neue Bewegung in die Gesetzesreform gekommen. So haben sowohl die Grünen als auch die Linkspartei eigene Gesetzesentwürfe eingebracht, da ihnen die geplanten Änderungen des Bundesjustizministeriums nicht weit genug gingen. Beide Fraktionschefs von Union und SPD, Volker Kauder und Thomas Oppermann, haben sich inzwischen der "Nein heißt nein"-Sichtweise angeschlossen.
Natürlich ist der Schutz vor sexueller Gewalt wichtig. Auffällig ist jedoch, dass die Diskussion häufig entlang des Musters "Opfer sind Frauen und Täter sind Männer" geführt wird. Schutz vor (nicht nur sexueller) Gewalt wird damit häufig als Schutz von Frauen vor Männern verstanden.
Insbesondere Opferschutzverbände sollten sich für die Charakteristiken "typischer" Opfer interessieren. Auch diese Verbände haben sich in die Diskussion um die Strafrechtsreform mit der Forderung für einen besseren Schutz von Frauen eingeschaltet. Wer sich aber die Polizeiliche Kriminalstatistik der BRD anschaut, der wird erstaunt sein.
Polizeiliche Kriminalstatistik
Opfer bei sogenannten "Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter" wie dem Leben, der körperlichen Unversehrtheit, Freiheit und sexuellen Selbstbestimmung waren im Jahr 2014, für das die jüngsten Zahlen vorliegen, vor allem jugendliche und junge Männer: 2,7 Prozent der 14- bis 17-jährigen, 4,1 Prozent der 18- bis 20-jährigen, 3,5 Prozent der 21- bis 24-jährigen und 2,9 Prozent der 25- bis 29-jährigen. Ab 40 sinkt das Risiko für Männer unter ein Prozent. Über alle Altersgruppen hinweg waren 1,4 Prozent der Männer Opfer.
Frauen liegen in Deutschland mit 0,9 Prozent im Gesamtschnitt deutlich darunter, doch auch hier sind die Opfer vor allem jugendliche und junge Frauen: 2,2 Prozent der 14- bis 17-jährigen, 2,7 Prozent der 18- bis 20-jährigen, 2,4 Prozent der 21- bis 24-jährigen und 2,0 Prozent der 25- bis 29-jährigen.
Männer werden 1,5-mal so häufig Opfer
Männer sind insgesamt deutlich häufiger Opfer von Mord und Totschlag, Raub und Körperverletzung. Frauen sind deutlich häufiger Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Letztere machen mit 0,8% jedoch nur einen Bruchteil der erfassten Straftaten insgesamt aus. So kommen beispielsweise Körperverletzungen zehnmal häufiger vor.
Insgesamt ist das Risiko für Männer, Opfer einer dieser schweren Straftaten zu werden, 1,5-mal so hoch wie das für Frauen. Diese Zahlen widersprechen also deutlich dem Opfer-sind-Frauen-Denken. In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden alle Straftaten erfasst, die der Polizei bekannt werden, unabhängig vom Ermittlungserfolg. Hinreichend sind Angaben über Tatbestand, Tatort und Tatzeit (zumindest das Jahr).
Sieht nun Ihr "typisches Opfer" in Deutschland so aus: ein Jugendlicher oder junger Mann im Alter von 14 bis 29 Jahren mit deutscher Staatsbürgerschaft (83,1% der Opfer)? Wenn nein, dann können Sie - zusammen mit den Opferschutzverbänden - Ihr Bild jetzt aktualisieren.
Sexuelle Gewalt gegen Frauen
Natürlich bedeutet das nicht, dass nicht auch viele Frauen Opfer schwerer Straftaten würden. Gemäß der nach wie vor maßgeblichen Prävalenzstudie des Bundesfrauenministeriums aus dem Jahr 2004 gaben 6% der repräsentativ befragten Frauen an, mindestens einmal im Leben vergewaltigt worden zu sein. Insgesamt erwähnten 13% der Frauen Opfererfahrungen mit strafrechtlich relevanten Formen sexueller Gewalt.
Da Menschen mehrmals Opfer derselben Straftat werden können, geben die Zahlen der Prävalenzstudie jedoch keine Auskunft über die jährliche Häufigkeit der Verbrechen. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland spricht von jährlich 7000 bis 8000 polizeilich angezeigten Vergewaltigungen. Allerdings würden nur ca. 5% der vergewaltigten Frauen diese Taten auch zur Anzeige bringen.
Im ersten Teil ging es um wesentliche Fakten der Kriminalstatistik. Im zweiten Teil untersuche ich, wie Zahlen zur Häufigkeit sexueller Gewalt dargestellt und diskutiert werden.